Tilmann A. Büttner

Adam Bocca im Wald der Rätsel


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Dabei wurden sowohl das Trägerfeld als auch die Trägergleitschuhe so eingestellt, dass die Spieler nur noch kurze, schon nach kurzem Weg wieder verzögerte Schrittchen auf der Fläche machen und keine schnelle Fahrt mehr aufnehmen konnten. Wehe also dem naseweisen Spieler, der das Signal missachtete, mit dem die Gangway-Sequenz rechtzeitig angekündigt wurde, und der sich nicht rechtzeitig in Richtung des Punktes der Spielfläche begab, an den die Gangway gelegt werden sollte: Er musste dann mühsam, und das war dann wirklich körperlich anstrengend, den weiten Weg über die Fläche stapfen, als würde er durch schweren Morast waten.

      Im laufenden Spielbetrieb galt es also, den Pinger gekonnt abzugeben und anzunehmen, nicht nur so schnell wie möglich in die gegnerische Trefferzone zu bugsieren, sondern ihn dort auch durch eigene Spieler zu kontrollieren und ihn im kurzen Passspiel mit viel Übersicht gegen die anstürmenden Verteidiger der anderen Mannschaft abzuschirmen. Äußerlich war der Pinger ein metallisch glänzender, vollkommen runder Ball, der an einen glattpolierte Boccia-Kugel erinnerte. In Wahrheit war der Pinger der komplexeste Bestandteil der Technik, mit deren Einsatz das Squitten überhaupt erst funktionieren konnte. Er enthielt nicht nur einen äußerst leistungsfähigen Rechnerchip, sondern vor allem zwei halbsphärische, hoch empfindliche und rasend schnell ansprechende Elektromagneten. Die hatten eine Doppelfunktion: Zum einen dienten sie als Sensoren für die umgebenden Wechselfelder, nämlich dasjenige der Spielebene und für die weiteren Felder, die durch die Spielstäbe und Spielhelme aufgebaut wurden. Zum anderen konnten die Elektromagneten des Pingers ihrerseits ein Feld aufbauen, mit dem der Pinger beschleunigt und verzögert wurde.

      Das äußerliche Ergebnis der ständigen Aktivität dieser beiden, die Kugelfläche des Pingers vollständig abdeckenden Elektromagneten war verblüffend einfach: Der Pinger wurde automatisch immer wieder in die Spielebene zurückbewegt, gleichviel mit welcher Kraft er nach oben oder nach unten oder über die seitlichen Ränder hinaus aus der Ebene hinaus bewegt wurde. Und er konnte mithilfe der Spielstäbe und -helme so gesteuert werden, dass es aussah, als würde ein Spieler ihn schlagen oder köpfen. Dabei kamen die Spielstäbe und -helme niemals mit dem Pinger in Berührung. Der metallisch-hohe, gongartige Laut, der dem Pinger lautmalerisch seinen Namen gegeben hatte, wurde computergesteuert erzeugt und auf das Spielfeld gestrahlt. Die eigentliche Interaktion des Pingers mit Stäben und Helmen war völlig lautlos. Auch die Stäbe und Helme umgab jeweils ein Wechselfeld, die eine eng begrenzte Reichweite hatten, aber ausreichten, um die Elektromagneten des Pingers zu aktivieren, wenn sie nahe genug an ihn herangeführt wurden. Dann wurde, je nach Bewegung und abhängig von der Programmierung des Spielsystems, der Pinger beschleunigt oder aufgefangen.

      In allen Spielsystemen gängig waren einige wenige Standard-Spielbewegungen: Ein schnelles Zuschlagen auf den Pinger bewirkte natürlich ebenso wie ein ruckartiges Bewegen des Helmes in Richtung des Pingers seine Beschleunigung vom Schläger oder Helm weg. Ein Hin- und Her-Wedeln mit dem Schläger führte dazu, dass der herannahende Pinger gebremst wurde. Kreisförmige Bewegungen des Schlägerkopfes um den Pinger herum fingen ihn schließlich ein und ließen ihn dem Schlägerkopf folgen. Über diese Grundspielzüge hinaus gab es eine beliebig große Anzahl weiterer Varianten, mit denen ein Spielsystem programmiert werden konnte. Grenzen wurden dabei nur durch die Geschicklichkeit und den Ausbildungsstand der Spieler gesetzt. In den Profi-Liegen gab es Dutzende von Steuerungsvarianten, die im laufenden Spiel nicht selten den Eindruck einer geradezu magischen Interaktion zwischen Spieler und Pinger erweckten. Die Amateur-Spielsysteme waren einfacher, bis hin zu den Systemen in den Seniorenligen, die zwar kein kunstvolles Dribbling erlaubten, dafür aber den eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten der betagten Spieler hinreichend Rechnung trugen, um niemanden zu überfordern.

      Selbst die simpelsten Spielsysteme erlaubten freilich eine Variationsbreite an Spielzügen, wie sie ein Ballspiel auf einem physischen vorhandenen festen Untergrund schlicht nicht möglich gewesen wäre. Besonders beliebt war etwa der Pass, bei dem der Pinger am gegnerischen Spieler nicht seitlich oder über ihn hinweg gespielt wurde, sondern unter ihm hindurch. Der Pinger konnte schließlich auch nach unten aus der Spielebene hinaus geschlagen werden, denn er kehrte ja zuverlässig wieder auf die Spielebene zurück. Das Unterspielen eines Gegners war zwar etwas schwieriger abzuschätzen und eröffnete insbesondere ein höheres Risiko: immerhin konnte der Gegner den Pass in einer schnellen Reaktion abfangen, indem er mit dem Schläger unter sich „löffelte“. Aber wenn der Spielzug des Unterspielens gelang, konnte er um so verblüffender wirken. So mancher ungeübter Amateurspieler war schon stehen gelassen worden, wie er sich einer verwirrten Katze ähnlich umsah, die vergeblich eine Maus suchte, die ihr zwischen die Pfoten hindurch entwischt war.

      Ein weiterer für den Erfolg des Squittens ganz entscheidender Vorteil war schließlich der, dass anders als beim echten Ballspiel auch Verletzungen durch den Pinger selbst ausgeschlossen waren. Mit dessen Programmierung waren seine Elektromagneten auch in der Lage, die Nähe des menschlichen Körpers zu detektieren. Raste der Pinger also auf einen nur durch seinen Helm geschützten Spieler zu, dann bremste er zuverlässig vor ihm ab oder wich sogar seiner Bewegung aus. Es war eine beliebte Mutprobe unter kleinen und größeren Jungs – wenngleich natürlich von den Betreuern strengstens verboten und hart geahndet – einen Novizen mit dem Pinger zu beschießen und zu sehen, ob der Proband Nerven genug hatte, auf das Spielsystem zu vertrauen und ohne auszuweichen der heranrasenden Kugel standzuhalten. Passieren konnte dabei nichts.

      Der Squit-Club gleich um die Ecke von Adams Wohnung ist nicht der trendigste der Stadt, aber doch ansprechend und schick aufgemacht und immer ein beliebter Treffpunkt für Leute seines Alters. Freundlich hell ist der große Clubraum eingerichtet. Mit hellem Leder bezogene Lounge-Sessel stehen um niedrige Tischchen, weiter hinten gibt es einen Bistro-Bereich, in dem rund um die Uhr frische Fitness-Menus und -Drinks serviert werden. Es ist an diesem noch frühen Donnerstagnachmittag nicht viel los im Clubraum, etwas zu laut lässt eine Gruppe junger Ökonomie-Studenten die gerade absolvierte Partie Revue passieren. Jeder bemüht sich um einen selbstironischen Ton und will doch zugleich durch die Schilderung eigener scheinbarer Missgeschicke unterstreichen, wie souverän er die kniffligsten Spielsituationen gemeistert hat. Versunken in einen der Clubsessel, den Rücken zu der lärmenden Gruppe, sitzt unser Adam da, gelegentlich dringen Gesprächsfetzen in sein Bewusstsein vor. Im Übrigen starrt er mit düster verkniffener Miene vor sich hin. Darin spiegelt sich nicht etwa Verärgerung, dass Carlo nicht zur verabredeten Zeit erschienen ist und sich wohl – wieder einmal – kräftig verspäten wird. Nein, Adams Gesichtsausdruck zeugt vielmehr von der Anstrengung, mit der er über die Geschehnisse der vergangenen knapp zwei Wochen nachdenkt. Es ist so viel passiert.

      Stella hatte ihn wie einen Schwerkranken in ihre Wohnung aufgenommen, nachdem sie ihn vor ihrem Haus entdeckt hatte. Für einige Zeit hatte er sich einfach gehen lassen und keinen Gedanken daran verschwendet, welchen Eindruck er in seinem Zustand auf sie machte. Dann, vielleicht nach einer halben Stunde, sie saßen wieder bei ihr auf der Couch und er nippte ohne rechtes Interesse an einer Tasse Tee, hatte er sich wieder so weit beruhigt, dass er sich ein wenig vor ihr zu genieren begann. Erst der überstürzte Aufbruch am Abend zuvor, dann sein plötzlich am Telefon mitgeteilter Entschluss, über Nacht im Hotel zu bleiben und dann dieser Auftritt als Nervenbündel. Er wollte Stellas sicherlich großes Verständnis auch nicht ohne Not überfordern. Sie machte es ihm leicht, wieder ruhig zu atmen und eine unverfängliche Plauderei aufzunehmen. Keine einzige Frage stellte sie ihm, umsorgte ihn in sicherem Verständnis für seinen Zustand, und ließ sich nicht die leiseste Neugierde anmerken, als er es endlich über sich brachte, ein paar knappe Sätze mit ihr zu reden. Etwas in der Art, das sei ja schon ein intensives Erlebnis für ein Stadtkind wie ihn, in den Wald zu fahren, so einen Sturm wie letzte Nacht habe er noch nie erlebt, wie ein kleiner Bub fürchten könne man sich da. Das kommentierte sie weder, noch hinterfragte sie es. Sie begegnete ihm stattdessen ihrerseits mit Themen im Plauderton, dass bei dem guten Wetter wahnsinnig viel los sei in der Stadt, er könne von Glück sagen, ohne Stau durchgekommen zu sein; am Strandbad an der Kirna rund um den „Goldenen Erpel“ sei heute bestimmt wieder der Teufel los, und ob er sich denn noch mit seinen Jungs treffen wolle. Solche Dinge. Mehr geschah nicht.

      Bis in die frühen Nachmittagsstunden hinein saßen sie da, plauderten, gingen dann in einem Bistro etwas essen. Ohne sich für ein weiteres Treffen zu verabreden, trennten sie sich vor ihrem Haus, er fuhr heim und legte sich ins Bett, schlief traumlos bis in den Abend.