Tilmann A. Büttner

Adam Bocca im Wald der Rätsel


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auch schon mit dem Kaffee. Adam dankte, biss von seinem Croissant ab und überlegte, ob es sich darüber nachzudenken lohnte, was ihm in der vergangenen Nacht hier passiert war.

      Eigentlich gab es da nicht viel nachzudenken. Er war von einer wunderbaren Frau – seine Freunde und vielleicht auch sein Vater würden Carla wohl in einer Adam widerwärtige Weise eine „erfahrene“ Frau nennen – er war also von dieser wunderbaren Frau, der aus eigener Initiative zu gefallen er keine nennenswerte Hoffnung haben durfte, liebevoll verführt worden. So etwas passierte. Es war ein seltenes und glückliches Erlebnis für einen Mann in Adams Alter, aber es passierte. Die Kumpels aus seiner Clique hatten so etwas wohl kaum erlebt. Adam dachte das ohne jedes Gefühl der Überheblichkeit. Ihm war aber bewusst, dass es für seine Freunde und Bekannten in seinem Alter viel spannender – und vor allem auch einfacher – war, Abenteuer im unbegrenzten virtuellen Raum des Cybersex zu erleben, als sich auf die komplexen Reize einer Frau wie Carla Piyol einzulassen. In der Gesellschaft unter den Kuppeln beherrschte das Gebot immerwährender und immer zufrieden machender Konsummöglichkeit auch das Geschlechtsleben der Menschen. Die schnell und sicher arbeitende Computer- und Netzwerktechnik lud zusammen mit den ausgefeilten technischen Lösungen der mit viel Forschungseifer entwickelten Cybersex-Hardware förmlich dazu ein, sexuelle Genüsse zu einem erheblichen Anteil im Virtuellen zu suchen. Daran war weder ein Geheimnis, noch ein Tabu. Vernünftiger Weise hatte sich schon vor vielen Generationen die Erkenntnis durchgesetzt, dass Cybersex, damals noch in einer aus Sicht von Adams Zeitgenossen ziemlich atavistischen Weise praktiziert, vor allen Gefahren sicheren Schutz bot, den vor allem in ihrem Sexualleben unerfahrene junge Menschen ausgesetzt waren. Die Übertragung schlimmer Krankheiten war ebenso ausgeschlossen wie das noch drastischere Risiko einer zwar sehr seltenen, aber dann um so grausamer verlaufenden spontanen Schwangerschaft der Frau.

      Kein vernünftiger Mann, der einigermaßen gesund im Kopf war, also buchstäblich keiner, höchstens vielleicht ein mit äußerst kaltblütiger Brutalität vorgehender, ja terroristischer Verbrecher, hätte eine echte Sexualpartnerin wissentlich der furchtbaren Gefahr einer spontanen Schwangerschaft ausgesetzt und damit die vielfältigen schrecklichen Komplikationen bewusst verantwortet, die für die Frau in den meisten Fällen einem Todesurteil gleichkamen. Und doch passierten hin und wieder, die Medien berichteten dann recht ausführlich im Tone volksschützender, mitleidiger Anteilnahme darüber, spontane Schwangerschaften, die einfach durch pures Nichtwissen und die grobe Missachtung der simpelsten Verhütungsanweisungen hervorgerufen wurden. Das konnte selbst dem Dümmsten mit Cybersex nicht passieren. Und das trug zur vollständigen Akzeptanz aller marktgängigen Praktiken natürlich ungeheuer bei.

      Hinzu kam, dass nicht nur jeder und jede es tat, sondern auch alle freimütig darüber redeten. Es war ohnehin schon gesellschaftlich verpönt, sich über sein eigenes Sexualleben auszuschweigen, schon ein leichtes Rumdrucksen oder Zögern mochte den Verdacht abartiger Neigungen erwecken, wieso hätte derjenige, der mit Berichten und Erzählungen knauserte, sonst etwas verbergen wollen. Eine Weigerung, über die heißesten und neuesten Erlebnisse im Cybersex zu erzählen, und sei es auch in einer Runde mit kaum bekannten Personen, das wäre mehr als nur unanständig erschienen, es wäre lächerlich gewesen. So in etwa, als mache man ein Geheimnis daraus, in welchen Supermarkt man am liebsten ging. Was wäre denn ein Aspekt gewesen, dessentwegen sauberer und manierlicher, in den eigenen vier Wänden praktizierter Cybersex genierlich hätte sein sollen? Die wohldurchdachten Peripheriegeräte der Sextechnologie garantierten sowohl Frauen als auch Männern den Höhepunkt, wahlweise schnell oder nach längerer Anwendungszeit, alles eine Frage der Software und der gewählten Voreinstellungen. Jedem konnte der virtuelle Sex das bieten, was ihm gerade beliebte, man kann ja auch nicht an jedem Tag an dem immer selben Geschmack finden. Das Angebot an Hardware ebenso wie an Software war schlicht zu groß, als dass man ganz alleine den Überblick hätte behalten können, da war es sogar wichtig, sich im Freundes- und Bekanntenkreis auszutauschen und auf dem Laufenden zu halten. Das Netz bot allein an kostenlosen Downloads eine solche Vielzahl von Anwendungen, mit denen jeder nur erdenkliche Geschmack bedient werden konnte, die aber auch niemand selbst bei semiprofessioneller Beschäftigung mit Cybersex nach Art eines sehr in Anspruch nehmenden Hobbys alle hätte ausprobieren können. Viele der kostenlosen Programme wurden von Firmen gesponsert, sei es im Rahmen von Werbeauftritten auf ihren Homepages, sei es als Zugabe zu ihren Produkten und Dienstleistungen. Der größte Limonadenhersteller in der Paneupinia hatte gerade letztes Jahr für Furore gesorgt mit einer Programmserie „Kunstvolle Verwöhnungen“. Da gab es zu jeder Flasche Limo einen Zugangscode für eine von fünfhundert fantastischen Applikationen voller prickelnder Erfahrungen, wie es wortspielerisch in der Anpreisung sowohl der Limonade als auch der gesponserten Cybersexprogramme hieß. So etwas lag ganz im Trend, jeder machte ihn mit und niemand, abgesehen vielleicht von ein paar total verschüchterten Freaks, die so gar nicht mit anderen Menschen umgehen konnten, vergaß darüber die Bedeutung von echtem Sex mit echten Sexualpartnern. Das war freilich eine ganz andere Kategorie, für die jungen Männer in Adams Alter eine ganz andere Schwierigkeitsklasse.

      Mädchen, junge Frauen, das waren von vornherein einmal ganz fantastischen Geschöpfe, aber eben auch ziemlich komplizierte. Es galt, sich behutsam an sie heran zu wagen und Ausschau nach der zu halten, mit der es möglich wäre, die im Cybersex erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten gewissermaßen in vivo zur Anwendung zu bringen. Das war nicht etwa deshalb schwierig, weil die jungen Frauen sich grundsätzlich geziert hätten, nein, sie hatten ja genau denselben Anteil an dem offenen Umgang mit Sexualität, virtueller und realer, aber in einem unterschied sich ihr gesellschaftlich akzeptierte und praktizierte Rolle stark von derjenigen der jungen Männer: Es wurde von ihnen erwartet, und die allermeisten kamen dieser Erwartung nur zu gerne nach, dass sie anspruchsvoll waren und das ihre sie umschwärmenden Verehrer auch deutlich merken ließen. Anspruchsvoll nämlich in jeder Hinsicht: Auf seinen allerersten Kontaktversuch reagierte sie vorzugsweise mit einer Anteilnahme kurz unterhalb kühlen Ignorierens. Das hatte er gefälligst sportlich zu nehmen, verlegen durfte es ihn freilich machen, aber er sollte bitteschön nicht meinen, er hätte sich nun genug bemüht und wenn sie nicht wolle, sei das nicht sein Problem. Nahm er es in dieser Weise auf, und das kam ja durchaus vor, dann war er schon im ersten Stadium der Prüfung durchgefallen. Ernst zu nehmende Kandidaten machten einen weiteren Anlauf, der dann immerhin mit so etwas wie einer kurzen Entgegnung belohnt wurde, und in weiteren Anläufen konnte er dann darauf hoffen, dass sie sich einladen und ausführen ließ, er ihr Geschenke und Aufmerksamkeiten zukommen lassen durfte, die sie mit mehr und mehr Zuwendung entgalt. Ab einem solchen Punkt bedurfte es für ihn auch keines großen Ideenreichtums mehr, um an sein Ziel zu gelangen, will heißen: eine wenigstens kurze Beziehungen einschließlich gutem und gerade in der ersten Zeit heftigem Sex, das ergab sich vielmehr wie von selbst, wenn er nur am Ball blieb und nicht zu früh meinte, ihr die Initiative überlassen zu können. Dass umgekehrt sie das Geschehen lenkte und antrieb, sie ihn gar gezielt verführte, es war demgegenüber schon möglich, aber eben außergewöhnlich. Und ein Abenteuer, wie Adam es die Nacht zuvor mit Carla Piyol erlebt hatte, das war ebenso wenig weder undenkbar noch anstößig. Derlei Romanzen eines jungen Mannes mit einer Frau, die älter als er selber war, waren Gegenstand manche erotischer Bücher und Filme. Aber dass so etwas im echten Leben passierte war nun einmal so wahrscheinlich, wie es eben unwahrscheinlich war, in der Handlung eines Films zu leben. Also ein unerhörter Glücksfall, und nun hatte ein eben solcher Glücksfall unseren guten Adam getroffen.

      Wie er in der steigenden Morgensonne saß, behaglich erkennend, dass der Oberkellner den schlichten Café Crème im Gegensatz zu den am Nachmittag zuvor servierten Kaffeemischkreationen wirklich beherrschte, da gelangte er schnell zu der Überzeugung, dass es wahrhaftig keinen Anlass gab, über dieses fantastische Abenteuer in Carla Piyols Armen nachzudenken. Das wäre töricht gewesen, ein so wertvolles Erlebnis in rationelle Scheibchen zu zerschneiden und sie nach vermeintlich objektiven Maßstäben aufzuwiegen und zu vermessen und über ihre Bedeutung vernünftelnd zu urteilen. Ihre Anweisung, einfach nicht nachzudenken, war im richtigen Augenblick gesprochen und stimmte voll und ganz. Sie hatte auch jetzt noch Gültigkeit. Und entgegen allen Konventionen, von denen er genauso stark geprägt war wie seine Zeit- und Altersgenossen, fasste er im selben Augenblick den festen Entschluss, auch mit niemandem jemals über die vergangene Nacht zu reden. Weniger aus Rücksicht auf Carla, die ja offensichtlich gar kein Geheimnis daraus machen wollte, sondern vor allem, um eine zergliedernde Betrachtung auch