Frank Fröhlich

Feuertaufe


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alles. Krieg ist was für Idioten, schlaue Leute verdienen daran.“

      Womöglich hatte der Dicke recht überlegte Falk und dachte an seine Geschichte. Jahrelang hatte er den Kopf für andere hingehalten, beschützt und geholfen, aber als er Hilfe brauchte, ließ man ihn im Regen stehen. Ach was, Regen - es war eine Flut, die sein Leben wegspülte. Die Gerechtigkeit versagte und schließlich eskalierte die Situation. Falk landete vor Gericht und für Jahre schlossen sich die Tore hinter ihm.

      Er fand sich damit ab und richtete sich auf ein Dasein innerhalb der Mauern ein. Allerdings, wenn er das Angebot des Fremden annahm, versprach dieser, würden sich die Gittertüren bald öffnen. Falk befürchtete, dass er dann genauso schnell wieder zwischen die Fronten geriet.

      „Nicht mal zehn Pferde könnten mich da runter kriegen, um keinen Preis. Da ist es sogar im Knast noch besser. Diese Typen sind irre. Die spucken auf eure Hilfe und wollen in ihrer Steinzeit bleiben, nur ihr kapiert das nicht.“

      Darko schenkte sich nach und Falk bedeckte seine Tasse mit der Hand, für heute hatte er genug Koffein konsumiert und würde sowieso schlecht schlafen. Er dachte an die Worte des Fremden und sah seinen Kumpel an.

      „Ich glaube, da spielen viele Interessen eine Rolle. Um reine Aufbauhilfe geht es anscheinend nicht. Das ist ein Kampf zwischen den westlichen Staaten und Terroristen. So stellt man es jedenfalls dar. Ob es stimmt? Wie sagte dieser Politiker - habe vergessen, wie er heißt - unsere Freiheit wird am Hindukusch verteidigt.“

      Falk zitierte mehr den Stuss aus der dünnen Zeitung, die ihm der Werkmeister in der Schlosserei während der Pause überließ, als daran zu glauben.

      „Freiheit? Was für eine Freiheit? Schau dich um, wo du bist.“ Darko lachte und breitete die Arme aus. Sein Bauch schwabbelte vor Vergnügen. „Scheiß drauf, was geht uns das an? Wir sind hier drinnen und müssen sehen, dass wir unseren Arsch an die Wand bekommen. Was kümmert uns da die Politik.“

      Falk stellte die leere Tasse ab. Der Bosnier schnappte danach und drehte sie mit einer schnellen Handbewegung um, schüttete den Satz auf einen Teller und las ihm die Zukunft. Der Dicke wollte ihn aufheitern und brabbelte von der Begegnung mit einer wunderschönen Frau. Das Übliche.

      Falk wusste, dass seine Aussichten nicht von ein paar nassen Krümeln Kaffeepulver abhingen, und machte noch Liegestütze und Kniebeugen. Dann beendete er das Programm, zog Jacke und T-Shirt aus und hängte beides über einen Stuhl. Schweiß glänzte auf den Muskeln und die Adern traten hervor. Er nahm eine Flasche Duschgel aus seinem Spind und wusch sich an dem winzigen Waschbecken in der Toilettenecke. Mit einem Kamm strich er die feuchten Strähnen nach hinten und schlüpfte in ein frisches Unterhemd. Der Dicke brutzelte inzwischen auf einem Zweiplattenkocher leckere Happen aus der Zusatzverpflegung, die sie sich von ihrem Einkaufskonto gönnten. So lautete der Deal: Der Bosnier organisierte die Verpflegung und kümmerte sich um deren Zubereitung, während Falk ein wachsames Auge auf seinen Kumpel hielt. Sonntags verweigerten sie die Anstaltsverpflegung, die Küche war am Wochenende unterbesetzt und die Köche verwerteten Reste. Falk nannte den Fraß „Chronik der Woche“. Wolken verdampfenden Fetts stiegen empor, er öffnete das Fenster und die Schwaden zogen durchs Gitter in die Dämmerung hinaus. Sie strichen um das Spinnennetz in der Ecke, worin die haarige Bewohnerin auf Insekten wartete, die der Dicke gelegentlich hineinwarf. Falk lehnte am Fensterbrett und achtete darauf, nicht mit dem Gesicht in das klebrige Kunstwerk zu geraten. Er schaute auf die Lichter der Wohnhäuser, die jenseits der großen Mauer mit der Stacheldrahtkrone standen.

      Draußen bellten Hunde, von Anwohnern Gassi geführt. Tauben gurrten sich auf der Regenrinne in den Schlaf und eine Straßenbahn juckelte in Gemütlichkeit vorbei. Funken knisterten auf der Oberleitung und tanzten wie Irrlichter. Eine Handvoll Fahrgäste verlor sich in der Bahn, den Sonntagabend verbrachte die Bevölkerung lieber in den eigenen vier Wänden, wie Falk beobachtete. Glückliche Menschen saßen in ihren Wohnzimmern vor der Mattscheibe, sprachen miteinander und aßen. Andere brachten die Kinder zu Bett oder liebten sich hinter Schlafzimmervorhängen. Die Bewohner genossen die letzten Stunden des freien Tages; morgen begann eine neue Woche und wahrscheinlich wussten sie, was diese bringen würde.

      Ihm kam das Zitat in den Sinn, dass der Fremde in den Raum geworfen hatte: Dass die Friedlichen nur ruhig schlafen können, wenn harte Männer bereit sind, über ihren Schlaf zu wachen. In der Art, wie bissige Hunde eine Herde Schafe vor den Wölfen bewahrte. Wobei er nicht einmal wusste, ob er Hund oder Wolf war. Auf jeden Fall kein dummes Schaf. Denn mit solchen Parolen brauchte man ihm nicht mehr zu kommen, diesen Teil seines Lebens hatte er hinter sich gelassen. Doch eines Tages würde er wieder in Freiheit sein und manchmal, in seltenen Momenten, empfand er sogar Vorfreude darauf. Aber sobald Falk nachdachte: Er besaß keinen Plan, wie der weitere Lebensweg aussah; kein Ziel, für das sich zu kämpfen lohnte.

      Draußen schwoll die Lautstärke an, die Gefangenen pendelten. Sie schwangen an Nylonschnüren befestigte Konservendosen, in denen Tauschobjekte oder Nachrichten lagen, mit Geschrei hin und her, bis sie das Fenster des Adressaten erreichten.

      Falk kotzte es an. Jeden Tag der gleiche Ablauf. Schon vier Jahre lang und laut Urteil auch die kommenden vier. Deprimiert kletterte er auf das Etagenbett, ihm war der Appetit vergangen, während der Dicke geräuschvoll schlemmte.

      Nach dem Essen saß Darko noch am Tisch und schrieb einige Zeilen an seinen Familienclan, bevor er ebenfalls in die Koje gehen würde. Falk lag auf dem durchgelegenen Bettenrost, den Kopf in die verschränkten Hände gelegt und starrte an die Decke. Überreste zerklatschter Mücken klebten auf dem vergilbten Anstrich. In den Ecken stritten sich Staubflusen um die besten Plätze und schaukelten in dem Lufthauch, der von draußen durch das Gitterfenster drang. Ab und zu störte Darko seine Gedanken und fragte, wie er dieses oder jenes Wort schreiben sollte. Rechnen konnte der Bosnier wie ein Mathematikprofessor, aber Rechtschreibung musste Falk ihn erst lehren.

      Dagegen gab es niemand, der einen Brief von ihm erwartete. Die zwei Menschen, die ihm was bedeuteten, lebten nicht mehr und er trug deren Abbilder im Herzen und als Tätowierung auf der Haut. Des Nachts, wenn er schlecht schlief, meist in den heißen Sommern, in denen sich die Bude in einen Backofen verwandelte, besuchten sie seine Träume. An den Tagen darauf war er bedrückt und fragte sich, wofür er noch weitermachte, mit dem seltsamen Ding, das Leben hieß. Dann lag er nächtelang wach und rätselte, ohne die Lösung zu finden.

      So eine Nacht drohte heute. Ständig kreisten die Gedanken um das Gespräch, dass er mit dem Fremden geführt hatte. Terror und Kampf waren Worte, die dabei fielen. Worte, die ihm nichts bedeuteten, denn seine größte Schlacht endete schon in einer Niederlage. Aber jetzt klopfte eine Chance an die Tür und er musste nur zugreifen. Könnte er sich doch entscheiden. Seine Frau war ihm ein guter Ratgeber gewesen. Jenna traf die richtigen Entscheidungen, während Falk mit seinen Entschlüssen eher in die Scheiße packte. Vor allem, wenn er seiner Wut freien Lauf ließ.

      Jenseits der Zellentüre lief jemand auf dem Gang, Schlüssel klimperten und ein Auge spähte durchs Guckloch. Der Beobachter hustete und die Schritte stahlen sich davon. Noch ging es ihn nichts an, was in der Außenwelt geschah, sie schien Lichtjahre entfernt von dem Loch, in dem er weilte und sich begraben vorkam. Vielleicht bekam er bald Gelegenheit, in das Geschehen einzugreifen. Allerdings hatte er sich geschworen, nie wieder zu töten. Schnarchen erfüllte die Bude und Federn quietschten, als der Dicke seine Massen auf der Matratze umdrehte. Falk sprang geräuschlos aus dem Bett, tappte barfuß zum Schalter und löschte das Licht. In der Dunkelheit schlich er ans Fenster und blieb dort als Schatten stehen. Mondlicht erhellte die Umgebung und Sterne funkelten zwischen dahintreibenden dunklen Wolken hervor. Stille legte sich über den Block, Scheinwerferfinger glitten die Mauern entlang und Falk erwartete eine lange, durchwachte Nacht.

      Zur gleichen Zeit drehte ein Airbus der Turkish Airlines mit heulenden Turbinen im Nachthimmel über Leverkusen und dem Kölner Norden ein. Die Tragflächen streiften durch die Kissen der Luft und ein Windhauch schüttelte die Menschenfracht. Der Jet überflog das leuchtende Bayerkreuz und ließ das dunkle Band des Rheins samt Dom an Steuerbord, dann setzte der Pilot zum Landeanflug auf dem Flughafen in der Wahner Heide an. Die Maschine aus Istanbul war bis auf den letzten Platz besetzt und mit den Ausdünstungen eingepferchter, übernächtigter Menschen gesättigt. An Bord befanden