Tilmann A. Büttner

Adam Bocca im Wald der Rätsel


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hatte sich wieder in die Mitte der Straße gestellt und wechselte die schleudernde „Fahr weiter“-Bewegung mit einer anderen Geste ab, als ob er etwas an sich heranziehen wollte machte er ausladende Bewegungen mit beiden Armen und führte die Hände in weitem Bogen von sich weg und wieder zu sich heran. Immer wieder, immer im Wechsel mit der Bewegung, die ein Weiterfahren bedeuten sollte. Fahr weiter. Komm wieder. Ruckartig brach der Schrat seine Bewegung ab und war mit einem einzigen gewaltigen Sprung aus dem Stand im Wald verschwunden. Was war passiert?

      Das Signal des Verkehrssystems, mit dem es Adam vor Gegenverkehr warnte, lenkte seine Aufmerksamkeit wieder nach vorne. In einiger Entfernung bog ein großes Auto um die Kurve, offenbar auf dem Weg aus der Stadt hinaus zu den Hotels auf dem Land. Davor war der Schrat geflüchtet. Adams Wagen passierte das andere Auto, eine Familie darin. Vater und Mutter vorne, hinten das fröhlich lachende Kinde in einem gewaltigen Kindersitzen angeschnallt, so fuhren sie lachend in ihr gemeinsames Wochenende. Das Kind winkt Adam ausgelassen im Vorüberfahren.

      „Ich muss sie warnen!“ schoss es ihm durch den Kopf. „Nein! Fahrt nicht weiter, nicht da rein! Sie sind viele, können euch anhalten und eure Kinder. Es sind vielleicht doch nur Tiere, gefährliche Tiere, die sich im Wald verstecken!“ Doch er fuhr weiter. Unternahm nichts, in der plötzlichen Überzeugung, dass der Schrat nicht etwa in den Wald gesprungen war, um auf neue Beute zu lauern, sondern weil er von keinen anderen Menschen außer Adam entdeckt werden wollte. Fahr weiter. Komm wieder. „Sie werden euch nichts tun. Es sind bestimmt keine Menschenfresser“, dachte Adam.

      Schnell kam er der Stadt näher, der Wald war verschwunden, die Schnellstraße wurde vierspurig, hinter dem weiten Schilffeld tauchten die Betonblöcke der Nahrungsmittelproduktionen auf. „Es ist alles gut“, dachte Adam, „ich fahre nach Hause, gleich bin ich da, jetzt habe ich die Stadt schon erreicht.“ Mühelos floss der Verkehr nach Kys hinein, Adams Wagen schwamm, gelenkt vom Verkehrssystem, mühelos im Strom der Automassen mit. Die Menschen fuhren in ein tolles Wochenende, zu Grillparties, Treffen mit Freunden, ein paar Superstunden an Orten, an denen man in Kys im Sommer einfach sein musste. Niemand sah Adam weinen. Während ihm die Tränen über die Wangen liefen und Schluchzen ihn schüttelte, gab er eine neue Zieladresse ins Verkehrssystem ein. Fahr weiter. Komm wieder. Das hier – war es noch seine Stadt.

      Er kam ohne Stau durch bis zu Stellas Wohnung. Verweint saß er im Wagen vor ihrem Haus. Wieder stieg ein Schluchzen in ihm auf, er schlug die Hände vors Gesicht. Sie sind da draußen, sie haben mich gesehen und erkannt, mich beruhigt und mir dann gesagt: Fahr weiter. Komm wieder. Ich muss wieder zu ihnen.

      „Adam?“

      Stellas Stimme. Sie stand neben dem geöffneten Fenster.

      „Adam. Komm her.“ Sie öffnete die Tür, er stieg aus. Sie nahm ihn in den Arm, tröstete ihn wie ein Kind, das sich beim Spielen wehgetan hatte. „Adam. Es ist alles gut.“

      Die Stadt bei den Flüssen, 7. Kapitel

      

      Niemand unter der ganzen weiten Kuppel konnte recht erklären, warum jeder in der Paneupinia Squitten liebte. Das Spiel war kompliziert nicht nur in den Regeln, sondern auch in den technischen Bedingungen. Das Spielfeld musste mit einem starken elektromagnetischen Feld zuverlässig versorgt werden und die Trägergleitschuhe mussten sicher funktionieren, damit die Spieler, wenn sie gut vier Meter über dem Boden auf dem Feld entlang glitten, nicht abstürzten. Und dann musste auch der Pinger, der von den Spielstäben und den Spielhelmen der Spieler zielgenau gelenkt werden sollte, präzise mit den Spielstäben und -helmen zusammenwirken, damit ein geschickter Spielzug nicht an einer groben Führung des Pingers scheiterte. Es brauchte ständige Wartung durch ein ganzes Team von Technikern, um ein Squit-Feld in Schuss zu halten, entsprechend teuer war der Sport. Aber jeder liebte das Squitten. Mädchen und Jungen, Männer und Frauen in so gut wie jedem Alter verfolgten nicht nur die Profi-Ligen mit leidenschaftlicher Gebanntheit, sondern sehr viele spielten auch selber in den zahllosen Vereinen und Clubs. Der Grund für diese flächendeckende Begeisterung lag vermutlich darin, dass dieses Spiel – ungeachtet der komplexen technischen Voraussetzungen an einen einwandfrei funktionierenden Spielbetrieb – an die einfachsten spielerischen Instinkte des Menschen appellierte, und dass zugleich eben diese hoch technisierten Rahmenbedingungen gewährleisten, dass grundsätzlich jeder ohne Rücksicht auf seine körperliche Fitness seine Spielinstinkte so erfolgreich ausleben konnte, und ganz leicht ein flüssiger Spielfluss entstand. Gegen eine solche Konkurrenz konnten klassische Sportarten wie Fußball oder Hockey nur schwer bestehen, sie wurden von Freaks und solchen Leuten betrieben, die sich das Squitten beim besten Willen nicht leisten konnten.

      Squitten war nicht nur komfortabel, es war vor allem einfach: Auf dem Spielfeld, genau genommen auf der eben gut vier Meter über dem eigentlichen Boden liegenden Spielebene, ging es darum, den Pinger durch geschickte Kombinationen und Pässe der acht Mitglieder einer Mannschaft in die Trefferzone der gegnerischen Mannschaft zu lenken und dort für einen Zeitraum von fünf Sekunden zu halten. Kombinationen und Pässe wurden meistens in einer umfassenden Bewegung der gesamten Mannschaft ausgeführt. Die Spieler glitten in ihren Trägergleitschuhen auf dem elektromagnetischen Trägerfeld. Ohne eine Bewegung auszuführen, wurden sie an einem Punkt des Feldes in der Schwebe gehalten. Wollten sie sich in Bewegung setzen, mussten sie nur den Fuß über den Innenspann abknicken und ein kleines Stückchen in das Trägerfeld eintauchen. Dadurch wurde mithilfe von intelligent angesteuerten Elektromagneten an der Innenseite der Trägerschuhe eine lokale Störung des Feldes erzeugt, die den Trägergleitschuh und den Spieler darin in die entgegengesetzte Richtung beschleunigten. Besonders athletische Sportler konnten sich zusätzlich auch mit Muskelkraft abstoßen, um eine noch größere Beschleunigung zu erreichen. Diese Technik nutzten etwa alle Profispieler in perfektionierter Weise. Diese Technik war aber nicht notwendig, um auf der Spielebene voranzukommen, und so konnten auch untrainierte oder sehr junge oder sehr alte Spieler auf der Ebene kräftig beschleunigen und vorankommen.

      Auf demselben Mechanismus wie die Beschleunigung funktionierte natürlich auch das Lenken und Bremsen: Durch geschickte Eintauchen des Innenspanns während der Fahrt konnte der Spieler den Trägergleitschuh verzögern und auf diese Weise entweder eine einseitige Bremsung einleiten, um sich nach links oder rechts zu lenken, oder aber kräftig beidseitig bremsen, um die Fahrt insgesamt zu verlangsamen oder völlig zum Stillstand zu bringen. Der Einsatz des Trägergleitschuhs war natürlichen Bewegungsabläufen beim Laufen oder Schwimmen so ähnlich, dass es zwar eines gewissen Trainings bedurfte, um mit Trägergleitschuh nicht nur schweben, sondern auch gleiten zu können, aber jeder auch ansonsten noch so ungeschickte Nachwuchs-Squitter konnte das lernen, und zwar innerhalb so kurzer Zeit, dass Frustrationen gar nicht aufkommen konnten.

      Außerdem konnte sich auch ein äußerst tollpatschiger Anfänger bei seinen ersten Geh- und Gleitversuchen so gut wie niemals verletzen: Weil die Spielebene weit genug über dem physisch-realen Boden lag, blieb ein Sturz garantiert folgenlos. Stürzte ein Spieler, weil er die automatischen Stabilisierungsalgorithmen der Trägergleitschuhe gründlich genug überlistet hatte, geschah nichts anderes, als dass er durchkenterte: In einer schnellen Bewegung drehte sich der Spieler einmal mit dem Kopf voran dem Boden entgegen und wurde wie ein Stehaufmännchen wieder aufgerichtet. Die Trägergleitschuhe waren mit äußerst robuster, absolut absturzsicherer Software darauf programmiert, den Spieler nach seinem Kentern sofort wieder nach oben zu drehen. Und weil die Spielfläche weit genug über dem Boden lag, konnte der arme Trottel mit dem Kopf dem Boden nicht einmal nahe genug kommen, um mit langen Haaren darüber hinweg zu fegen. Auch am Rand der in den meisten Spielstätten vierzig Meter breiten und neunzig Meter langen Spielfläche gab es keine Hindernisse, auf die ein übereifriger oder unachtsamer Spieler hätte prallen können. Das elektromagnetische Feld lag an jedem seiner Ränder wenigstens fünf Meter von den umgebenden Zuschauerrängen entfernt. Außerdem errechneten die Trägergleitschuhe ständig die Position des Spielers auf der Spielebene und bremsten ihn bei einer schnellen Bewegung auf den Rand zu automatisch so weit ab, dass er, am Rande angekommen ebenfalls völlig automatisch sanft gestoppt werden konnte.

      Sollte die Gangway, eine lange Laufplanke, die den Spieler dazu diente, die Spielfläche zu betreten und zu verlassen, in