Tilmann A. Büttner

Adam Bocca im Wald der Rätsel


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sie einen alten 3D-Film im Bezahlfernsehen, futterten Instant-Essen aus Tüten, saßen schließlich Arm in Arm auf dem Sofa und sagten und taten auch lange nach Ende des Films nichts. Sie sprachen auch nicht viel, als Stella zu Bett ging und Adam ihr folgte. Eer übernachtete bei ihr, aber sie schliefen nicht miteinander. Als sie am nächsten Morgen nebeneinander aufwachten, nahmen sie sich wieder in den Arm und küssten sich lange. Mehr war da nicht. Kein erregt gehauchtes Wort der Erklärung, keine Liebesschwüre. Sie küssten sich viele Male und schliefen dann wieder ein.

      Seitdem waren sie ein Paar mit einem merkwürdigen Geheimnis. Sie lebten eine Beziehung, die keine Geburtsstunde gehabt hatte, sondern schon gealtert auf die Welt gekommen war. In stillschweigender Übereinstimmung harmonierten sie miteinander, meistenteils völlig wortlos. Leise, alltägliche Zärtlichkeiten tauschten sie aus, wenn sie sich täglich sahen. Sie übernachteten nicht jede Nacht miteinander, hatten keinen Sex und schon deshalb erzählten sie kaum ihren Freunden und Bekannten vom Anderen und von ihrer Beziehung. Unweigerlich wäre die erste Frage gewesen, wie es denn im Bett laufe, das wollten sie nicht. Nicht, weil sie sich genierten, sondern weil sie verrückt genug waren, sich eine solche Frage nicht gefallen lassen zu wollen. Weil sie über ihre Beziehung miteinander kein Wort verloren, überlegten sie auch nicht gemeinsam, ob das eine abnormale, irgendwie perverse Art war, in der sie miteinander umgingen. Sie dachten aber auch jeder für sich nicht darüber nach.

      Adam wusste: Stella ist da, so wie er für sie da war. Aber Dasein füreinander bedeutete für ihn Sicht nicht, dass sie ihm nun eine Änderung ihres Lebens schuldete, jedenfalls noch nicht. Sie hatten sich kennen gelernt, er hatte sie lieben gelernt und lernte es immer noch. Stella würde ihm alles geben, was er sich wünschte, das spürte er. Aber er wollte nicht mehr nehmen, als es ihm seine Empfindung für sie gebot. Diese Empfindung war zur Liebe geworden, einem keimenden und behutsam wachsenden Gewächs zärtlicher Liebe. Er hatte keine Eile, ebenso wenig wie sie, an einer wachsenden Pflanze zu zerren, auf dass sie um so schneller größer würde.

      Wurde ihm mit jedem Tag Stellas Dasein gewisser, so wuchsen im gleichen Maße die Zweifel an dem, was er dort im Wald gesehen und erlebt hatte. Wie hätte er mit jemandem über sein Erlebnis reden können, wenn er doch selber die Bilder aus dem Wald immer undeutlicher vor Augen hatte? Es waren nicht die von ihm an den Gestalten der Schrate wahrgenommenen Details die schwanden, sondern es verblasste die Erinnerung daran, wie real sein Aufeinandertreffen mit diesen Kreaturen gewesen war. Die Verbindungsstellen zwischen der unzweifelhaft echten Welt und dem Geschehnis auf der Straße im Wald, kurz nach dem Ausgang aus dem Laubtunnel, wurden dünner. Hatten tatsächlich Vögel gezwitschert? Wie hatte das geklungen? War es angenehm warm gewesen, oder kühl wie im Baumtunnel selber, oder sogar heiß? Und hatte das Unterhaltungssystem noch gedudelt, hatte die synthetischen Klänge in den Wald hinein gequäkt? Alle diese Verknüpfungen zwischen der echten Welt und der unwirklichen Erscheinung der Schrate, drohten sich aufzulösen, und die Erinnerung geriet mehr und mehr nach Art eines Traumes. Eines Traumes freilich, unter dessen starkem Eindruck Adams Denken und Fühlen immer noch stand. Aber wie es solchen starken Träumen eigen ist, verblassten die Einzelheiten des Geschehens mehr und mehr. Oder besser: sie versanken in dunklen, nicht mehr mit dem Verstand auszuleuchtenden Flecken der Erinnerung. Wie viele Schrate waren das gewesen? Hatte er sie nicht sogar in seinem Schrecken durchgezählt? Auf welche Zahl genau war er denn noch gekommen?

      Mit den dunklen Flecken seiner Erinnerung wuchs sein Misstrauen gegenüber der Wirklichkeit. Das war jetzt noch keine zwei Wochen her und die Begegnung war für ihn als Erlebnis grell genug. Diese Begegnung hätte sich doch in überscharfer Deutlichkeit in seine Erinnerung einbrennen müssen. Wieso schliffen die Kanten des Geschehens so schnell ab, wurde sogar sein Urteil unsicher, ob das, woran er sich denn noch erinnerte, tatsächlich geschehen war? Wie ein ziehender Schmerz, sanft, aber unablässig, wirkte Unbehagen in seinem Körper. Begleitet von einem ebenfalls schmerzhaften Pochen: der im Einzelnen vagen, in der Bedeutung aber klaren Erinnerung an die Aufforderung der Schrate, er solle wiederkommen. Komm wieder.

      Ob er den Verstand verlor? Schrittweise, als wenn ihm nach und nach alle Glieder seiner Finger abstarben, verfaulten und abfielen? Was sich da draußen im Wald ereignet hatte – wenn es sich denn ereignet hatte – lag jenseits der Zusammenhänge, die zu verstehen Adams Verstand geschult war. Seine ganze Ausbildung und Sozialisierung war – wie bei allen seinen Zeitgenossen – daran orientiert, Zusammenhänge, durchaus auch sehr komplexe Zusammenhänge, unter einem gewissermaßen technologischen Blickwinkel zu erfassen und zu begreifen. Sein Denken bewegte sich auf der Grundlage, dass für grundsätzlich jedes Problem eine Lösung durch Anwendung der passenden Technologie gefunden werden konnte. Eine praktische Grenze gab es immer nur dort, wo eine Lösung zu hohen Einsatz von Ressourcen gekostet hätte, die Lösung also schlimmere Folgen als das Problem selber gehabt hätte. Echten Mangel an Ressourcen gab es unter den Kuppeln freilich nur in seltenen Konstellationen, und deswegen war diese gedankliche Grundlage der Problemlösung eine im Wesentlichen optimistische. Daraus folgte zugleich ein gedanklicher Ansatz, der alle Reflexionen zu welcher Frage auch immer vollständig durchdrang – von der Frage der globalen Energieversorgung bis zur Linderung von Liebeskummer: Jede Problemstellung konnte ausgedrückt werden in technologische Zusammenhänge. Die kleinste gedankliche Einheit aus der sich auch das intrikateste Problem im Kern schließlich zusammensetzte, war der Wenn-dann-Zusammenhang. Der erlaubte sowohl die Analyse des Problems als auch die Synthese der Lösung. Aus der Umkehrung des Wenn-dann-Zusammenhangs im Kern des Problems folgte sein Lösung. Das Wenn als Voraussetzung des dann eintretenden Problems wurde beseitigt, und damit das Problem als Folge seiner Voraussetzung. So einfach war das.

      Squitten zum Beispiel: Ohne den universellen technologischen Blickwinkel hätte das Spiel leicht überkompliziert und unübersichtlich, im Ergebnis also wenig attraktiv erscheinen können. Es bedurfte des tiefen Vertrauens darauf, dass kein Bewegungsablauf der beiden Mannschaften in der Jagd auf den Pinger zu komplex sein konnte, dass sich jede Spielkonstellation in eine beliebig große, aber jedenfalls endliche Zahl von Wenn-dann-Zusammenhängen auflösen ließ. Dadurch war dieser im Gesamtbild so beängstigend verwickelt erscheinende Bewegungsablauf lediglich die Summe vieler sehr einfacher Zusammenhänge und ihres Aufeinanderfolgens und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit. Mit diesem Vertrauen verlor die Komplexität des Spiels jeden Schrecken. Es war seinem Wesen nach nichts anderes als das Spiel eines wenige Monate alten Kleinkindes mit einem kleinen Stoffknäuel: Bewegen, innehalten in einem dynamischen Zusammenhang, beschleunigen, abbremsen. Wirklich ganz einfach, etwas schneller eben.

      Aber in der Begegnung mit den Schraten war Adam ganz alleine gelassen. Eine kühle Betrachtung wie bei Auffindung einer verlässlichen Technologie nutzte da nichts. Schon der einfachste und denkbar existentiellste Wenn-dann-Zusammenhang war im Ergebnis ungewiss: Wenn er aus dem Auto ausgestiegen wäre, hätten die Lebewesen aus dem Wald ihn dann noch gewähren lassen? Oder wären sie mit schnellen, weiten Sprüngen über ihn hergefallen, hätten ihre langen Krallen in sein Fleisch geschlagen und es bis auf die Knochen heruntergerissen? Wenn er nur für den Bruchteil einer Tausendstelsekunde später auf die Bremse gestiegen wäre und einen aus der Gruppe angefahren hätte, hätten sie dann nicht blutige Rache an ihm genommen? Wenn sie ihm nachts aufgelauert hätten, und er sich nicht Gesten mit ihnen hätte austauschen können, wäre ihm die rettende Geste der Beschwichtigung aufgefallen, die schließlich die Rettung bedeutete?

      Schon diese Fragen wären geeignet gewesen, Adams rauschende Gedanken in einem ausweglosen Karussell gefangen zu halten. Um ein Vielfaches qualvoller wurde es für ihn durch den Zweifel, ob dieses Erlebnis, über dessen hypothetischen alternativen Verlauf er sich bis ans Ende seiner Tage den Kopf würde zerbrechen können, ob also dieses Erlebnis überhaupt real geschehen war. Waren da draußen diese Schrat-artigen Wesen? Und hatten sie ihn tatsächlich angehalten und in Augenschein genommen und ihn dann mit der Aufforderung weiterfahren lassen, wiederzukommen? Gab es neben der erklärbaren, durch gehörige Anstrengung des Verstandes in jedem Winkel zu enträtselnden Welt der Stadt noch eine andere und schon im Einfachsten unerklärliche Welt der Wälder, Flüsse und Hügel?

      Schnell wurde es Adam bewusst, dass er sich nur auf eine Weise aus dem quälenden Ringen mit seiner Erinnerung würde lösen und Gewissheit erlangen können: Er musste wieder dort hin, musste zurückkehren und noch einmal den Schraten gegenüberstehen. Das versprach natürlich nur für den Fall eine sichere Lösung