Tilmann A. Büttner

Adam Bocca im Wald der Rätsel


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parieren konnte. Indem er echtes Interesse investierte, konnte er Bestätigung und Motivation aus seiner Tätigkeit ziehen. Sich mit Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung zu befassen war ihm nicht länger eine wichtigtuerische Beschäftigungstherapie für verhinderte Unternehmenslenker. Er begann, Zusammenhänge zu erfassen, die er künftig viel genauer und intensiver studieren wollte. Selbst ein Ökonomie-Studium konnte er sich plötzlich vorstellen. Sein Vater würde Luftsprünge machen, wenn Adam endlich das tat, was er schon immer von ihm erwartet hatte. Aber er würde es dann nicht deswegen und nicht für seinen Vater machen, sondern weil es ihm ein Anliegen wäre.

      Und Stella. Viel wichtiger noch war, dass Stella jetzt in seinem Leben war. Das war nicht eine lose Liebelei um des Verliebtseins willen. Eine frühe Phase des verliebten Blicks, getrübt von namen- und ziellosen Gefühlswallungen hatten sie gar nicht durchlebt. Adam bedauerte das nicht, wohl eben so wenig wie Stella. Seine Empfindungen waren noch genau so wach wie damals, als das Aufeinandertreffen mit Sandra – Stella hatte er da einfach nicht recht wahrgenommen – sein Innerstes geweckt hatte. Aber die Empfindungen hatten sich gewandelt, waren von nebulöser Schwärmerei zu einer festen Spur erstarrt, der er folgen wollte, hin zu Stella, beide aufeinander zu schreitend. Sie hatten seit seiner Rückkehr aus den Wäldern an jedem Tag Zeit miteinander verbracht, eine ruhige, aneinander genießende Zeit. Jetzt gehörte Stella zu seinem Leben und er hoffte, dass er zu ihrem gehörte. Hätte sie diese Empfindung nicht erwidert, wäre sie innerlich bereit gewesen, jeden Augenblick aufzustehen und zu gehen, er hätte ihr keinen Vorwurf daraus gemacht. So lange sie da war, war sie Teil seines Lebens, eines neuen Lebens, das ihm kostbar war.

      Was wollte er also da draußen im Wald von den Schraten eigentlich? Die lebten fröhlich, verborgen unter dem Dickicht der Bäume, vor sich hin. Oder seinethalben auch unfröhlich und elend, was ging ihn das an? Vielleicht machte es ihnen Freude, immer einmal wieder arglose Touristen zu erschrecken, na schön. Wenn sie tatsächlich für Menschen gefährlich wären, dann müsste eben jemand etwas dagegen unternehmen, der etwas von der Beseitigung von Gefahren verstand. Das war doch Sache des Hotelverbandes, wenn er seine Wege sicher halten wollte. Genauso, wie die Straßen durch die Wildnis in Schuss gehalten werden mussten, musste auch marodierendes Gesindel von den nichtsahnenden Besuchern ferngehalten werden. Zur Not mussten die Tourismus-Unternehmer halt Geld in die Hand nehmen und einen Sicherheitskonzern auf die Sache ansetzen. Marktführer Secuforce würde sich über einen dicken Auftrag bestimmt freuen.

      Ja, es hatte Momente gegeben, in denen der Gedanke an die Schrate Adam aus einem kurzen, nur ganz kurzen Zustand der tiefen Zufriedenheit gerissen hatte, und dann war ein anderer Zorn in ihm erwacht, Zorn über diese Kreaturen. Die sollten ihn doch in Ruhe lassen. ‚Komm wieder, komm wieder‘, von wegen: Wenn er diese Wesen tatsächlich gesehen hatte, dann waren das bestimmt keine Gesten gewesen, die sie gemacht hatten. Unbeholfenes Rumgefuchtel mit den Armen, mehr konnte das nicht gewesen sein. Und damit hatte sich Adam auch schnell wieder besänftigen können: Sie würden ihn in Ruhe lassen, würden draußen in den Wäldern bleiben. Niemand hatte je davon gehört, dass solche Lebewesen in die Stadt eingedrungen waren. Die da draußen, Adam und Stella und alle friedliebenden Menschen da drinnen, basta! wer musste sich schon die Zeit auf dem Land um die Ohren schlagen?

      So hatte ein kleines Glück an einer Zeit mit Stella in der Stadt scheinbar das Verlangen nahezu verdrängt, Klarheit über die Existenz der Schrate zu gewinnen. Doch dieses neugierige Verlangen schlummerte nur knapp unter der Oberfläche seines Fühlens und schon bald erwachte es wieder. Ihm war, ganz bewusst, die Lächerlichkeit seines Daseins klargeworden, aus der er nicht würde entrinnen könnte, wenn er sein Erlebnis draußen im Wald weiter vor sich und den anderen weiterhin leugnete. Was für eine alle Aspekte seines Lebens umfassende Lüge, wenn er weiterhin so täte, als gäbe es für ihn keinen Anlass, sich endlich Gewissheit über Dasein und Wesen der Wesen aus dem Wald zu verschaffen! Gab es für ihn einen guten Grund, an die Existenz dieser Schrate zu glauben, dann musste er sich auf die Suche nach ihnen machen. Und würde er sie wiedergefunden haben, dann durfte er das vor seinen Mitmenschen nicht geheim halten. Sie mussten doch erfahren, dass und warum sie nicht mehr so leben konnte, als gäbe es unter der Kuppel nur die Städte, während das Land drum herum als bloße Dekoration in grün und naturhaft diente.

      Wie aber Carlo dazu überreden, jetzt endlich loszufahren? Wäre es nicht doch viel einfacher, ehrlich zu ihm zu sein und ihn einzuweihen?

      Solcher neuerlicher Grübeleien war er zum Glück enthoben worden, als Carlo ihn unvermittelt mit einem Anruf überrascht hatte. „Na, du fauler Hund“, hatte Carlo lachend am Telefon gefragt, „du meinst wohl, ich hätte vergessen, dass bei uns ein Fitness-Folter-Camp fällig wird? Denkste, jetzt wird’s ernst für die müden Sesselfurzer-Knochen. Übermorgen kann es von mir aus losgehen, ich hab schon gebucht. Wir fahren doch mit deinem Auto, oder?“

      „Schon gebucht?“ hatte Adam entgeistert zurückgefragt. „Ich muss dann doch für den Freitag frei nehmen.“

      „Ist das bei dir neuerdings ein Problem?“ Nein, das war es freilich nicht, so weit ging es mit der neuen Bedeutung von Adams freiwilliger Dienstzeit dann doch auf keinen Fall. „Oder meinst du, deine kleine macht Stress? Hey, wenn du willst, kann ich meine Verlobte auf sie ansetzen, dann können die beiden ein Mädels-Wochenende machen und sich tierisch was drauf einbilden, dass sie die geheimsten Geheimnisse über uns beim Preseccochen austauschen.“

      „Nee, lass mal, wird schon gehen.“ Und tatsächlich hatte Stella, von der er Carlo immer noch nicht berichtet hatte, keine Einwände dagegen erhoben, dass er mit Carlo ins Hotel fuhr. Sie hatte ihn sogar dafür gelobt, endlich einmal wieder etwas mit seinem besten Freund zu unternehmen und ihn gemahnt, das nicht zu vernachlässigen. Adam hatte sich geschämt, vor Stella und vor Carlo, dass er noch nicht den Mumm gehabt hatte, Carlo die Wahrheit über seine Beziehung mit Stella zu sagen.

      Und im Handumdrehen war der Abfahrtstag gekommen. Carlo gähnte herzhaft und streckte sich in Adams Auto so gut es ging.

      „Is’ ja echt ne Hammerkarre. Für Teenager und solche, die es noch werden wollen“ maulte er in gespielter Unzufriedenheit. Lästereien über Adams Auto waren für Carlo immer ein zuverlässiger Aufhänger für ein bisschen harmlose Konversation.

      „Und für die, die das mit dem Teenagersein schon hinter sich haben, gibt es ganz bestimmt viel mehr Platz zum Recken und Strecken, wenn sie zu Fuß ins Hotel spazieren“, giftete er zurück, indem er auf Carlos Spielchen einstieg.

      „Adam Bocca, das würdest du doch nicht tun!“ rief Carlo mit theatralischer Empörung. „Du würdest doch deinen al-ler-bes-ten Freund nicht in dieser schrecklichen Wildnis aussetzen.“

      Nein, das würde er ganz sicher nicht, auch wenn Carlo das mit der schrecklichen Wildnis nur spaßhaft gemeint hatte. Aber tatsächlich hatten sie schon vor einer kleinen Weile das Ende der Ausbaustrecke passiert und den Wald erreicht. Bis zum Baumtunnel war es gar nicht mehr weit. Der Aufbruch aufs Land war so plötzlich gekommen, dass Adam sich keinen Plan hatte überlegen können, wie er es mit der Suche nach den Schraten am besten anstellen sollte. Der Weg ins Hotel führte an der Stelle vorbei, wo er sie getroffen hatte, oder wenigstes getroffen zu haben glaubte. Einmal vorausgesetzt, das Aufeinandertreffen hatte überhaupt stattgefunden – und von dieser Hypothese musste er ausgehen, wenn die Suche nach den Schraten einen Sinn haben sollte – dann lag es nahe, dass sie dort im dichten Wald, durch den die Straße führte, lebten. Oder dass sie sich dort wenigstens gelegentlich aufhielten. Das wiederum bedeutete eine gewisse Chance, sie an derselben Stelle wiederzusehen. Vielleicht hatten sie ja doch durch Gesten mit ihm kommuniziert? Setzte Kommunikation nicht ein planvolles Handeln voraus, und war planvolles Handeln nicht von der Fähigkeit abhängig, bereits Geschehenes zu bewerten? Also über ein Gedächtnis nicht nur zu verfügen, sondern das Erinnerte auch zweckmäßig einzusetzen?

      Ein tollkühner Schluss jagte in Adams Gedanken die nächste Überlegung. Wenn er es schaffen könnte, sich von dem Eindruck zu lösen, den ihr Äußeres vermittelte, dann sprach doch einiges gegen die Annahme, dass diese Schrate nur ein Art wilder Tiere mit aufrechtem Gang und einer dem Menschen nur äußerlich ähnlichen Gestalt waren. Und dann war es nicht nur möglich, sondern bei Lichte betrachtet sogar zwingend, dass sie sich an Adams Besuch erinnerten und seinen nächsten Besuch erwarteten. Wo