Miriam Sachs

SMALLTOWN GIRLS II - Bis ihr nicht gestorben seid


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vor dieser blöden Kuh.

      An dem Abend auf der Party – da war mir alles egal. Ich kapier jetzt auch endlich das blöde Wort „Anmache“. Da legt jemand nen Schalter um und man ist plötzlich unter Strom und alle moralischen Sicherungen brennen durch. Nicht schlecht war das. Aber andere Dinge sind wirklich weltbewegender. Das einzige, was sich dadurch in der Schulwelt geändert hat, ist: Ich bin wohl interessanter geworden. Wer hätte das gedacht, sogar die Pfarrerstochter darf rumfummeln!

      Irgendwie spüre ich Tränen hochkommen. Nicht wegen Maxi - was die in ihren Aktenordner „Unzucht von Mitschülern“ abheftet, ist mir so was von egal, jetzt mehr denn je!

      Aber die Dinge selbst ... Partys feiern, bei Freundinnen übernachten, in einen Swimmingpool fallen, angefasst werden, jemand küssen, den ich bisher noch nie zuvor gesehen hab. Den Duft von Yasmin und Hortensien, eine weiche Wiese, Ameisen, die mir in den Hintern kneifen und ein Typ, der genau dasselbe macht. Ne Menge Gefühle, ein Sog, als ob man die ganze Welt in sich haben möchte. Das wäre beinah mein Erstes Mal geworden. Und dann auch gleich das letzte? - Ich bin fast geplatzt, weil ich mit niemand reden konnte. Charlie nicht, Sunshine nicht. Warum musste ich mich ausgerechnet kurz vorher mit beiden streiten?

      Wenn ich mich nicht gestritten hätte, wäre ich allerdings auch nicht abgedampft und in den Pool gefallen. Und eigentlich bin ich nach diesem Reinfall nur im Pool geblieben, weil ich nicht wie ein begossener Pudel wieder rauskriechen wollte. Ich hatte also zwangsweise Spaß! Und als der Typ, der mich da mehr oder weniger aufgefangen hatte, mich angelacht hat, hab ich mitgelacht, obwohl ich ihm am liebsten eine reingehauen hätte. Ich will in letzter Zeit eigentlich dauernd allen eine reinhauen. Wie gut, dass ich so gut erzogen bin.

      Und jetzt sitzt Maxi vor mir, diese Informations-Melkmaschine und Giftspritze, und glotzt so was von "ich-versteh-dich-voll", während sie an ihren Ohrringen herum zwirbelt – und die sind mir nur all zu gut bekannt! Große silberne Kreolen mit winzigen geschliffenen Schneckenhausmuscheln innen. Willkommen zurück im Kleinstadtbrei!

      „Was sind'n das für Ohrringe?“

      "Die hab ich neu! Hat Charlie mir geschenkt"

      "Die hab ich ihr geschenkt!!!“

      „Ach ja? Jetzt hat sie sie mir geschenkt!“

      Sie ist so widerlich. Sie nimmt den rechten ab und lässt die Kreole demonstrativ um ihren Zeigefinger kreisen. In Physik hat sie in der Klausur über die Zentripetalkraft total abgeloost, aber wie man sie in der Praxis einsetzt, um jemand fertig zu machen, das hat sie drauf. Warum in aller Welt schenkt Charlie dieser Kuh meine Ohrringe? Da hab ich ihr eine geknallt.

      Jetzt sitze ich im Vorzimmer des Rektors und vergeude noch mehr Zeit mit Warten. Ich sitze und warte auf meine Verurteilung oder darauf, dass der Schulfotograf kommt und Fotos von mir schießt. Profil rechts, frontal, Profil links. Polizeiakte: gewalttätiges Subjekt, Drogenexzesse, Unzucht in Büschen. Neuerdings schlechter Umgang mit ebenfalls zur Gewalt neigenden Zugezogenen aus Berlin-Kreuzberg. Mildernde Umstände: toter Bruder. Und dass wir selbst bald sterben …! Vor ein paar Monaten war meine Welt noch so in Ordnung. Ich bin eigentlich nett! Ich will nicht viel im Leben. Ich will Musik machen! Ich will der Welt gerne zeigen, was in mir steckt. Ich will weder Hotelzimmer zertrümmern noch Leute zusammenschlagen, ich will ...

      Die Tür geht auf. Nicht die zum Allerheiligsten des Rektors, sondern zum Flur. Sunshine steckt ihren Kopf ins Zimmer, ihre schwarzen, flusigen Haare sehen aus wie Daunenfedern, zarte Hässliche-Entlein-Federn.

      „Hey, die erzählen was von Weiber-Catchen! Hast du gewonnen?“

      Sehr witzig. „Hast du nichts Besseres zu tun?“ fügt sie etwas ernster hinzu.

      Ich seh sie an und weiß dass sie Recht hat. Wir können uns mit solchem Mist nicht aufhalten.

      „Los!“, sagt sie. „Abflug!“

      Ich renne durch die Flure, weg von allem, raus aus der Falle! Das ist schlimmer als Schule-Schwänzen. Es ist wie ein Ausbruch. Durch das Portal, es schlägt hinter uns ins Schloss. Wir sind raus.

      „So was darf uns nicht mehr passieren!“, sagt Charlie und meint natürlich mich und meine Maxi-Aktion. „Wir stehen über roher Gewalt! Wir müssen drüber stehen. Wir haben keine Zeit zu verlieren mit diesem ganzen Alltagskram!“, meckert sie, während wir die Kurve kratzen in Richtung Stadtrand. „Also musste das sein?“

      „Mussten wir überhaupt hin?“, frag ich sie.

      „Ich muss mal!“ sagt Sunshine.

      Es fühlt sich total richtig an, das alles hinter sich zu lassen. Eine Verwarnung vom Rektor. Bitte schön. Wie nett! Ich hab echte Probleme! Und grad deshalb hat die Ohrfeige gut getan. Ich fühle mich wie erleichtert nach diesem Befreiungsschlag. Ich wünschte ich könnte unserem Feind ein reinhauen. K.O.-Schlag und Sieg.

      „Hör auf, so finster zu schauen“, sagt Sunshine sanft zu mir. “Du müsstest echt über diesen Dingen stehen.“

      „Und wieso?“

      Sie windet sich, dreht an ihrem Lippen-Piercing und verpasst mir schließlich einen kleinen Tritt. „Wenn ich gestern im Morgengrauen meinen toten Bruder gesehen hätte, den ich über alles liebe und den ich so sehr vermisse, so sehr wie nichts auf der Welt - ich glaube ich würde seitdem über dem Boden schweben.“

      „Ja ...“ Nur dass die Stiefel mich wieder auf die Erde geholt haben mit voller Wucht. Jakob ist tot. Er kommt nicht wieder. Aber Sunshine sieht mich so intensiv an, dass ich es bei dem „Ja“ belasse.

      „Ja!“, sagt jetzt auch Charlie, und sie kriegt dieses wilde Flackern in die Augen. „Lu, es passieren so seltsame Dinge! Dir ist Jakob erschienen, und ich sehe seit Tagen einen Leichenwagen durch den Ort fahren – es ist aber niemand gestorben. Keine Traueranzeigen. Ich habe das Gefühl, das sind Fingerzeige ganz speziell für uns. Mir kommt es vor, als ob wir durch eine Welt rennen, die jeden Moment Risse kriegt – wie der Boden hier!“

      Wir gehen in der sengenden Sonne in Richtung Stadtrand, der Asphalt unter meinen Füßen ist tatsächlich aufgerissen und wirft Blasen. Weil ich hinstarre, fügt sie hinzu: „Ich meine das metaphorisch! Ich kann kaum einen geraden Schritt gehen, ohne das Gefühl, in einen Abgrund zu fallen, alles schwankt, flimmert und plötzlich stürzen Motten wie Totenkopffalter auf mich nieder. Ich beneide dich, Lu, dass Du so ne klare und schöne Erscheinung hattest. Das andere macht einem nur Angst.“

      „Meine Erscheinung war vielleicht schöner, aber klar? - Jakob hat mir was sagen wollen und ich war total überfordert. Ich kann mich kaum erinnern.“

      „Lu! Du musst dich erinnern!“ Charlies Augen blitzen.

       Hätte Jakob mir nicht alles aufschreiben können? Schwarz auf weiß. Und leserlich?!

      Ich könnt mich ja selber in den Arsch beißen, dass ich ihn nur angestarrt habe. Und jetzt sieht mich sogar Sunshine so erwartungsvoll an. Ich hasse es, dass ich sie enttäusche.

      „Vielleicht, weil das alles ne Nummer zu groß ist. Weil wir's nicht kapieren. Vielleicht musst du beim nächsten Mal den Leichenwagen anhalten, Charlie und durchs Fenster sehen!“, sagt Sunshine.

      Komisch. Hätte nicht gedacht, dass sie Insektenschwärme und andere Horror-Gimmicks überhaupt ernst nimmt. Und ich? Ich habe mich immer gewehrt gegen übersinnliche Erscheinungen. Brennende Büsche und so – die gehören in die Bibel, aber das passiert doch nicht mir! Na ja, und dann steht da plötzlich Jakob am Baum und sagt mir ... verdammt, was hat er gesagt? Es war doch mehr als nur „Es gibt kein Zurück.“ Warum habe ich nicht zugehört! Wenn ich es nochmal abspielen könnte, wie einen Film!

      Charlie hat Recht, hatte sie die ganze Zeit schon! Die Welt hat sich verändert; auch wenn uns das überfordert, wir müssen versuchen, einen Zugang zu kriegen zu … ja zu was denn eigentlich? Zum Himmel? Zu Jakob? Zur Zukunft?

      „Zu mir?“, fragt Sunshine. Ich versteh erst gar nicht was sie meint. Wir sind stehen geblieben, rechts geht es runter zum „Randbezirk“: ein paar Eternitplatten-häuschen