Miriam Sachs

SMALLTOWN GIRLS II - Bis ihr nicht gestorben seid


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da macht.

      „Wer ist unser Feind? Was müssen wir tun?

      Wer ist unser Feind?“ Erst ist das nur ne Frage, die Charlie der schlafenden Sunshine stellt.

      „Warum sollte sie das wissen?“, frage ich jetzt sie.

      „Sie kann ihn gesehen haben! Und irgendwen muss ich doch fragen!“ Sie wiederholt die Sätze, jetzt im Rhythmus, und weil der ein bisschen klappert, macht sie aus dem „unser“ ein „dein“:

       Wer ist dein Feind? Was müssen wir tun?

       Wer ist dein Feind? Was müssen wir tun?

      Ich finde das jetzt doch ein bisschen gruselig. Aber es hat etwas Zwingendes; ich fang schon an, meinen Oberkörper in Trance zu wiegen. Ich muss an einen Zug denken, der über Schienen und Eisenbahnschwellen rattert. Ich stupse Sunshine vorsichtig an, eher ein ganz sanftes Schubsen im Rhythmus von Charlies Mantra:

      „Wer ist dein Feind? Was müssen wir tun?“

      Und wirklich: plötzlich bewegt Sunshine ihre Lippen, es ist eher ein Murmeln, ebenfalls im Rhythmus der Sätze, die Charlie spricht.

      „Wer ist dein Feind? Was müssen wir tun?

       Wer ist dein Feind? Was müssen wir tun?“

      Ich beuge mich näher an Sunshine heran, um zu hören, was sie sagt. Ich sehe ihre Augen unter den Lidern sich bewegen, sie sieht vielleicht wirklich etwas.

      „Wer ist dein Feind...?“ Ich wage nicht zu atmen. Das Mantra bricht ab. Ihr Oberkörper schnellt plötzlich in die Höhe.

      „Sunshine, was siehst du?“

      „Ich sehe, ich sehe, ich sehe … - Hey! dass meine Bahncard abgelaufen ist! Mein Feind ist die Fahrkartenkontrolle“

      Betretenes Schweigen.

      „Sehr, sehr schräger Humor! Ehrlich!“, sagt Charlie.

      „Ihr seid schräg!“, sagt Sunshine ruhig.

      Die Kerze flackert, eine Motte umfliegt das Licht und verglüht in der Flamme.

      „Entschuldige mal, aber ... du lagst da so friedlich und es sah aus, als ob du träumst.“

      „Vielleicht hätte ich ja geträumt, wenn du mich nicht schon wieder zugelabert hättest!“

      „Es tut uns leid“, versuch ich dazwischen zu gehen, „das war...“

      „Inceptionmäßig! Macht das nie wieder.“ Sunshine haut mit ihrer Handfläche eine Kerze aus.

      Das war grenzwertig, stimmt schon. Der Moment, wenn du einschläfst, der ist irgendwie ein wunder Punkt. Da bist du so zwischen den Welten und so ausgeliefert. Und beim Aufwachen erst recht. Manchmal hängt man da noch im Traum fest, und der rutscht dann weg, obwohl man ihn gerne behalten hätte, und manchmal wiederum, kriegst du den Traum überhaupt nicht mehr aus der Birne, weil du blöd aufwachst. Es ist wie mit dem falschen Bein, mit dem man manchmal aufsteht. - Da fällt mir was Komisches auf. Ich weiß nicht, ob es zur Sache gehört, aber ...

      „Sunshine, träumst du viel?“

      „Ja. Nein. Keine Ahnung, was bei euch aufm Land so Standard ist!“

      „Was war der letzte Traum, an den du dich erinnern kannst?“

      „Ich glaub, ich hab in der letzten Zeit nicht viel geträumt!“

      „Und du?“

      Charlie überlegt. „Irgendwas von Linus, aber...“ Sie wird rot. „Nee das war in echt. Ich weiß grad nicht. Komisch eigentlich. Ich weiß meine Träume sonst immer!“

      „Es ist nur so ein Gefühl, aber es kommt mir vor, als ob ich schon sehr lange nicht mehr geträumt habe.“

      Wir sehen uns an. Wir wollen spiritueller werden – und können uns nicht mal an unsere Träume erinnern?

      „Muss ja nichts bedeuten“, sage ich. „Aber wir sollten das mal im Auge behalten.“

      Wir packen die Kerzen ein und die Decke. Wir schweigen. Die Nacht umhüllt uns, es ist still und so dunkel. Als wären wir verschluckt worden. Ich hab einen komischen Kloß im Hals, ich will nicht darüber sprechen. Jakob am Baum. Vielleicht kriegen wir Visionen, weil wir nicht mehr wie alle anderen Leute den Schlaf mit Träumen verbringen.

      Als ich unsere Haustür aufschließe, ist es fast zwei Uhr nachts, aber Mama steht im Flur. Ich bin richtig erschrocken, weil sie sonst immer schläft. Selbst wenn ich in die Bierbörse geh oder ins LIT . Sie schaut nie nach, wann ich zuhause bin. Und auch jetzt fällt ihr nicht mal meine Fahne auf. Sie sagt nur: „Ja, dann mal Gute Nacht, Lu. Habt ihr schön gespielt?“

      Als käme ich gerade aus der Sandkiste. Seltsam. „Ich bin 16, Mama!“

      „Ich meinte die Musik!“

      „Ach so!“

      „Ja dann... - Ach Lu, das wollte ich fragen: gehören die dir?“ Und sie hält mir ein Paar Gummistiefel unter die Nase.

      Orange, Grün, Blumen.

      „Woher sind die?“ Verdammt! Woher sind die?

      „Sind das nicht deine, Luise? Charlies Mutter hat sie vorhin vorbeigebracht. Sie war sich nicht sicher, ob du sie nicht vielleicht doch magst. Es kam ihr so vor, als hätte deine neue Freundin sie dir - na ja, womöglich ausgeredet.“

      Das darf nicht wahr sein. Lisbeths Schuhe. Sie verfolgen mich. Ich nehme sie an mich. Her damit! Dankeschön! Alles supi! Gute Nacht!

      Kaum ist sie weg, brech ich in Tränen aus. Ich könnte schreien! Und das geht nicht. Ich platze! Ich zerspringe!

      Wir tappen immer noch im Dunkeln. Was hilft ein persönlicher Fingerzeig, die Zeit läuft, und die Stiefel ... -

      „Luise, alles in Ordnung?“ Mamas Stimme aus dem Gästezimmer.

      „Jaaaa, ich bring noch schnell den Müll raus!“

      Und das mach ich. Okay. So schnell geb ich nicht auf. Diesmal weigere ich mich stur, in Panik zu verfallen. Sunshine hatte recht. Es liegt in unserer Hand. Es muss so sein. An das Gute Glauben. Alles wird gut! Aber man muss es eben richtig machen. Am besten gleich verbrennen.

      Obwohl, nein! Auf gar keinen Fall Feuer!

      Überhaupt, am besten auch gleich mit dem Rauchen aufhören! Ich geh auf direktem Weg zum Altkleidercontainer.

      Als ich die Klappe aufziehe - ein herzzerreißendes Quietschen, das die nächtliche Stille zerschneidet - und die Schuhe auf Nimmerwiedersehen in die Tiefe rumpeln, weiß ich, dass ich das hier unterschätzt habe: Die Stiefel sind nicht so leicht zu entsorgen. Wir saßen unter dem Baum und haben auf 'ne Eingebung gehofft, dabei hatten wir sie doch schon längst: Die Wirklichkeit verändern. Und das ist der erste Schritt.

      In sich gehen – ja, okay. Aber als erstes müssen diese Schuhe weg! Und auch das ist erst der Anfang. Wir müssen kämpfen, wir müssen aufräumen, und alle Bestandteile der Vision müssen verschwinden. Bei mir waren es die Stiefel. Das ist ein für allemal erledigt. Ein Motorradfahrer mit Helm ist bisher nicht gesichtet worden, aber wenn, werden wir uns mit ihm befassen und das Problem beseitigen. Also nicht den Typen, sondern das Problem, das er mit uns hat. Positiv kämpfen! Ich gehe den Weg zurück, hinten rum über Wiese und Garten.

      Am Baum liegen noch die Weinflaschen, die Sunshine geklaut hat. Auch die lass ich verschwin-den. Wenn Papa das rauskriegt, ist Sunhine ganz und gar unten durch. Ich schieb die Flaschen in das Loch des Glas-Containers. Adieu, Sunshines Mini-Bar!

      Als sie in den Glascontainer fallen und klirrend in tausend Stücke zerbrechen, durchzuckt es mich: Sunshine! Die schreckliche Erkenntnis, dass das einzige andere, ebenfalls in der Wirklichkeit aufgetauchte Mosaikteilchen Sunshine ist.

      Aber wie könnte ich Sunshine fallen lassen