Tilmann A. Büttner

Adam Bocca im Wald der Rätsel


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Menschen, die vom Fluss aufbrachen, um nach Hause zu gehen. Die jetzt immer tiefer stehende Sonne durchstrahlte und wärmte eine weiche Abendluft, in der jeder frei und unbeschwert atmete und alles möglich schien. Wer immer wollte, konnte an so einem Sommerabend alle möglichen Pläne der Welt schmieden oder in das verrückteste Abenteuer aufbrechen. Wenn man denn nur wollte.

      Die Stadt bei den Flüssen, 2. Kapitel

      

      Ja, so war das damals an jenem wunderbaren Spätsommerabend in Kys an den grünen, goldenen Ufern der Kirna. Eine Clique junger Kerls, die von einem prächtig schönen Samstagabend nicht mehr erhofften, als ein paar faule Stunden bei kühlem Reisbier zusammen mit „unseren Jungs“ zu verbringen. Und deren Hoffnungen auf ein kleines Abenteuer des Lebens schon weiter übertroffen worden waren, als wir einem Mädchen wie Stella begegneten. Ich brauche eigentlich gar nicht zu sagen, dass wir, nachdem sie wieder verschwunden war, natürlich noch lange dort saßen, keine fünf Schritte von den lebensfroh plätschernden Wellen des sanften Flusses. Zuerst hatten wir, Stella war kaum außer Hörweite, aufgeregt durcheinander geschnattert, Adam mit Fragen gelöchert, was denn wohl das gewesen sei, und wie er es denn nun angehen wollte, sie anzurufen, und überhaupt, was denn passiert war, als wir beide Bier holen gegangen waren. Adam antwortet nicht viel, wischte sich mit einer ärgerlichen Bewegung das feuchte Etikett von der Backe, schmiss es aber dann doch nicht ins Wasser, sondern hielt es so lange zwischen den Fingern, es manchmal nachdenklich betrachtend, bis er es schließlich in die Brusttasche seines Hemdes steckte. Da war die Aufregung der Jungs schon abgeflaut, noch ein paar anzügliche Bemerkungen über Stella machten die Runde, Ferkel-Frank bekam ordentlich eine eingeschenkt, als er es wieder einmal übertreiben musste. Selbstverständlich beteiligte ich mich überhaupt nicht an dem ganzen Gelaber, sondern versuchte, die Jungs so gut und auffällig es eben ging, auf ein anderes Thema zu bringen. Schließlich wurde noch einmal Bier geholt, und nochmal und nochmal, bis wir uns auflösten, die einen nach Hause gingen und andere zu einer Tour durch die Kneipen und Bars der Stadt aufbrachen.

      Wir waren in einem Alter, in dem der Mann in uns sich nur zögerlich gegen den Jungen durchsetzte. Zum Erwachsenwerden hatten wir keine besondere Lust, selbst Carlo, unser Vorzeigestudent an der Regierungsuni nicht. Er war zwanzig Jahre alt, Adam und ich, wie die meisten aus der Clique erst neunzehn. Jeder von uns hatte die Schulzeit erst kurze Zeit zuvor hinter sich gebracht. Alle lebten wir mit unseren kleinen, bescheidenen Hoffnungen auf das alltägliche und beherrschbare Glück vor uns hin. Wir wollten: uns von unseren Eltern losmachen, immer genug Zeit und ein bisschen Geld für Spaß mit der Clique haben, Mädchen kennenlernen, mit Mädchen zusammen sein, mit einer besonders hübschen, wenn es denn irgendwie ginge, ins Bett gehen. Wir konnten: das tun, was alle in unserem Alter gerne taten, weder waren wir Rebellen noch litten wir Mangel. Wir mussten: uns um niemanden wirklich kümmern, dafür mitmachen im Strom der Gesellschaft, uns darin im Rahmen des Anstands und des gewohnten Lebens bewegen; aber etwas anderes wollten wir sowieso nicht. Kurzum: Wir waren zufrieden. Vielleicht nicht glücklich, wenn Glück eine Steigerung der Zufriedenheit ist, aber zufrieden, nach Art eines unauffälligen Glücks zufrieden.

      Das waren aber nicht nur wir, das war jeder Mensch in Kys und den anderen Städten, in Doburg oder Kwostnau oder Olznach oder Ubbenburg und in überhaupt allen Städten in der Paneupinia. Geschirmt von der Kuppel, unserer Kuppel, lebten wir beschützt, im Großen wie im Kleinen. Die Kuppel gab uns Sicherheit, ohne dass wir sie sahen. Niemand von uns war jemals auch nur in die Nähe des Randes der Kuppel gekommen, und wenn wir bei strahlendem Sonnenschein im Freien waren, vielleicht im warmen Gras am Flussufer lagen und nach oben zwinkerten, dann konnten wir sie nicht wahrnehmen. Und was war die Kuppel denn auch schon? Sie existierte, nun gut, aber eben außerhalb unserer Wahrnehmung. Tabuisiert war sie nicht, oh nein, ab der dritten Schulklasse war die Kuppel das Thema im Lebensführungsunterricht, einem ebenso öden wie leicht zu beherrschenden Schulfach: Man musste immer nur fix auswendig lernen, was einem die Lehrer immer und immer wieder vorbeteten, solange bis es sich auch der letzte Depp merken konnte. Und wenn man es dann in den Klassenarbeiten eins zu eins wiedergab, wie es einem eingetrichtert worden war, dann bekam man die Bestnote. Nur gut, dass Lebensführungskunde von der ersten bis zur letzten Schulklasse Hauptfach war. Wenn man es damit nicht schaffte, war einem einfach nicht zu helfen. Leicht verdiente Bestnoten ganz ohne jedes Nachdenken. Und die Kuppel, ja, das war die große Nummer, bei der alle Lehrer einen wichtigen Ton in der Stimme und einen existentiell-entschlossenen Blick bekamen, sie straften sich, nahmen würdige Haltung an, wenn sie von der Kuppel erzählten. Und sie schilderten in immer neuen, noch farbigeren, noch sinnfälligeren Bildern die Existenz und Wirkungsweise der Kuppel Paneupinia und auch aller anderen Kuppeln. Wie sicher die Kuppel war, wie unglaublich groß und doch stabil, wie wunderbar es war, die Kuppel um sich zu haben – und wie gut, dass man über die Transitexpresstunnel eins-zwei-drei von einer Kuppel in die andere reisen konnte, so dass die Kuppeln in Wahrheit die Menschen gar nicht voneinander trennten, sondern überhaupt erst verbanden. Wenn es besonders dicke kam, mussten wir uns dann noch verworrene Geschichten über eine mythisch verklärte Frau namens Kabbey anhören, die irgendwann irgendwie irgendwas mit den Kuppeln zu tun gehabt hatte, aber das war sehr schwer zu begreifen. Trotzdem flochten die Lehrer in ihre Unterrichtseinheiten zu den Kuppeln immer wieder solche Legenden über die großartige, unvergleichliche, beispiellose Kabbey ein, Legenden, die durch den arg routinierten Vortrag freilich einiges von ihrem Reiz verloren.

      Kurz und gut: lauter langweiliges Zeug, mit dem wir da traktiert wurden. Keinen der Schüler in meiner Klasse hatte es interessiert, mich nicht, Adam nicht, sogar Guinhilde, unsere immer herber werdende Klassenbeste gab sich ausnahmsweise einmal nicht Mühe, grenzenloses Interesse vorzutäuschen. Warum auch? Erstens: Wenn Lebensführungsunterricht schon im Allgemeinen keiner echten geistigen Anstrengung bedurfte, dann war die Sache mit der Kuppel ein echter Selbstläufer. Sicher – groß – stabil – verbindet – schützt – immer da – immer verlässlich – massiv – Lebensgrundlage – Sternenzelt – Daseinsraum – super, super, super – blah, blah, gähn. Die Lehrer hätten vielleicht sogar geglaubt, man wolle sie auf den Arm nehmen, hätte man diesem Gesülze Interesse entgegengebracht. Und zweitens: Wenn auch niemand an der Existenz der Kuppel zweifelte, hatte sie doch niemand jemals gesehen, sich an ihr das Füßchen gestoßen oder das Köpfchen gehauen. Wir waren hier, uns ging es gut. Irgendwo dort gab es die Kuppel, und wenn es uns deshalb so gut ging, weil es die Kuppel gab, na schön, auch recht. Wenn es uns genauso gut gegangen wäre, wenn es die Kuppel nicht gegeben hätte, auch in Ordnung. Mann, was soll das Gegrübel, lass uns lieber zum Squitten gehen, unsere Schulmannschaft gegen die Jungs von der Protektorenschule, und in der Profiliga spielt morgen mal wieder Kys gegen Ubbenburg, da gibts volle Hütte.

      Ist es denn vorstellbar, dass sich jemand, dem nichts fehlt, über etwas Gedanken macht, das wohl da ist, und für das er sich schon in der Schule nicht interessiert hat? Jetzt mal ehrlich? Schon deshalb nicht, weil bei allem Gesülze über die Kuppel kein Lehrer jemals auf die Idee gekommen wäre, die Frage aufzuwerfen, ob es denn gut war, dass es die Kuppeln gab; oder wer entschieden hatte, die Kuppel hochzuziehen und oben zu lassen. Warum ist Wasser nass, dachte der Hund und soff den Napf doch aus. Weil es nur nass so schön zu trinken ist. Basta.

      Und weil das so ist, und weil Adam spätestens seit zehn Minuten vor Sonnenuntergang an jenem Samstagabend unglaublich verliebt war, machte er sich jetzt genauso wenig Gedanken über die Kuppel, wie er auch noch niemals vorher darüber nachgedacht hatte. Heidewitzka, war Adam verliebt, seine ganze Welt war ein weichgezeichnetes Idyll saftiger Pastellfarben. Seine etwas langweilige und hier und da auch leicht schäbige Heimatstadt Kys – eine Oase tief empfundener, ehrlicher und wertvoller Gefühle. Die sanft und gräulich vor sich hin dümpelnde Kirna – ein Schicksalsfluss voll strömenden Lebenselixiers. Jeder neue Morgen würde ihm, das meinte er beim Sonnenuntergang am Fluss zu spüren, ja, zu wissen, von nun an wie eine Geburt in ein neues Leben sein, jedes davon voll der höchsten Freuden und Genüsse. Weggewischt der gelangweilte Trott in seiner Dienstzeit. Vergessen das nagende Unbehagen, wenn er seinem Vater von seinem Leben erzählte, immer mit der leisen Befürchtung, sein Vater könnte bei diesen Berichten einmal nicht nur angestrengt auf einen fernen Punkt in einem anderen Winkel des Raums schauen, sondern fragen, was Adam denn nun eigentlich anfangen