Tilmann A. Büttner

Adam Bocca im Wald der Rätsel


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war er an das Fenster seines Zimmers getreten. Anstatt den schweren Vorhang vorzuziehen, hatte er hinaus gestarrt. Da war jenseits des umgebenden Hotelparks nichts zu sehen. Dunkel zeichnete sich die Silhouette eines niedrigen, mit struppigen Büschen und Bäumen bestandenen Hügelzugs im Mondlicht ab. Lagen in dieser Richtung die Straße zur Stadt und der dichte Wald mit dem Laubtunnel? Wenn die Schrate dort draußen waren, wie nahe würden sie an das Hotel herankommen? Wussten sie, dass er hier war? Würden sie zu ihm kommen, oder warteten sie auf ihn? Dann hatte er den Vorhang geschlossen und sich wieder schlafen gelegt.

      Am Montag saßen sie beim gemeinsamen Frühstück, das gewittrige Wetter der vergangenen Tage war endlich wieder einer hochsommerlichen Morgenstimmung gewichen. Sie saßen auf der Terrasse, lobten nun schon zum dritten Mal den Café Crème des Oberkellners in den höchsten Tönen und fanden ihre Befürchtung, der Oberkellner konnte sich auf den Arm genommen fühlen, nicht bestätigt. Stattdessen versorgte er sie noch einmal mit köstlichen Croissants und verschwand dann wieder in seiner Bar.

      „Hier kann man es echt aushalten“ lobte Carlo. „Besonders mit der Herzensdame, oder wie Frau Pinyol so schön sagte, mit einer immer charmanten Begleitung. Stimmt’s Partner?“

      „Piyol.“

      „Bitte?“

      „Piyol, sie heißt Piyol und nicht Pinyol.“

      „Ja ja, schon gut, lenk nur ruhig ab. Jetzt hast du aber bestimmt Sehnsucht nach der Angebeteten und würdest am liebsten sofort losfahren, wie ich dich kenne.“

      „So gut kennst du mich als Verehrer charmanter Begleitungen ja nun auch nicht. Aber ich geh jetzt mal einfach davon aus, dass du dir das so zusammenreimst.“

      „Stimmt es denn etwa nicht?“ fragte Carlo naseweis nach.

      „Na ja, so halb. Klar finde ich’s gut, wenn wir heute wieder zurückkommen“, antwortete Adam. Er fand es je länger je unbegreiflicher, dass Carlo nicht eins und eins zusammenzählen konnte. Er hatte ihm doch davon erzählt, dass er Stella einmal in einem Sporthotel abgeholt hatte. Wieso kam Carlo nicht darauf, dass das hier im Lupinental gewesen war? Wieso glaubte er, er müsse mit Sandra hier gewesen sein? Aber egal, irgendwann würde er schon alles erzählen, und wenn Carlo dann sauer wäre, weil er es so spät erfuhr, würde ihn das wenigstens von unangenehmen Fragen zur Beziehung von Adam und Stella abhalten.

      „Also was jetzt“, bohrte Carlo doch noch weiter, „willst du nun zurück in die Stadt oder nicht?“

      „Doch, doch, klar. Aber das war ja schließlich ein tolles Sportwochenende. Und von mir aus muss es auch noch nicht ganz zu Ende sein.“

      „Okay, aber bitte kein Magno-Squashen mehr, ich habe einen Mörder-Muselkater in den Waden“, gab Carlo zu bedenken.

      „Na gut, dann können wir uns ja etwas anderes ausdenken.“ Selbstverständlich hatte er sich in diesem Augenblick bereits etwas anderes ausgedacht. Die Aussicht auf die Rückfahrt in die Stadt, die Erwartung, dass heute die letzte Gelegenheit zu einem Treffen mit den Schraten bestand und dass ihr Weg sie ohnehin durch „ihren“ Wald führen würde, hatte in ihm einen Entschluss geweckt, den er nun ohne weiteres Nachdenken fasste: Nein, er würde Carlo auch jetzt nicht einweihen, aber er würde es nun darauf anlegen, dass die Schrate sich zeigten. Für diese Lebewesen aus dem Wald musste ein fahrendes Auto recht bedrohlich erscheinen und es zwang sie jedenfalls, einen Plan zu ersinnen, wie sie mit den Insassen eines fahrenden Autos in Kontakt treten könnten. Wenn es ihm also darauf ankam, ein Zusammentreffen zu erleichtern, dann lag wirklich nichts näher als der Versuch, ihnen ohne Auto, einfach von Angesicht zu Angesicht näher zu kommen. Er musste – er und Carlo mussten – einfach in den Wald hineingehen. Einfach hineinspazieren, so wie er es Carlo schon auf der Hinfahrt vorgeschlagen hatte. Wenn sie zu Fuß durch den Walt wanderten, dann würden die Schrate keine Hemmungen haben müssen, sich zu zeigen.

      Einfach hineinspazieren – Adam war nicht so unbedarft, dass ihm nicht ohne weiteres die Konsequenz klar gewesen wäre: Ohne Auto mitten im Wald waren sie völlig schutzlos. Klar, wenn sich so eine Gruppe von einem guten Dutzend Schrate auf den Wagen stürzte, sähe es auch alles andere als gut aus. Aber dann gäbe es wenigstens eine kleine Chance, doch noch Gas zu geben und irgendwie davon zu kommen, mit etwas Glück. Aber ohne das Auto? Durch nichts gehindert könnten die Schrate dann ihre körperliche Überlegenheit nach Belieben ausspielen. Adam war bereit, es trotzdem zu riskieren. Und Carlo? Carlo würde schon irgendwie klarkommen, er war der Mutigere.

      „Wie wäre es denn, wenn wir noch eine kleine Runde auf dem Laufsimulator machen, dann losfahren und unterwegs für eine Wanderung anhalten, mit der wir das Training dann ganz gemächlich ausklingen lassen?“ fragte Adam möglichst harmlos.

      „Nochmal auf den Laufsimulator?“ maulte Carlo. „Wir waren doch heute schon vor dem Frühstück mindestens eine Stunde lang drauf.“

      „Es war nicht ganz eine Dreiviertelstunde. Wer wollte denn ‚die müden Knochen in Schwung bringen‘, wenn ich mal zitieren darf? Aber na gut, wenn du das nicht mehr packst, können wir das weglassen und machen dafür die Wanderung ein bisschen länger.“

      „Wie kommst du überhaupt auf die Idee mit der Wanderung?“

      „Wie meinst du?“ Adam ging mit seiner Gegenfrage innerlich in Deckung. Hatte Carlo doch irgendeinen Verdacht geschöpft?

      „Na ja, das ist ja echt wie auf ’nem Schülerausflug. Ist das hier denn überhaupt eine Wandergegend?“

      „Ach, wir fragen einfach Madam Piyol und dann wird sich bestimmt was Gutes finden lassen.“

      „Meinst du?“

      „Klar, die hat sicher eine gute Idee.“

      Sie hatte. Sie schlug zunächst ein paar Rundwege vom Hotel aus vor, und als Adam unauffällig auf den Wald in Richtung der Stadt zu sprechen kam, erklärte sie ihnen, dass sie dort eine kleine, von der Hauptstraße abzweigende und im Verkehrssystem bestimmt nicht einprogrammierte Waldstraße nehmen und an deren Ende den Wagen stehen lassen könnten. Zwei Waldwege würden von dort aus abgehen, die aber die zwei Enden eines Rundweges seien, den sie auch als ungeübte Wanderer leicht in zweieinhalb bis drei Stunden bewältigen würden.

      „Hört sich doch gut an“ meinte Carlo. Adam pflichtete ihm ohne Anwandlung eines schlechten Gewissens bei.

      Eine hohe Bewölkung war wieder aufgezogen, als sie an der ihnen beschriebenen Stelle aus dem Auto stiegen. Die Wolken verdichteten sich mehr und mehr zu einem bleiernen, niedrigen Himmel.

      „Wenn es jetzt noch regnet, dann geht’s aber richtig los“ mutmaßte Carlo. „Und dann heißt es vielleicht ein gutes Stündchen oder mehr durch den Regen zurückmarschieren.“

      Adam zögerte. Der Wald stand hier nicht so dicht wie im Laubtunnel, aber dicht genug, um keine fünfzig Meter weit zwischen die Bäumen hindurch sehen zu können. Es war womöglich doch einfach eine Riesenidiotie hier den Schraten entgegen spazieren zu wollen. „Sollen wir es lieber lassen?“ fragte er. „Nicht, dass wir noch pitschnass werden, so warm ist es hier draußen nun auch nicht.“

      „Ach was,“ versetzte Carlo, „wir haben ja unsere Multifunktionsklamotten. Ist bei dir nicht auch so ’ne Kapuze dran? Ja? Siehste, dann kann ja gar nichts schief gehen.“ Unternehmungslustig rieb er sich die Hände. „Und auf geht’s. War wirklich eine tolle Idee, ich hab das schon seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht.“

      Carlo marschierte los, ohne sich noch einmal umzublicken. Mit einem stillen Seufzer schloss Adam das Auto ab und ging ihm hinterher.

      Gar nicht sanft war in dieser drückenden Wärme der Duft des Waldes. Der beständig wiederkehrende Regen der vergangenen Tage zusammen mit der schwülen Wärme, die vor dem immer nächsten Gewitter in Wellen über das Land lief, erweckten die Myriaden kleiner und großer Leben unter den Bäumen und darauf und daran zu wucherndem, pulsierendem Wachstum. Schleichend und lautlos, mit bloßem Auge nicht wahrnehmbar, breitete sich jeder noch so geringe Organismus aus, so weit und so schnell er konnte, und soweit es die um Luft, Licht und Wärme konkurrierenden Kohabitanten es eben zuließen.