Miriam Sachs

SMALLTOWN GIRLS II - Bis ihr nicht gestorben seid


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Gesicht, dessen dünner Mund sonst immer ein gerader Strich ist, gerinnt plötzlich fast zärtlich zu einem Lächeln. Das ist zu viel. Ich ergebe mich.

      Ich hab die Wahl zwischen Birkenstockschuhen und halbvergammelten Geriatrie-Gurken mit immerhin Luftlöchern. Ist das eklig! Zum Glück beides viel zu klein für meine 39er Füße.

      „Mit so großen Füßen kriegst Du nie einen Mann" knurrt Lisbeth.

      Ich sitze auf der Schwelle, in mein Schicksal ergeben und denke, wen juckt das noch! Ich lege meinen Kopf in den Nacken. Der Himmel ist seidenblau, ein paar Wolken sind am Horizont, bei uns im Haus klingelt der Radio-Wecker: Cat Stevens singt "Morning has broken", während Lisbeth mir irgendwelche neuen Abscheulichkeiten über die Füße stülpt. Bitte sehr.

      Als ich den Kopf wieder sinken lasse, trifft mich fast der Schlag: Gummistiefel. Laubfroschgrüne Dinger mit orangefarbenen Blumen drauf.

      "Wie angegossen!", jubelt Lisbeth. „Kindchen, die behältst du am besten, für mich sind die eh zu bunt.“

      Eine Welle von Hitze überrollt mich, breitet sich in meinem Körper aus und endet in den Zehenspitzen. Und schlagartig ist alles wieder da, die Erinnerung, der Traum, das Feuer, alles: Ich krieg keine Luft, ich habe Angst, ich bin geliefert. Ich versuche mir die Dinger von den Füßen zu zerren.

      "Nix!", schnauft Lisbeth.

      Die Schuhe brennen mir an den Füßen wie die Schuhe der bösen Hexe in Schneewittchen, die sich damit zu Tode tanzen muss. Ich laufe wie auf glühenden Kohlen in Richtung Haus, in eben den Schuhen, in denen ich vor drei Wochen im Feuer verbrannt bin. Im Traum! In Wirklichkeit! Verbrennen werde! Die Schuhe jedenfalls sind absolut real.

      Kaum hat Lisbeth die Tür hinter sich geschlossen, mache ich kehrt. Drüben weht der Wind durch die Zweige der Bäume. Nichts deutet darauf hin, dass Jakob hier gewesen ist. Das Gras ist verbrannt und gelb, war es vorhin nicht viel saftiger und feucht unter den Füßen?

      Ich stecke in fremden Schuhen fest, die mich daran erinnern, wie es ist zu verbrennen.

      Jakob hat gesagt: wenn ich Leben will, muss ich kämpfen. Diesmal werde ich kämpfen!

      ***

      Scheiße! Wie kann ich kämpfen?!

      Ich steh da, in Lisbeths Schafspelz und den Stiefeln, in denen ich sterben werde. Gestorben sein werde. Ich weiß ja immer noch nichts! Ich hab nur ein Stück Realität an den Füßen, verdammt enge Wirklichkeit! Ich muss zu Charlie, ihr all das sagen und zwar sofort! Wo ist mein Rad? Zu Fuß brauche ich ewig! Ich kann’s nicht finden und zerre schließlich mein altes Rad von vor drei Jahren aus dem Schuppen. Zu klein, ich muss strampeln wie blöd und mit jedem Tritt in die Pedale meines Fahrrads spüre ich die schrecklichen Dinger an meinen Füßen.

      Visionen und Flashs sind das eine. Da kann man spekulieren, sich die Ohren zuhalten oder sich im Kreis drehen. Aber die Wirklichkeit ist greifbar, mit Händen und Füßen. Ich fasse es nicht, aber … jetzt glaub ich's.

      Alles ist plötzlich anders: ein Teil der Zukunft ist aufgetaucht und ich stecke darin fest. Wir! Wir stecken fest. Ich wünschte ich hätte es schon vorher kapiert. Volle Kanne rein in die Wunde! Scheiße. Meine Beine stecken fest wie in 'nem Fangeisen. Okay, ich will nicht sterben. Hab ich doch gesagt! Niemand darf mehr sterben, klar?!

      Noch ist die Welt da - und so unverschämt intakt. Um mich herum ist alles so normal. Ich radle in völlig absurdem Outfit durch die Stadt, den Bürgermeister-Bußjäger-Weg runter, vor der Venezia-Eisdiele steht das ausgeblichene Schild, das „Aller beste Speise-Eise - Super-Preise“ verspricht. Die Bäckerei Krapp ist schon offen, Frau Krapp dekoriert die Auslage mit dem Hefegebäck von gestern. Wie können sie das tun? Und ich soll demnächst nicht mehr dazugehören? Jetzt erst, in diesem Moment verstehe ich wirklich, wie sich Charlie drei Wochen lang gefühlt haben muss, während ich in anderen Sphären nach Trost gesucht habe.

      Tod, Schmerz, Trauer - davon kann ich ein Lied singen... - Aber: das ist alles Bockmist, wenn man wirklich ... dran glauben muss!

      Ich muss Charlie sofort sagen, dass sie recht hatte! Wie unglaublich bescheuert, vernagelt und blöd war ich die ganze Zeit und jetzt stecken wir schon mitten drin in der Gefahr.

      Es ist kurz nach sieben, als ich atemlos vor ihrem Haus stehe und Sturm klingle. Mein Herz rast und schlägt bis zum Hals. Bitte sei da! Ich steh und starre auf das Klingelbrett, und seh mich selbst im blank geputzten Messing. Eine verzerrte Fratze. Das Gefühl, allein auf der Welt zu sein. Klar, natürlich schläft sie nur! Wach auf! Schnell! Wach auf! Erst als sich völlig verschlafen ein „Werisnda?“ aus der Gegensprechanlage quält, merke ich, dass ich hier völlig planlos stehe und Charlie nix zu bieten habe als Panik. Ich haste die Treppen hoch zu ihrer Dachzimmerwohnung - schon beginnen meine Knie zu zittern, jeder Schritt wird schwerer. Ich habe sie aus dem Schlaf gerissen, und jetzt geb ich ihr den Rest. Als sie die Tür öffnet, finde ich keine Worte und starre sie nur an. Warum bin ich nicht zu Sunshine gefahren? Erstmal überlegen, Lösungen finden, runterkommen. Wie Charlie da in der Tür steht, mit zerzaustem Haar, noch ganz benommen und Schlaf in den Augen, aber mich besorgt anstarrt, verschlägt es mir die Sprache. Ich wünsche mir einen Rettungsring, den ich ihr überwerfen kann, damit das alles nicht passieren muss. Stattdessen steh ich zitternd vor ihr. Ich bin keine Hilfe. Mir steht das Wasser selbst bis zum Hals, und in den Augen; ich bin hier, ich hab mich für das Leben entschieden, aber ich habe nicht den geringsten Schimmer, wie ich ne Hilfe sein kann. „Es geht los!“, stammle ich. Sie versteht nicht, ich hebe den rechten Fuß, der ist schwer wie Blei. Ihr Blick fällt auf die Stiefel, ihr Gesicht, eben noch müde entgleist. Es tut mir so leid! Du hattest recht! Und „Was um alles in der Welt sollen wir jetzt tun?“

      Ich könnte mich ohrfeigen für die Frage.

      3.

      Charlie ist meine älteste Freundin, vor dreizehn Jahren hat sie mir im Sandkasten mit der Schippe auf den Kopf gehauen und ich hab sie daraufhin in den Arm gebissen (aber die Narbe ist echt kaum noch zu sehen!). Seitdem sind wir beste Freundinnen. Manchmal beiß ich sie immer noch, aber im Spaß; sie ist einer der wenigen Menschen, deren Zahnbürste ich ohne zu überlegen benutzen würde, und die mein Tagebuch lesen darf. Ich würde mir ein Bein ausreißen, damit es ihr gut geht, aber wer will schon mein ausgerissenes Bein.

      Es ist mittlerweile fast neun, wir haben Sunshine her telefoniert, ich sitze wie benebelt auf Charlies Bett und mein Hirn fühlt sich an wie in Watte gepackt.

      Sunshine wuselt ins Bad und will mir irgendwas holen. „Lass doch!“ Ich heul gleich, weil sie alles tun, um mir zu helfen, dabei wollte ich doch was tun. Kämpfen. Retten. Stattdessen krieg ich Streicheleinheiten - und prompt fließen die Tränen.

      Weil sie für mich da ist. Weil sie überhaupt noch da ist! Und ich die ganze letzte Zeit so sensibel war wie ein Klotz. Bremsklotz! Und als beste Freundin habe ich in der letzten Zeit nämlich eher versagt: Ich weiß nicht, ob sich das jemand vorstellen kann, wie es ist, wenn die älteste, einzigste Freundin Schlaftabletten nimmt. Und zwar, weil Du selber nicht raffst, wie wichtig du ihr eigentlich bist und wie sehr sie dich gebraucht hätte. Jetzt weiß ich's.

      Und Fakt ist, dass ich sie überhaupt erst in die Verzweiflung getrieben hab.

      Okay, sie mich auch. Mir war das alles zu viel: Zugfahrt, krasses Todeserlebnis, wo doch mein ganzes Zuhause wie ne persönliche Aussegnungshalle ist.

      Das schlimmste in meinem Leben ist und bleibt, dass Jakob weg ist. Ich habe versucht, ihn irgendwie zu bewahren, so wie er für mich war. Und dann kommt meine beste Freundin und reibt mir einen Jakob unter die Nase, den ich nicht kenne. Und der genauso was durchgemacht haben soll wie es uns bevorsteht? Ist hier alles kaputt und krank? Das ist echt zu viel: Autounfall, Feuertod. Ein böser Feind wird uns töten.

      Was für ein Feind, bitte? Ich hab keinen Feind. Ich bin nett! Ich hab niemand was getan.

      Außer Charlie weh.

      Dass sie jetzt da ist! Dass sie mich jetzt einfach nur hält und nichts sagt,