Miriam Sachs

SMALLTOWN GIRLS II - Bis ihr nicht gestorben seid


Скачать книгу

sagt Charlie misstrauisch. „Sollen wir jetzt wieder Drogen nehmen, oder was?“

      „Na auf alle Fälle müssen wir unsere Antennen mal ausfahren!“

      Visionen herbei beschwören? Ganz wohl ist mir nicht dabei. Aber warum nicht. In uns gehen ist besser als durch die Stadt irren ohne Plan.

      „Okay, no more Drugs!“, beruhigt Sunshine uns. „Ich hätte aber vielleicht noch irgendwo Räucherstäbchen...“ Sie lächelt milde. „Ohne die isses schwer in unserem Klo, wenn die Jungs da ihre Wurzeln schlagen.“

      Räucherstäbchen findet Charlie okay.

      Sunshine hat das Privileg, als einzige Frau in der sogenannten Kiffer-WG zu wohnen, der berüchtigtsten Wohngemeinschaft der Stadt. Ziemliches Kommen und Gehen. Als wir die Wohnung betreten, stöhnt Charlie auf. “Hier sieht’s ja noch schlimmer aus als neulich!“

      Es ist tatsächlich schlimmer denn je. Alles voller DVD-Hüllen, Pizzakartons, Tennissocken und Pfandflaschen.

      „Wie kannst du hier leben?“ Charlie schnappt nach Luft.

      „Das ist halt der Flur, der gehört allen. Deshalb ist hier auch... na ja … eben von allen etwas.“, sagt sie und klaubt einen ihrer nassen Badeanzüge vom Boden, samt Staubflocken. Da wo der Badeanzug lag, ist es jetzt ein ganz kleines bisschen weniger schmutzig. Sie öffnet die Tür zu ihrem Zimmer und klatscht den Badeanzug auf die Heizung; “Ich fühl mich ganz wohl hier. Und ich hab einen super Ausblick.“

      Charlie geht zum Fenster, aber der Blick auf Videoworld überzeugt sie offensichtlich nicht. „Ich weiß nicht, ob ihr euch mit Feng Shui auskennt, aber ich glaube jeder Mensch kann nachvollziehen, dass in so einer Wohnung Visionen ziemlich geringe Chancen haben. Wie kann man auf dieser Müllhalde in sich gehen, hier ist alles total zugerümpelt!“

      „Hier kann man nur in sich in gehen!“, kann ich mir nicht verkneifen zu sagen, „Is ja sonst kein Platz!“. Ich bahne mir einen Weg durch einen umgestürzten DVD-Stapel

      „Schaut mal,“ sagt Sunshine, „da habt ihr 'n Film, da kommt ein nacktes Orakel vor; altes Griechen-land! sehr erotisch! Mit durchsichtigen Schleiern bekleidetes Mädchen tanzt unter Alkohol vor alten Männern und hat Visionen ...“

      „Danke! Was guckst du für Filme?!“

      Sunshine grinst „Solchen Müll schleppen die Jungs aus der Videothek an. Wo is mein Laptop?“

      Wir finden ihn auf dem Klo neben einem noch fast vollen Zott-Sahne-Joghurt-Becher Erdbeer, direkt gegenüber der Kloschüssel: Ein uraltes I-Book ohne Verschalung, mit Gaffertape-umwickelten Kabeln und offener (!) Skype-Verbindung! Ich stehe neben dem Klo und glotze in die Wohnung von Keine-Ahnung-Wem, der seinen Computer seinerseits verlassen hat. Krass! Deckel zu. Den vom Klo und den vom Notebook. Mit spitzen Fingern reiche ich es an Sunshine weiter.

      „Aber ich recherchiere nicht via gewaltver-herrlichende Hollywood-Blockbuster-Filme!“ sagt Charlie und legt die „300“-DVD wieder weg. „Das ist doch kein Spiel! Meinetwegen können wir nach Ritualen googeln, aber vielleicht auch nicht grad auf eurer Toilette!?“

      „W-LAN funktioniert nur hier.“

      Das Internet ist der Horror! Gib da mal „Übersinnliches“ ein, da landest du ziemlich schnell auf Seiten wie „Engel unter uns“ oder „Frag das Uschi-Orakel!“ Ein Gratis-Klick und Uschi glaubt auch, dass wir im Feuer sterben. Man kann aber ein Schutz-Amulett für 799 € bestellen per Kreditkarte oder Paypal. Sunshine haut den Deckel von ihrem Notebook zu. „Und wenn wir einfach die Klappe halten und meditieren?“

      Wir stehen eng beieinander in dem schlauchigen WG-Klo.

      „Nee! Lu hat ihren Bruder im Morgengrauen auf der Wiese gesehen. Hier hätte sie garantiert keine Erscheinungen gehabt.“, motzt Charlie.

      An der Fensterscheibe will eine dicke Fliege mit dem Kopf durch die Wand. Charlie jagt sie ins Freie. „Wir müssen hier raus. Die einzige Vision, die ich hier krieg, ist die eines Putzeimers randvoll mit Essigreiniger!“

      Sunshine sieht mich an. „Findest du das auch?“ Ich fühle mich komisch. Sunshines Bude macht mein Hirn tatsächlich eher dicht als durchlässig. Klar sollten wir vielleicht spiritueller werden. Aber so auf Knopfdruck? Ich hab kein gutes Gefühl. Das geht mir oft so, wenn Charlie so vehemente Ansagen macht, und man dann aus heiterem Himmel plötzlich seine Unterhosen aussortieren soll oder sofort das Konzept Intimbehaarung neu überdenken muss, obwohl man gerade froh war, dass überhaupt was wächst. Mann, mein Hirn ist echt wie benebelt. Keinen klaren Gedanken krieg ich hin ... -

      Ich denke an Jakob. Dass ich ihn gesehen habe, war das Schönste, was mir seit langem passiert ist. Und wir wissen so wenig. Ein paar Antworten zu bekommen, wäre so wichtig!

      Ich sehe Sunshine an und nicke. Spiritualität. Ja. Okay! - Einen Moment guckt Sunshine finster, dann gibt sie sich einen Ruck. „Okay, bin dabei! Lu, wo genau hattest du eigentlich diese Erscheinung?“

      „Unter dem Vogelbeerbaum auf der Wiese, die hinter unserem Garten beginnt ...“

      „Heute Abend bei Sonnenuntergang!“

      „Heute Abend? Aber...“

      „Kein Aber!“

      5.

       it's memories that I'm stealing

       but you're innocent when you dream

      TOM WAITS

      Das Gras, viel zu lange ungemäht steht wie in Flammen. Im Vogelbeerbaum hängen rote giftige Tropfen. Der Zauber beginnt.

      Wir hatten gesagt: bei Sonnenuntergang auf der Wiese. Seltsame Zeitangabe. Und trotzdem funktioniert es: Wir kommen echt beinahe gleichzeitig an, aus drei verschiedenen Richtungen! Ich aus dem Hintertürchen unseres Gartens mit der Gitarre in der Hand, Sunshine von der Gemeindewiese aus und Charlie schiebt ihr Rad vom Friedhofsweg heran. Ist das abgefahren, dass wir alle drei im selben Augenblick eintreffen, von Norden, Süden und Westen. Als kämen wir aus drei verschiedenen magischen Verbindungen. Gryffindor, Slytherin und Ravenclaw. Und in einem Moment, in dem der Sonnenuntergang alles in ein Licht taucht, als wär die Wiese ein Meer aus Feuer und Blut!

      „Hier?“

      „Ja!“

      „Hey!“

      „Weißt du noch?“

      „Hm. Die Ratte?“

      „Ja.“

      „Häh?“

      Wir stehen irgendwie ergriffen unter dem Baum und hören den Wind in den Zweigen. Ein durchaus mystischer Moment.

      Charlie breitet eine Picknick-Decke aus, dunkelrot, schüttelt sie aus, als wär sie Frau Holle. Wir knien nieder. Mann, das ist gar keine Picknickdecke, sieht total esoterisch aus, Sternenmuster und Kreise. Vielleicht hilft's ja. Wir müssen spiritueller werden. Sunshine steht etwas unbeholfen im Gras und starrt den Baum an, dann mich, dann Charlie und sagt feierlich: „Okay, also ... spiritueller werden.“ Dann zieht sie eine Flasche Rotwein aus ihrem Rucksack.

      „Doch nicht so!“

      „Wieso nicht? Ist zwar nicht so geistig wie was Hochprozentiges, aber ...“

      Charlie wiederholt No more Drugs, aber der Wein sei okay, und zündet ne Kerze an. Und noch eine! Sehr viele Kerzen!

      „Spiel doch was, Lu!“ Sunshine hält mir meine Gitarre vor die Nase.

      Charlie schnappt sie mir vor der Nase weg: „Lu soll jetzt kein Wunschkonzert geben, wir sollten lieber schauen, dass wir sie in Stimmung bringen.“

      Oh Gott, jetzt setzt sie mich unter Druck. Was erwartet sie? Jakobs Botschaft?

      „Gib her.“ Ich greife nach der Gitarre. „das bringt mich eher in Stimmung als die Duftkerzen.