Tilmann A. Büttner

Adam Bocca im Wald der Rätsel


Скачать книгу

sich die Leute in der eigenen Kuppel wohl fühlen und es in der anderen Kuppel ganz anders sein soll, dann muss es da drüben ja wohl irgendwie schlimm und gar nicht schön zu leben sein. Aber ich kann dir sagen, also so viel habe ich schon mitbekommen: Die leben da in der Vallinigra eigentlich ganz genau so wie wir. Sie arbeiten in eigentlich genau denselben Berufen, das Essen schmeckt zwar ein bisschen anderes, besteht aber aus denselben Zutaten, und sogar die Freizeitvergnügungen sind dieselben, auch wenn sie etwas anders heißen.“

      „Da gibt’s ’ne Squit-Liga in Vallinigra?” unterbrach Adam ihn endlich, bevor Carlo sich zu noch ausführlicheren Reflexionen über das Leben in Vallinigra ausließe.

      „Nee, okay, also mit Squitten haben sie es da nicht so, es gibt nur ein paar Amateurclubs, aber dafür so eine andere Sportart mit Rumgleiten und Schlagstäben, hab vergessen, wie das heißt. Aber ich wollte ja eigentlich auch was anderes erzählen.“ Wenigstens gab Carlo zu, sich vergaloppiert und den Faden verloren zu haben.

      „Der Kichermann“, half ihm Adam mit einem Stichwort.

      „Ja genau, Tamitzo: Also, es kann dir passieren, dass du dich ganz vernünftig mit ihm unterhältst, und wenn man nicht wüsste, dass er nicht aus der Paneupinia ist, würde es einem wirklich nicht auffallen. Aber dann bringt er auf einmal so ganz komische Dinger. Dieses Rumgekichere wie damals am Fluss zum Beispiel. Und dann auch mal gerne total abgefahrene Geschichten. Und davon ist mir jetzt gerade eingefallen, pass auf: Neulich war ich mit ihm abends unterwegs, er ist ja auf zwei Jahre hier bei uns als Austauschstudent, und ich kümmere mich immer mal wieder um ihn. Wir also los in die Innenstadt, eigentlich hatte ich ja in diese neue Lounge bei der Zentraluni gehen wollen. Aber Tamitzo hat rumgequengelt, das wären ihm zu viele Leute da, und zu wenig Luft zum Atmen und so’n Scheiß. Okay, denke ich mir, hilf dem armen Jungen, geh mit ihm irgendwo hin, wo schön wenig los ist und die Musik nicht so laut, und dann soll er sich einfach mal auskotzen. Dann sind wir in so ’ner totalen Spießerkneipe gelandet, mit so fiesen Mädels als Bedienungen mit hochtoupierten Haaren und billigen Miniröcken, da ist natürlich auch dann tote Hose, wenn’s im Rest der Stadt brummt. Wir haben uns da in ein stilles Eckchen gehockt, Tamitzo hat an seiner Biotonic genuckelt und ich mir erst mal ein großes Reisbier mit Schuss bestellt, so nach dem Motto liebe betäubt als tot gequatscht. Ey, und dann hat der Typ losgelegt, ich hab mich fast verschluckt, kann ich dir sagen. Am Anfang war das noch halbwegs harmlos, da ging es um irgendeine Verschwörungsgeschichte von wegen überwachte Computernetze, und dass irgendwelche Typen von der Secufoce oder anderen Sicherheitskonzernen uns in den Kopf gucken, um unsere geheimsten Geheimnisse auszuspionieren und dann an Kaufhauskonzerne weiterzugeben, verstehst du, damit wir zu gläsernen Kunden werden und die uns alles andrehen können, was wir eigentlich gar nicht brauchen, aber psychologisch total ausgefuchst auf unsere unterbewussten Wünsche passt. Scheiße, denke ich mir, der Typ hat ja echt ’ne Vollmeise. Aber dann ging es erst richtig los. Auf einmal fängt Tamitzo nämlich zu kichern an, echt genau so wie damals, nur klang es irgendwie ängstlicher, er kichert also vor sich hin und murmelt zwischendurch ein paar Mal so was wie ‚die Vögel, die Vögel.‘ Was denn für Vögel, frage ich ihn ganz geduldig als wäre ich sein Psychodoc, und er fängt allen Ernstes und absolut klapsmühlenreif an davon zu erzählen, dass die Vögel in die Kuppel hinein wollen, und dass wir sie auf gar keinen Fall hereinlassen dürfen, weil sie uns sonst umbringen würden. Riesenhafte Vögel seien das, und sie fressen kleine Menschenkinder wie Amseln im Park Regenwürmer picken. Ich schau mich so um, ob da nicht gleich einer mit der Zwangsjacke hinter uns steht, und will mir auch nichts vergeben, falls uns wer zuhört, dann will ich ja nicht, dass der glaubt, ich wäre auch so einer von der Sorte. Also frage ich noch mal ganz geduldig, was für Vögel genau das denn sein sollen, und woher er denn von denen wissen will. Tamitzo schaut mich mit großen runden Augen an und antwortet mit fester Überzeugung, nicht zu schnell und nicht zu zögerlich, dass die Vögel uns auf der Außenseite der Kuppel auflauern und beobachten, und er sei einer der wenigen Menschen die sie von innen nach außen sehend erkennen könnten. Und deshalb würden sie ihn als Allerersten töten, wenn sie einmal in die Kuppel eingedrungen wären. Da hatte ich echt Mitleid mit dem armen Spinner. Wie er sich so in die Sache reinredete, bekam er es selber immer mehr mit der Angst zu tun. Musst du dir mal vorstellen, ein großer Junge, der sich selber Schauermärchen erzählt, und dann selber am meisten Angst vor dem hat, was er sich da zusammenspinnt. Eigentlich ist das ja wirklich einfach zu köstlich, aber du hättest ihn sehen müssen. Der hatte richtig Schiss, richtig, richtig die Hose voll. Da war mir ehrlich nicht danach, ihn auszulachen. Aber wenn ich jetzt so darüber nachdenken, ich meine: Große Vögel, die uns von außerhalb der Kuppel beobachten und uns auflauern, um reinzukommen und uns zu töten, das ist doch mal super abgedreht, oder?“

      „Tja, vielleicht...“ setzte Adam zögerlich an. So, so, Tamitzo also, der Kichermann. Der glaubte an unwirkliche Wesen in Gestalt großer Vögel. Ob Adam selber auch zum Spinner wurde in seinem Glauben an die Schrate? Diesen Gedanken wischte er schnell beiseite, so dass eine andere Idee ihn um so deutlicher durchfuhr: War das nicht die Gelegenheit, Carlo einzuweihen, ihm endlich alles zu erzählen? Ihm klar zu machen, dass es nicht allein eine Sache von Spinnern und Außenseitern war, auf Wesen zu treffen, deren Existenz an sich bereits unglaublich war? „Was wäre denn, wenn es, also wenn vielleicht wirklich...“

      „Wenn Tamitzo wirklich Hilfe braucht? Glaub mir, das habe ich mir auch lange überlegt, lange und gründlich. Klar, braucht der Junge Hilfe. Der stolpert ja von einer Angststarre in die nächste, so kann der einfach kein selbständiges und erfolgreiches Leben führen. Aber weißt du, da muss man ehrlich zu sich sein und nicht den strahlenden Retter spielen wollen. So ein Fall, da bin ich mir ziemlich sicher, macht professionelle Hilfe erforderlich. Und da bin ich mir eben nicht sicher, ob ich als Bekannter, ich bin ja nicht einmal ein echter Freund von Tamitzo, ob ich als Bekannter also in der Position bin, so etwas anzuleiern. Das müsste ja doch wohl seine Familie machen, oder sein Ausbildungstutor oder die zuständige Behörde. Die haben schließlich...“

      „Nein, Carlo, nein, das meine ich nicht“ unterbrach Adam ihn. „Ich meine, wenn es anders ist, als du gesagt hast.“

      „Wie denn anders?“

      „Na, wenn Tamitzo, du sagst ja selber, dass er superschlau ist, also, wenn er vielleicht Recht hat.“

      „Inwiefern denn Recht haben?“

      „Dass diese Vögel, also dass er, oder, egal, ich meine, dass er diese Vögel tatsächlich gesehen hat.“

      „Gesehen. Aha.“

      „Es kann doch sein, dass er, und eben nur er allein etwas gesehen hat, was sich anderen nicht zeigt.“

      „Jetzt mach aber mal halblang“ empörte Carlo sich.

      „Ich meine das doch gar nicht als Vorwurf. Du kannst ihm doch nicht in den Kopf reinschauen, vielleicht hat er wirklich etwas gesehen, wegen dem er völlig zu Recht Angst hat. Dann hat es ihn sicherlich eine furchtbare Überwindung gekostet, endlich einmal mit jemandem darüber zu reden.“

      Carlo blieb stehen, sah Adam entsetzt an, der sich zu ihm umdrehte. Dann breitete sich von Carlos Mundwinkeln ausgehend ein Grinsen über sein Gesicht aus, immer breiter, bis er offen loslachte.

      „Was gesehen, Mann, du bist ja ’ne Nummer. Nee, ist klar, das arme Tamitzolein, hat als einziger Augen wie ein Adler um andere Vögel sehen zu können. Hey, Adleraugen, das ist gut, was? Und dann muss der arme Piepmatz erst mal elendiglich rumquäken, bis ihn jemand hört. Oh, oh, es gibt ja so furchtbare Schicksale auf dieser schlimmen Welt, hihi, Vögel, die uns umbringen wollen, und keiner hört auf den armen verrückten Tamitzo, weil er für alle nur der Kichermann ist, klar.“

      Dieses Mal durfte Adam miterleben, wie unvorstellbar lautlos sich die Schrate bewegen konnten. Vier von ihnen waren ohne ein Geräusch in einem einzigen großen Satz aus dem dicken Farnlaub hervorgesprungen und ebenso lautlos dicht hinter Carlo auf dem Weg gelandet. Adams Augen weiteten sich in namenlosem Entsetzen. Carlo, der ihm direkt ins Gesicht sah, konnte es gar nicht übersehen.

      „Was ist denn los mit dir, Adam? Hey, ich wollte dich nicht beleidigen.“

      „Hinter dir“ flüsterte Adam in einem krächzenden Ton, er konnte sich selber kaum verstehen.