Tilmann A. Büttner

Adam Bocca im Wald der Rätsel


Скачать книгу

sie stehen, nahe genug, um ihn mit ihren langen dünnen Armen zu ergreifen, zu würgen und zu zerren. Da kommen sie schon, vielleicht in einer großen Schar aus dem Wald, umringen das verwundbar ruhig dastehende Auto. Weiter und weiter drehte er sich in namenloser Angst nach vorne, schloss die Augen und kniff sie zusammen, dann war sein Kopf nach vorne gewandt, in einem verzweifelten Mut öffnete er die Augen wieder – leer lag die Straße vor ihm. Eng gesäumt von den nach oben im Blätterdach aufgehenden Bäumen führte sie offen und unversperrt auf die nächste Kurve zu, hinter der, das wusste er als lebensrettende Gewissheit, es wieder hinausgehen würde. Nach links hin würde der Wald zurücktreten und dann wäre da der Abhang, der zu einer dünnen Baumreihe zum Fluss hinunterführte. Mit fliegenden Händen ergriff Adam Lenkrad und Fahrschalter. Unter neuerlichem Protest des Verkehrssystems schoss das Auto so heftig nach vorne, dass er durch die Beschleunigung in den Sitz gepresst wurde. Das Verkehrssystem bremste ihn vor der Kurve auf die Höchstgeschwindigkeit ab, eine langgezogene Kurve, da war die Kante des Schattens zu sehen, die das Blätterdach warf, und an der die sonnenbeschienene Fahrbahn begann, jetzt, ja jetzt war er schon heraus, geschafft!

      In der hellen Sonne, die durch die offenen Seitenfenster flutete und das Dach des Wagens sofort aufzuheizen begann, überliefen Adam Kälteschauer und schüttelten ihn in kurzen Anfällen, bis seine Hände wie im Fieber geschüttelt wurden. Die zitternde Bewegung übertrug sich auf das Lenkrad, er hielt es mit vor Anspannung weißen Fingern fest umklammert, und der Wagen geriet ins Schlingern. Er bremste wieder ab. Atme, atme, atme feuerte er sich an, den Schrecken ausatmen und den Lebensmut der hellen und warmen Sonn einatmen, den bösen Brodem des Waldes da hinter sich austauschen gegen frische Luft. Er schnappte hektisch nach Luft und hielt sich angestrengt zu ruhigen, tiefen Luftzügen an, Mühe bereitete es ihm, um die nächste, wieder sehr sanfte Kurve herumzusteuern, Vorsicht!, jetzt war er doch sogar auf die Gegenfahrbahn geraten, Vorsicht, jetzt bloß nicht verrückt werden und einen Unfall bauen, hier kann dir so schnell keiner helfen, die Stadt ist noch weit, so bald kommt hier keiner entlang, eher sind die Kreaturen des Waldes, nein, nicht daran denken, atmen, ruhig atmen. Die Kurve war geschafft, behutsam wie ein Fahranfänger steuerte er den Wagen auf eine längere Gerade, atmete ruhiger. Da lockert sich endlich der Knoten beklommener Angst, der sich um seine Brust geschlungen hatte. Es war ja vorbei, geschehen und überstanden. Entspannt sank er tiefer in den Fahrersitz, lenkte mit der linken Hand, mit der offenen Innenseite der Rechten strich er sich über das Gesicht und meinte zu spüren, wie sich das Gesehene wegwischen ließ. Vorbei, vorbei, vergessen.

      Als er wieder bewusst nach vorne auf die Straße sah, standen sie da. Mitten auf der Fahrbahn, eine Gruppe von vielleicht einem Dutzend. Wie sie dorthin gelangt waren, hatte er nicht gesehen. Als wären sie auf die Straße gezaubert worden, waren sie in einem einzigen Augenblick aufgetaucht. Er bemerkte sie, noch bevor das Verkehrssystem anschlug, das freilich nach weniger als einer halben Sekunde das Hindernis auf dem Weg erkannte ein klingelndes Warnsignal abgab, und, um die Kollision so gut es ging zu verhindern, eine maximale Vollbremsung einleitete. Mit durchgedrückten Armen stemmte Adam sich gegen das Lenkrad, presste den Oberkörper zurück in den Sitz und fing die enorme Wucht der Verzögerung mit angespanntem Nacken auf. Lautlos, das Verkehrssystem verhinderte ein Blockieren der Räder, kam das Auto zum stehen, überflüssiger Weise nahm Adam noch wahr, dass das Verkehrssystem den Abstand zum Hindernis mit noch exakt 8,3 Metern angab, zusammen mit der Meldung, dass alle Fahrzeugsystem einwandfrei funktionierten. Na, herzlichen Glückwunsch!

      Dafür hatte er es jetzt nicht nur mit einer der Gestalten zu tun, sondern mit einem ganzen Trupp. Als hätten sie an dieser Stelle schon die ganze Zeit über auf ihn gewartet, waren sie ihm offen zugewandt, standen in unregelmäßiger Ordnung teils nebeneinander, teils in zwei oder drei Reihen hintereinander auf der Straße, die Köpfe ihn seine Richtung gedreht. Aus kreisrunden, in ihrer ganzen Fläche schwarzgrünen Augen, trübe wie ein mooriger Tümpel, starrte sie ihn an, fixierten ihn, wenngleich er keine Pupillen ausmachen konnte. Behaart waren sie am ganzen Körper, das war in der hellen Sonne nicht zu übersehen. Überall waren sie bedeckt mit einem dichten und langhaarigen, pelzartig dichten Fell, struppig und stumpf, bei vielen von ihnen stand es klumpig verfilzt ab. Die ganz Gruppe stand in der gleichen Pose da, gerade aufgerichtet, die langen, bis zur Mitte der Beine reichenden Arme regungslos an den Seiten. Hier im Hellen konnte Adam gut genug sehen, um erstmals Notiz zu nehmen von ihren unförmigen und großen Händen, unförmige Klumpen mit riesenhaften, dicht behaarten Handflächen, an denen, über knotige Gelenke verbunden, stummelartige Finger hingen. Am Ende der Finger: schmutzig schwarze Fingernägel, oder besser: Krallen, gut zwei Drittel so lang wie die ebenfalls von Fell überwucherten Finger selber.

      Adam presste sich immer noch mit zunehmend schmerzenden, durchgedrückten Armen nach hinten, als könnte er einen rettenden Abstand von den Gestalten vor sich gewinnen. Dann wurde er sich schlagartig bewusst, dass jetzt alles von ihnen abhing, dass er ihnen nicht entkommen konnte, wenn sie ihn nicht entkommen lassen wollten. Sie versperrten den Weg, waren allesamt so groß, dass ein durchschnittlicher aufrecht stehender Erwachsenen ihnen allenfalls bis zur Brust reichte. Jeder von ihnen hatte kräftig wirkende Glieder, manche eher schlank und muskulös, andere massig und schwer. Da gab es keine Chance, mit dem Auto durchbrechen zu wollen, er käme an ihnen nicht vorbei. Schon zu dritt wären sie ihm gründlich überlegen gewesen, aber es waren ja viel mehr. Es würde jetzt das geschehen, was sie geschehen lassen wollten, davon war Adam überzeugt. Er ließ das Lenkrad los, ließ die Arme erschöpft sinken. Er hoffte, gefasst abwarten zu können, was die Lebewesen nun tun würden.

      Schnell war es mit seinem kurzen Anflug von Mut dabei. Denn – da! – jetzt lösten sich drei der Lebewesen von der Gruppe, kamen mit sehr langsamen und seltsam federnden Schritten auf das Auto zu. Adams Blick fiel auf die Mitte ihrer Beine, eine Art Kniegelenk schien so etwas wie einen Oberschenkel mit einem Unterschenkel zu verbinden. Aber das Knie wies nach hinten und Ober- und Unterschenkel knickten beim Gang der Lebewesen in einem starken Winkel ein, daher das federnde Auf und Ab. Im Inneren Winkel der Beuge zwischen Ober- und Unterschenkel war ein Strang aus Sehnen und Muskel sichtbar, eine dickes Paket kräftiger Verbindungen, die den Eindruck machten, als verliehen sie den Lebewesen gewaltige Sprungkraft. Doch sie kamen nicht angesprungen, ganz langsam, zögernd vorsichtig näherten sie sich dem Auto an. Ihren Gesichtern, auch diese mit Fell bedeckt, einem allerdings kürzeren und helleren Fell, war eine Mimik nicht zu entnehmen, ein breite und platte Nase ging in einen nach Art eines Katzenmauls vorspringenden Mund über. Adam konnte nicht ausmachen, ob die Lebewesen Neugierde empfanden oder Überraschung oder gar Furcht vor dem Auto, dessen Systeme im Ruhezustand keinen Laut abgaben. Oh nein, die Seitenfenster, warum nur hatte er die Seitenfenster nicht geschlossen, schoss es Adam durch den Kopf. Sie brauchen mich nur durch die Türen hindurch zu packen, um mich aus dem Auto zu zerren. Er verkrallte sich in den Rändern des Sitzes und bemerkte, wie sich die Haare auf seinem Kopf aufrichteten, ihm buchstäblich zu Berge standen. Eines der drei Lebewesen blieb vor dem Auto stehen, eines ging zur Fahrertür, das dritte zur Beifahrertür. Dann hielten alle drei inne.

      Für eine Zeitdauer, die Adam wie eine Ewigkeit vorkam, geschah gar nichts. Er schaute die Lebewesen an, sah nach links und rechts zu den an den Türen stehenden Mitgliedern der Gruppe, dann wieder nach vorne. Sogar das Vogelgezwitscher, jetzt von keinen anderen Geräuschen übertönt, drang in sein Bewusstsein. Er dachte gar nichts, sein Kopf war vollkommen leer, oder genauer gesagt nicht leer, sondern voll quälender Erwartung dessen was geschehen würde, und diese Empfindung verdrängte jeden fassbaren Gedanken.

      „Sie werden mir nichts tun“, ging es ihm schließlich durch den Kopf, „sie werden mir nichts tun, sonst hätten sie es schon getan. Das sind nur Tiere, die in ihren Handlungen von Instinkten geleitet werden. Wenn ihre Instinkte ihnen befohlen hätten mich anzugreifen, dann hätten sie mich längst erledigt. Sie sind mir vollkommen überlegen, ich bin ihnen ausgeliefert. Sie wollen mir nichts tun, sie wollen mich bloß anschauen, mich näher betrachten.“ War da nicht auch ein neugieriges Forschen in ihrer Gestik und Mimik? Nein, das redete er sich jetzt natürlich nur ein, die Lebewesen standen ganz still da, ohne erkennbare Regung, die auf ihr Wollen oder Empfinden hätte schließen lassen. Trotzdem wuchs in ihm mit jeder Sekunde die Gewissheit, von den Gestalten nichts befürchten zu müssen. Das half ihm, ruhig zu bleiben, als jetzt das Lebewesen vor dem Auto anfing, beide Arme zu heben. Langsam hob es die Arme mit nach oben offenen Handflächen in einer Bewegung von innen nach außen, hob die