Tilmann A. Büttner

Adam Bocca im Wald der Rätsel


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Substanz. Die Stimmen dieser an unendlich vielen Fronten geschlagenen Schlacht, das triumphierende Kriegsgeschrei ebenso wie das Wehklagen der Sterbenden, alles das blieb stumm, war nicht dem Gehör zugänglich – wohl aber dem Geruch. Es waren Stimmen, die in Düften und Gerüchen und auch in so manchem Gestank durch die Luft des Waldes vibrierten und sie ebenso unablässig durchzogen wie die unvermittelt ihr Netz auswerfenden kühlen Schleier frischer und unverbrauchter Luft, kalte Schauer voll neuer Lebenskraft.

      Unsere beiden Wanderfreunde nahmen die vom gnadenlosen Überlebenskampf kündenden Gerüche nur physisch wahr, ordneten sie, wenn sie in ihrem Geiste überhaupt ein Urteil darüber fällten, als Waldluft ab, exotisch, aber ohne jede Botschaft. Sie waren blind für alle Erscheinungen hinter der äußersten Schicht der Wahrnehmbarkeit. Adam, weil er mit einem Unbehagen, das aus dem hinteren Winkel seines Denkens summte wie eine unwuchtig laufende Maschine, die Begegnung mit den Schraten erwartete, sie halb herbei sehnte und halb fürchtete. Carlo hingegen durchwanderte den Wald mit der frohen Ignoranz des bewusst Unkundigen, neugierig auf alles, was er entdecken mochte, doch ohne jeden Ehrgeiz, es wirklich entdecken und verstehen zu wollen. Ihr Gespräch war schon eine Weile verstummt. Sie schritten den Weg entlang, der gut sichtbar, wenngleich zu schmal für ein Fahrzeug, durch den Wald führte. Große Farne deckten hier den Waldboden zwischen den in diesem Teil vereinzelter stehenden Bäumen. Dicht ineinander wachsendes Blattwerk war das. Hell schimmerndes Grün der vollen Blattwedel beleuchtete die Sicht von unten, so dass jeder abweichende Farbton, ein rötlich schimmernder Strauch, das tiefe Braun einer Borke, in unnatürlich starkem Kontrast sich scharf abzeichneten. Die Ränder des Weges waren von den Farnen eingefasst, die Blätter reichten hin und wieder bis in den Weg hinein. Mancher übersprießende Blattwedel überspannte den Weg gar. Der freie Pfad schlängelte sich durch das helle Grün hindurch. Die Blätter versperrten den Blick, so dass nur das jeweils nächste Dutzend Schritte vorhersehbar war.

      „Wir gehen wohl rund um eine ziemlich große Senke herum“ hatte Adam bald nach dem Aufbruch vom Auto bemerkt.

      „Aha?“ hatte Carlo sich erkundigt mit nur schwach vorgespieltem Interesse in der Stimme.

      „Ja klar, schau doch mal, nach links fällt es recht steil ab, nach rechts ist es eben oder geht es sogar bergauf.“

      Tatsächlich war der Weg bald nach der ersten Biegung und noch ein ganzes Stück vor den weiten Farnfeldern zur seitlichen Begrenzung dieses Bruchs im Geländelauf geworden: links vom Weg fiel das Gelände ab, nicht unbedingt als steile Böschung, aber doch in einem sehr gut sichtbaren Winkel. Rechts vom Weg ging es leicht aber ständig bergan. Wie weit hinauf, das verbarg sich hinter bald näher, bald entfernter vom Weg stehenden Nadelbaumreihen mit ihrem tief ansetzenden, beinahe bis zum Boden reichenden Geäst und den dicht stehenden dunkelgrünen Nadeln. Die Kurve, die der Weg rechts herum beschrieb, verlief in ihrer gemittelten Richtung zu sacht und war außerdem in zu unregelmäßigen Intervallen von Gegenkurven nach links durchbrochen, als dass Adam oder Carlo hätten erkennen können, wie sie im Uhrzeigersinn in einem großen Kreis liefen. Und deshalb merkten sie auch nicht, dass sie nicht an einer Senke zu ihrer Linken entlang liefen, sondern um die Kuppe eines Hügels, die rechts von ihnen lag. Genau dort, wo der Weg entlang führte, flachte die Steigung des Hügels abrupt ab und ging von einer sichtbar ansteigenden Flanke in eine linsensartig sanfte Abrundung über. An der Stelle, an der sie das Auto hatten stehen lassen, lief der Hügel zu einer Seite hin in einen Sattel aus, der in Richtung der Straße die Senke zwischen dem den Straßendamm bildenden Höhenzug und dem Ansatz des Hügels durchspannte. Der Rundweg war von diesem Punkt aus schlicht um den Hügel herum gelegt worden, wobei der Knick im Geländelauf, der zugleich einen Wechsel in der Vegetation bildet, die natürliche Spur durch den Wald bildete. Eine solche Geländeformation war Adam und Carlo ebenso unergründlich wie gleichgültig. Ihre Erfahrung mit unbekanntem Gelände beschränkte sich auf die Topographien der seit unvordenklichen Zeiten kultivierten und gestalteten Stadtlandschaften.

      Carlo wurde es nunmehr, da sie beinahe eine Dreiviertelstunde marschiert waren, sogar ein wenig langweilig. Er benetzte seine Lippen und fing an, in schiefen Tönen eine von ihm völlig falsch erinnerte Melodie zu pfeifen.

      „Nicht pfeifen!“ fuhr Adam ihn an, aus unbestimmten schweren Gedanken aufschreckend.

      „Warum das denn nicht?“

      „Das stört sie... stört vielleicht die Tiere auf.“

      „Jetzt mach aber mal halblang. Hier pfeift und zwitschert es aus jedem Baum und Strauch, das werden die armen Tierseelchen wohl noch verkraften, wenn ich ein wenig mittue.“

      „Ja, ja, schon gut, hab mich nur irgendwie erschrocken.“

      „Kein Thema, ich bin ja bei dir. So ein fröhliches Liedchen ist doch die perfekte Untermalung für einen strammen Marsch durch die freie Natur, was meinst du.“ Und wieder pfiff Carlo los, tüü-tüü-tüt-tüt-tüüü, schief und falsch und ohne jeden Rhythmus. Eine Melodie wäre in dieser losen Folge schnorchelnder und raspelnder Geräusche auch bei äußerst wohlwollender Betrachtung nicht auszumachen gewesen.

      „Ach, Carlo“ seufzte Adam.

      „Okay, schon gut. Hast du vielleicht eine bessere Idee, wie wir uns die Zeit auf unserer Marschiererei ein bisschen vertreiben können? Irgendeine Hammergeschichte mit monstermäßiger Pointe“

      Von Monstern hätte Adam gut anfangen können. „Weiß nicht. Irgendwie ist mir nicht so nach Quatschen zumute“, sagte er stattdessen nur. „Was meinst du, sollen wir nicht doch lieber umkehren?“

      „Nix da, jetzt wird nicht mehr geschwächelt, wo bleibt denn dein Sportsgeist?“

      Da Carlo ja wohl kaum ernsthaft eine Antwort auf so eine Frage erwartete, schwieg Adam weiter, bereit, sich in neuen Gedankensträngen zu verlieren. Aber Carlo hatte zu großen Gefallen an der Vorstellung einer munteren Plauderei beim Wandern gefunden, als dass er ein weiterhin stummes Dahinstapfen geduldet hätte.

      „Hör mal“, fing er wieder an, „da fällt mir gerade ein, so von wegen unbekannte Wesen und so...“

      „Wieso unbekannte Wesen?“ unterbrach Adam ihn sofort.

      „Ja, weil du doch meintest, da könnten durch mein Gepfeife irgendwelche Viecher aufgestört werden. Ich meine, hey, ich hab hier noch kein Exemplar irgendwelcher Tiere gesehen. Das sind für uns doch alles echt unbekannte Wesen, die hier im Wald so gehalten werden.“

      „Ach so.“

      „Ja, also von wegen unbekannte Wesen, da fällt mir gerade eine Story ein, die ich dir echt mal erzählen muss. Du erinnerst dich doch noch an Tamitzo?“

      „Tamitzo? Nein, sollte ich?“

      „Hey, so lange ist das ja noch nicht her, dass du deine Perle klar gemacht hast, du erinnerst dich doch noch an den Nachmittag damals am Fluss? Ja? Na, da war doch dieser eine Bekannte von mir dabei, dieser Junge aus der Vallinigra. Klingelt’s da bei dir? Nein? Immer noch nicht? Der Kichermann, so hat ihn doch diese freche Göre gemeint, die mit deiner Perle am Fluss gesessen hatte, und dann zu uns rübergekommen war.“

      „Ach so, ja der. Das ist ja vielleicht ein Penner.“

      „Na, na, na, so weit würde ich ja jetzt nicht gleich gehen“, begann Carlo. „Der Junge ist echt superschlau. Du weißt, wie ungern ich es zugebe, wenn jemand wirklich schlauer ist als ich, aber bei Tamitzo ist das halt mal so. Er hat nicht nur ein Gedächtnis wie eine Festplatte, sondern kapiert auch sofort alle möglichen Zusammenhänge. Das ist vielleicht auch schon sein Problem. Zu schlau, um mit Menschen klarzukommen. Das muss für ihn im Umgang mit uns anderen so sein wie eine Partie Magno-Squash, bei der man einfach viel zu schnell ist für den Gegner und man sich schließlich fragt, ob man nicht selber alles falsch macht, bloß weil man das Rumgestolpere des anderen einfach nicht kapiert. Egal, also Tamitzo ist eigentlich echt ein superschlaues Köpfchen. Aber trotzdem oder gerade deshalb ist er auch echt seltsam in seinen Ansichten. Das hat auch nichts damit zu tun, dass er aus der Vallinigra ist. So weit ist das nämlich gar nicht her mit den berühmten kulturellen Unterschieden zwischen den Kuppeln. Ich war ja jetzt auch schon ein paar Mal drüben, und irgendwie glaube ich, dass dieses Gequatsche von den kulturellen