Miriam Sachs

SMALLTOWN GIRLS II - Bis ihr nicht gestorben seid


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      „Motorpsycho!“

      „Aha, und da kannst du einschlafen?“

      „Nö.“

      Und was machst du, wenn du einschlafen willst?“

      „Mach ich die Musik aus.“

      „Hmm.“

      Charlie sagt, die Stille sei ja auch genug, die Natur, das sei doch okay.

      „Okay.“

      Stille.

      Und wir hören ein bisschen, was um uns herum ist. Die Amsel in der Ulme, drüben in unserem Garten. Das hat wirklich etwas sehr Berührendes. Und Charlies Atem, sehr gleichmäßig und tief. Ein durch die Nase, aus durch den Mund. Sie hat die Augen zu, ich versuche es ihr nachzumachen, und das klappt ganz gut. Jedenfalls werde ich ruhig, ich schließe die Augen – nicht ganz, weil das Licht der Kerzen so schön aussieht, ich seh meine Wimpern und unscharf dahinter eine erleuchtete Wiese … wenn er nochmal käme, mein toter Bruder, wenn ich ihn nochmal sähe ... wenn ich ... wenn ... – Irgendwann werde ich ruhig, ich bin eins mit der Natur und den anderen, unser Atem geht gleich-mäßig und synchron, eins mit der Wiese, den Bäumen, dem Lichtermeer irgendwann ist das alles eins.

      Sunshine steht auf und zieht ihr T-Shirt aus.

      „Was machst du da?“, frag ich sie. Steht sie echt mit nacktem Oberkörper unter dem Baum. Und jetzt die Jeans!

      „Lass das, wenn dich einer sieht!“, zische ich ihr zu.

      „Das ist mir jetzt egal. Das fühlt sich richtig an.“

      „So kann ich aber nicht meditieren“, sagt Charlie.

      „Mach doch die Augen zu!“

      Wir machen die Augen zu, aber ich muss doch zu Sunshine hin schielen. Es ist so seltsam, sie schmeißt sich echt voll rein. Hätt ich nie gedacht. Sitzt da im Schneidersitz und wiegt den Oberkörper hin und her. Irgendwie faszinierend.

      „Starrst mir jemand auf den Busen?“, fragt sie, ohne aus ihrem Rhythmus zu kommen, die Augen immer noch geschossen. Ich werde rot. Charlie hat die Augen ebenfalls wieder auf. „Okay, Lu, vielleicht spielst du jetzt doch was auf der Gitarre, ja? Wäre das in Ordnung, Sunshine?“ Die öffnet die Augen; sie sehen tatsächlich etwas glasig aus und schimmern blank im Schein der Kerzen. Wie Tränen. Sie sieht so zerbrechlich aus. Wirklich als sei sie gerade aufgetaucht aus einer anderen Welt.

      „Hast du was gesehen?“, frage ich sie leise.

      Sie schweigt, atmet tief, reibt sich die Augen.

      Dann sagt sie: „Is’n bisschen schwer, wenn man dauernd angelabert wird!“

      Das ist mir jetzt echt ein bisschen peinlich. „Is schon okay“, sagt sie und zieht sich was über. „Wird ja auch langsam kühl.“ Sie greift nach dem Wein, rammt den Korkenzieher in die Flasche, und schraubt dran rum. „Wird schon werden! Laut Wikipedia saß das delphische Orakel auch auf ner Felsspalte aus der Ethylen-Dämpfe kamen. Pilze hatten wir schon, schnüffeln können wir ja morgen - zurück zum guten alten Alk!“

      Ich muss jetzt irgendwie doch lachen. Und nehm einen Schluck aus der Flasche.

      Der Wein ist super. Ich mag sonst keinen Wein, aber der ist total mild, fast wie unser Messwein.

      „Das ist euer Messwein!“

      Heilige Scheiße! Einen Moment lang hab ich das Bedürfnis, Sunshine ins Gras zu schubsen. „Du vergreifst dich an unserem Messwein? Du Monster! Du scheinheilige Atheistin!“ Erst kriegt sie echt'n Schreck. Ich roll mich über sie. „Charlie, hilf mir!“ Die erste Offenbarung der Nacht ist: Sunshine ist kitzelig! Total kitzelig! Und was für ne Lache! Wie befreiend! Wir wälzen uns auf der Wiese und kreischen und kichern und irgendwann liegen wir nur noch schlapp im Gras und sind atemlos. Ich weiß, das ist albern, aber ich hab Sunshine noch nie so ... privat erlebt!

      Betrunken schon – klar! Aber Durchkitzeln ist vielleicht auch nicht verkehrt, wenn man jemand kennen lernen will. Und man muss sich doch auch kennen, wenn man was von einander will. Zum Beispiel spiritueller werden!

      Inzwischen ist es dunkel, wir liegen sternhagelvoll unter einem sternenklaren Himmel und starren in die unendliche Nacht.

      „Ich glaub, wia krieg'n heut kein ...“ Gott, je mehr ich versuch zu artikulieren, desto mehr lalle ich. “Kein ... persönlichen Fingerzeig!“

      „Is jetzt auch schnuppe, du kriegst dafür ... mein persönliches ... Feuerzeug“

      Charlie ist noch am nüchternsten. Sie sagt dauernd irgendwas und will, dass wir uns konzentrieren. Sunshine kichert wie ne Zehnjährige, ihre Stimme, die sich nie zwischen warm und hell entscheiden kann, schimmert.

      „Du, Sunshine, deine Stimme schimmert“

      „Ich will jetzt meine Offenbarung. Sofort!“

      „Weißt du überhaupt, was ne Offenbarung ist?“, fragt Charlie.

      „Keinen Schimmer!“

      Sie entkorkt die dritte Flasche: „Das is die Bar -“ Plopp „Jetzt is sie offen. Offen-Bar-ung!“

      Ich muss schon wieder lachen. Das ist der schlechteste Witz, den je einer gemacht hat.

      „Wenn ihr wüsstet, wie sehr ich euch liebe! Vor allem dich! Aber dich auch! Aber dich noch mehr!“

      Charlie und ich sehen uns an. Sunshine ist total blau. „... Und die Liebe, die is das einzige was zählt! Das kann ich euch auch sagen! So und jetzt sag ich nix mehr!“

      Das ist der Moment, in dem ich meine Gitarre nehme. Eine zarte frohe Melodie, jemand geht vorsichtig eine Straße entlang, kickt 'nen Stein weg und wundert sich, wie schön das Leben immer noch ist, obwohl eigentlich alles total traurig ist. Mann, ich heul gleich!

      „You're dead but the world keeps spinning?

       Take a spin through the world you left?

       It's getting dark a little too early?

       Are you missing the dearly bereft??

       Taking flight and you could be here tomorrow?

       Taking flight, well, you could get here tonight?

      „Boah Lu, was für ein Song!“, sagt Sunshine.

      „Der ist nicht von mir. Der is von den Eels!“

       I'm gonna fly on down

       for the last stop to this town

      Momentan tröstet es mich mehr, die Texte von anderen zu singen. „Der handelt von 'ner toten Schwester, die ihrem Bruder nochmal erscheint“.

      Die Eels sind meine Lieblingsband. Ich hab sie durch Jakob entdeckt. Der Song passt auf so viele Arten. Jakob, bitte! Wenn du noch einmal vor hast, vorbeizuschauen, dann wäre jetzt die Gelegenheit! Ich habe so viele Fragen, ich hab so viel Mist geredet, als du unter dem Baum standest. Jetzt wüsste ich, was ich wissen will! - Charlies erwartungvolle große Augen. Vielleicht kann die Melodie ja tatsächlich in die andere Welt dringen, in andere Räume, Zeiten. Ein letzter Halt in dieser Stadt, eine letzte Frage hätte ich... –

      „Chhhhh“

      „Jetzt ist sie eingepennt! Und auch noch laut!“ Charlie kniet neben Sunshine. Erst ratlos, dann plötzlich wie ein Angler, der unverhofft einen dicken Fisch am Haken hat.

      „Sunshine ...“, haucht sie leise mit ihrer schönen Stimme, „Sunshine, Sunshine, Sunshine!“ Es klingt, als ob sie anklopft. Und irgendwie macht sie das auch, so wie: lass mich rein in dein Oberstübchen! Sunshines Mund steht ein bisschen auf. Sie sieht gerade wirklich bekifft aus, ihr Atem geht gleichmäßig. Mein Herz klopft tierisch, ich würde gern näher kommen, aber ich trau mich nicht. Der Augenblick wirkt so zerbrechlich