Tilmann A. Büttner

Adam Bocca im Wald der Rätsel


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musste die Stelle kommen. Ja, richtig, das war die langgestreckte Kurve aus der heraus ihm damals das Auto mit der Familie entgegengekommen war. Dahinter lag die Gerade, auf der die Gruppe der Schrate gestanden hatte. Da, jetzt konnte er die Strecke überblicken. Adam spürte in sich plötzlich den dringenden Wunsch, die Schrate wiederzusehen. Er war in die Vorstellung eingetaucht, dass es vernünftige und zum sozialen Miteinander fähige Wesen waren, die ihn höflich um eine Kontaktaufnahme baten. Die Vorstellung, sie könnten in dieser Sekunde mit einem großen Satz auf die Straße springen und vor dem Auto Aufstellung einnehmen, das war doch eigentlich nichts, was ihm Angst machen müsste. Zur Begrüßung würde er die Geste der Beschwichtigung machen, dann ergäbe sich in einer Art Gebärdensprache der weitere Austausch.

      Da durchfuhr ihn mit eiskalter Angst ein neuer Gedanke. Hastig warf er einen Blick auf den in den Beifahrersitz gefläzten Carlo. Wie würde der auf die Wesen reagieren? Und welche Reaktion würde er bei ihnen auslösen? Auch unter der Voraussetzung, dass die Schrate intelligent waren – konnte er denn davon ausgehen, dass sie Carlo dulden würden? Sie hatten sich bislang offenbar nur ihm offenbart. Wie, wenn das genau ihrer Absicht entsprach und ihnen daran gelegen war, sich vor anderen Menschen zu verstecken? So wie der letzte auf der Straße verbliebene Schrat sich schleunigst vor dem Auto mit der Familie versteckt hatte? Würden sie es als Bedrohung oder wenigstens als Grenzüberschreitung auffassen, wenn Carlo, der sich in seinem Schrecken womöglich ungeschickt verhielte, plötzlich auftauchte? Das waren auf jeden Fall Kreaturen, die im Wald überleben konnten und über gefährliche Körperkräfte verfügten. Selbst wenn sie nur einem Missverständnis unterlägen, könnte das plötzliche Erscheinen eines anderen Menschen an Adams Seite sie zur Aggression reizen. Das begriff er jetzt und bedauerte seinen Entschluss, eigenmächtig Carlo mit hineingezogen zu haben. Was sollte nur passieren, wenn sie jetzt aus dem Wald sprangen, eine ganze Horde, und bei Carlos Anblick über das Auto herfielen? Auch zu zweit hätten sie gegen die vermutlich immensen Kräfte und ganz gewiss langen scharfen Krallen der Schrate keine Chance.

      Da, da bewegte sich doch etwas am Waldesrand! Da wurden doch Äste auseinandergebogen! Gleich, gleich sind sie da – nein, es war doch nur eine Windböe, die vom herannahenden Gewittersturm zeugte und die Bäume raufte. Da war nichts. Jetzt um die Kurve und hinein in den Laubtunnel. Hatten sie wieder eine. Späher aufgestellt, um ihn abzupassen. Würde der Carlo schon im fahrenden Auto erkennen und seine Artgenossen warnen können?

      „Boah,“ brummte Carlo „finster wie im Bärenarsch hier. Ist das…, sag mal ist das...“

      „Was denn?!?“ fuhr Adam ihn nervös an.

      „Nichts, ich wollte nur fragen, ob das hier so angelegt ist? Oder wächst so ein Wald von selber in so einer verrückten Form?“

      „Weiß ich doch nicht“ zischte Adam. Und dann versöhnlicher: „Müssen wir mal im Hotel fragen, habe ich mir das letzte Mal auch schon überlegt. Ich glaube die im Hotel kennen sich ganz gut in der Gegend aus.“

      Damit war Carlo zufriedengestellt. Er richtete sich im Sitz auf, beugte sich zur Mittelkonsole und fing dort an, am Unterhaltungssystem herumzufummeln.

      „Nicht!“ presste Adam hervor.

      „Was? Wieso denn nicht?“

      Adam starrte in den Tunnel hinaus. Unruhig wanderte sein Blick immer wieder die Straßenränder entlang. Wo war nur der verdammte Späher? Rauskommen sollten sie und sich zeigen, verdammt. Was sollte denn dieses Spielchen?

      „Was ist denn los?“ fragte Carlo mit dem Ton echter Besorgnis in der Stimme.

      „Nix, schon gut.“ Adam schluckte. „Ich krieg nur Kopfweh von diesem Scheißwetter.“ Das mit dem Kopfweh stimmte jetzt immerhin.

      „Geht’s dir nicht gut? Sollen wir lieber umkehren?“

      „Nein! Nein, nein, nicht nötig, geht schon wieder vorbei, wir können ja mit dem Sport draußen anfangen und ein bisschen spazieren gehen. Was meinst du?“

      „Spazieren? Jetzt? Hast wohl Lust auf ’ne original Landluft-Naturdusche? Hast du gesehen, wie wir da in die Gewitterwolken reinfahren? Das geht bestimmt gleich los. Vorsicht! Da vorn!“

      Adam fuhr der Schreck durch die Glieder. Jetzt waren sie da!

      „Vorsicht!“ wiederholte Carlo in aller Ruhe „Da kommt ’ne megamäßige Kurve und ich weiß nicht, ob dieses Kinderspielzeug von Verkehrssystem deine Karre da sauber rumkriegt. Mach mal lieber langsamer. Oder noch besser: Kauf dir ein anständiges Auto.“

      Sie erreichten die Kurve, Carlos Sticheleien waren wieder einmal völlig haltlos. Das Verkehrssystem bremste sie sicher ab und führte sie ohne auch nur das leiseste Schlingern aus dem Tunnel heraus. Nach rechts hin öffnete sich das Tal, die Weidenbäume ließen ihr bereits regennasses Laub hängen.

      „Gar nicht so übel“ urteilte Carlo, „man könnte fast sagen: hübsch, hübsch. Wenn man auf so’n Landromantik-Gedöns steht, heißt das.“

      Carlos gelangweiltes Interesse an der Umgebung reizte Adam in seiner Nervosität. Wenn der Kerl gewusst hätte! Das hatte hier nichts mir Landromantik-Gedöns zu tun, und es war bestimmt nicht der Ort, um die lässige Überlegenheit des abgeklärten Bürgers einer so großen Stadt wie Kys zu demonstrieren. Das war nicht etwa eine einfach besonders groß dimensionierte Spielart eines gepflegten Parks, eingerichtet und unterhalten zum Freizeitvergnügen der Menschen, die sich ihre Umgebung ganz in ihrem Sinne nutzbar zu machen verstanden. Hier draußen, ja, schon hier draußen stieß die vermeintlich überall gültige zivilisatorische Kultur an ihre Grenzen. Adam umklammerte das Lenkrad, er spürte wieder die Wut gegen Carlos Ignoranz in sich aufsteigen, die ihn vielleicht endlich dazu treiben würde, Carlo die Wahrheit zu sagen. Nein, noch nicht. Jetzt erst recht nicht mehr, wo sie doch durch den Wald hindurch waren, ohne auf die Schrate zu treffen. Welchen Grund sollte Carlo haben, an Wesen zu glauben, die angeblich diesen Wald bevölkerten, und in dem sie doch nicht zu finden waren? Und welches Recht konnte er beanspruchen, Carlo der Ignoranz zu zeihen, wenn er ihm doch gar keine Chance gab, sich mit dem auseinander zu setzen, was er selber erlebt hatte – oder wenigstens erlebt zu haben glaubte, fest glaubte? Er musste seine Entscheidung durchhalten, Carlo zunächst nicht einzuweihen und ihn in Unkenntnis von der Gefahr derselben auszusetzen. Dann durfte er ihm gerechter Weise auch keinen Vorwurf aus seiner Unbedarftheit machen, die Adam kraft seines überlegenen Wissens für Naivität ansehen musste.

      „Tja, ‚hübsch, hübsch‘ trifft es wohl“, meinte er deshalb versöhnlich, „aber keine Angst, das Hotel ist echt in Ordnung und ist gar nicht piefig. Es ist genau so modern eingerichtet wie unser Sportzentrum, und hat man viel mehr Platz und es ist längst nicht so überlaufen.“

      „Eins A“ gähnte Carlo und streckte und rechte sich wieder.

      Während des Wochenendes verwandte Adam dann keinen Gedanken darauf, wann und auf welche Weise er Carlo einweihen sollte. Sie waren von Carla Piyol herzlich empfangen worden, die sich freilich nichts anmerken ließ.

      „Schön, Sie so bald wiederzusehen“ hatte sie die beiden verbindlich angelächelt, „und immer in charmanter Begleitung. Obwohl sie ihre letzte Begleitung charmanter gefunden haben dürften.“

      „Hö hö, Stammgast, wie?“ hatte Carlo den älteren Bruder gespielt. Dann hatten sie ihre Zimmer bezogen und sich sofort in die Sportklamotten geworfen für eine erste Runde Magno-Sqash. Mit einem ehrgeizigen Programm aus Sport und Massagen, angestrengt gutem Essen und Fachsimpeleien über das Squitten verbrachten sie die Zeit bis Montagmorgen. Es fiel Adam in Carlos Gesellschaft nicht schwer, alles auszublenden, womit er sich in den vergangenen Wochenenden beschäftigt hatte. Die Schrate beschäftigten ihn ebenso wenig wie ein Gedanke an Stella. Abends telefonierte er kurz mit ihr, sagte ihr etwas Nettes und erzählte dann gähnend ein wenig von dem Sportprogramm hier draußen. Stella fragte nicht nach, blieb selber unverbindlich. Um sie musste er sich keine Gedanken machen.

      Und die Schrate, die Kreaturen da draußen im Wald? Im Hotel wirkte der Gedanke an sie genau so abwegig wie in der Stadt. Das hier war von seiner gewohnten Umgebung in Kys so wenig verschieden, dass er sich in keiner Hinsicht fremd fühlen musste. Eine ansprechende, seinen