Tilmann A. Büttner

Adam Bocca im Wald der Rätsel


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alle Unbilden seiner tagtäglichen Existenz.

      Nach außen hin würde er immer noch der nette junge Mann sein, der eine wenig aufregende freiwillige Dienstzeit beim Regierungsamt für Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung absolvierte, in der großen Stadtwohnung seines Vaters lebte und in seiner Freizeit mit einer festen Gruppe Gleichaltriger gerne mal ein Reisbierchen trinken ging. Aber in seinem Inneren war ein ganz anderes Dasein angebrochen. In einem Kaleidoskop der Empfindungen und Stimmungen setzten sich ihm immer neue fantastisch farbenreiche Bilder zusammen, Bilder, die zwar nicht die wahrnehmbare Wirklichkeit darstellten, aber doch ebenso wenig bloße Trugbilder waren. Für Adam leuchteten da in verlockender Weise Signale, Wegweiser, verlässliche Richtungsgeber in eine ansonsten unbekannte Zukunft. Was genau werden würde, er konnte und wollte es jetzt nicht wissen, doch sicher war ihm der rauschhafte Sog eines ihn vollständig umfassenden und durchdringenden Gefühls. Einen solchen Rausch hatte er noch nie durchlebt und genossen. Dass dieser Rausch wieder schwächer werden und schließlich vergehen würde, das ahnte er vom ersten Moment an, ohne diese Aussicht zu bedauern. Das überwältigende an diesem Rausch war seine Gegenwärtigkeit, das Bewusstsein, den Rausch, wäre er erst einmal abgeklungen, nicht zu vermissen und nicht wiederholen zu wollen. In diesem Sinne war es kein Rausch, was Adam da empfand, sondern ein Aufbruch. Der Beginn einer inneren Wanderschaft, auf der er so bald nicht zum Ziel gelangen wollte.

      Es gehört zu den unbegreiflichen Wundern im Seelenleben eines Adoleszenten, dass derartige Stürme des Empfindens gleichsam von einem Schmetterlingsflügelschlag des Schicksals ausgelöst werden können. Oder prosaischer betrachtet: Nicht zu fassen, dass so ein Allerwelts-Hühnchen, wie es Sandra jedenfalls damals war, unseren guten alten Adam so in Verzückung hatte bringen können. Ich an seiner Stelle hätte dieses Mädchen mit den aschblonden, immer irgendwie zuppelig abstehenden Haaren und der bei bösmeinender Betrachtung eindeutig zu großen Nase gar nicht näher betrachtet. Spätestens ihre blechern kratzende Stimme hätte sie in den hintersten Winkel meiner Wahrnehmung katapultiert und mich gegen alle ihre etwa doch vorhandenen Reize immun gemacht. Aber na gut, im Rückblick ist einem ja ohnehin immer ganz klar, wie alles hatte laufen müssen, und als Adam und ich damals an jenem Nachmittag auf die beiden Mädchen trafen, überstrahlte für mich Stellas Anwesenheit sowieso alle anderen überhaupt möglichen Sinneseindrücke. So kann es jungen Kerls gehen: der eine verguckt sich ein wenig in ein wirklich außergewöhnlich schönes Mädchen, der andere verliebt sich so sehr in eine recht unscheinbare junge Dame, dass von seinem – allerdings schon zuvor etwas wackligen – Seelengebäude kein Stein auf dem anderen bleibt. Das hat, zumindest in diesem Alter, wohl etwas mit der Reife zu tun, also nicht Reife im Sinne von innerer Festigung, sondern damit, ob der junge Mann an den Punkt gelangt ist, an dem er für den ersten Sturm liebender Gefühle reif ist. Und wenn er das ist, kommt es vermutlich gar nicht so sehr darauf an, ob er einem nur durchschnittlichen Mädchen begegnet, oder einer Prinzessin der Schönheit und Anmut. Bemerkenswert an Adams Gefühlsausbruch war, so gesehen, nur der blinde Zufall, der eine gleichzeitige Begegnung sowohl mit einem Durchschnittsmädchen als auch mit einer Prinzessin (doch, doch, drunter geh ich bei Stella nicht, Jungs-Rülpser hin oder her) herbeigeführt und dennoch Adams Aufmerksamkeit auf das Durchschnittsmädchen (Entschuldigung, Sandra, aber lass uns bitte ehrlich sein) gelenkt hatte. Gerecht ist das nicht, aber eben möglich.

      Und nun wollte Adam Sandra unbedingt wiedersehen.

      Die Stadt bei den Flüssen, 3. Kapitel

      

      Auf ein lebensfroh sonniges Wochenende folgen noch zwei oder drei weitere herrliche Sommertage, dann verliert der Sommer spürbar an Schwung. Und auch wenn die Menschen sich in heimlicher Verzweiflung an die Wärme und das Licht klammern, beide schwinden doch zusehends. Noch reden sich viele für eine kleine Weile ein, es komme ja gar nicht aufs Wetter an, Hauptsache es ist Sommer, und da fühle man sich doch immer glücklich und aufbruchslustig. Aber die Tage werden grauer, trüber, nasser, in einem immerzu bleiernen Himmel schwindet die Erinnerung an die Empfindung der Unbeschwertheit, mit der es sich schon morgens ohne jeden Gedanken an die passende Kleidung oder gar die richtige Kopfbedeckung aus dem Haus treten ließ. Vorbei die Tage, an denen die Straße einladend leuchtet und der Weg zum Auto oder zum Expressschweber oder womöglich zu Fuß zur Arbeitsstelle eine erste Freude ist, die manche Alltagssorge des bevorstehenden Tages verstummen lässt. Wie anders jetzt, wenn die regenfeuchte Straße geradezu entgegen ruft, es sei besser, daheim zu bleiben, jedenfalls aber mühselig, die wenigen Schritte draußen zu tun; und jedenfalls sei es mehr als angebracht, sich kritische Sorgen zu machen, ob es nicht doch zu kalt sei für die leichte Sommerhose oder die flotten, aber nur dünn besohlten Schuhe. So hastet es verärgert durch die Straßen, hinab in die Schächte der Expressschweberstationen, schnell, nur schnell hinein in die Bürogebäude, die in den niedrigen Wolken verschwindenden, nur schnell, auf dass wenigstens der lästige Weg dorthin beendet sei. Und selbst das Surren der Autos, an einem sonnigen Morgen eine harmonische Begleitung zum Vogelgezwitscher, ist an so einem Regenmorgen ein abweisendes Fauchen.

      Tatsächlich muss sich der Fußgänger an solchen Tagen in Acht nehmen vor den Autos, ihre hochkonzentriert gespeicherte elektrische Energie will dann nicht nur den zuverlässigen Antrieb gewährleisten, sie ist förmlich eine stille Aggression, die jeden Moment ausbrechen kann. Denn die Geduld der Autofahrer hängt nach wenigen Minuten der stoßweisen Fahrt durch die Stadt an einem dünnen Nervenfaden. Die fröhliche Radiosendung ist zu aufdringlich, die alternativ bereitgehaltene Lieblingsmusik weckt Fluchtgedanken, anstatt aufzuheitern. Und jetzt geht es schon wieder nicht voran, weil dieser Trottel da vorne – in einem dicken Mercur, na klar, soll er sich doch ’ne Karre anschaffen, mit der er klarkommt, der Depp – scheinbar schläft, anstatt auf die Anweisungen seines Verkehrssystems zu hören. Was ist das nun schon wieder für eine bescheuerte Baustelle, muss das mitten im Morgenverkehr gemacht werden, ja gut, letzte Woche, da war die auch schon da, und es war sehr interessant, aus dem lässig heruntergelassenen Autofenster den Arbeitern zuzusehen, wie sie in der wärmenden Morgensonne die Baugrube beackerten, aber heute ist es viel zu nieselig, um das Fenster auch nur einen Spalt weit zu öffnen, dabei ist es im Auto muffig vor Regenfeuchte, verdammt, erst Mittwoch und schon eine Viertelstunde zu spät dran. Im Radio schmachtet eine dünnstimmige Mieze etwas von „heißem Verlangen, heißen Küssen, heißen Nächten“ vor sich hin, die doofe Kuh, ja, ja, jetzt brabbelt der aufreizend gut gelaunte Showman vom Morgenfunk dummes Zeug über Supergrillparties mit den tollen Leuten am Wochenende, hey, Mädels – der Kerl sagt tatsächlich „hey, Mädels“ – vergesst euer Berrybräu-Reisbier nicht, ihr wisst schon, euer fruchtig-cooler Start in ein Su-u-u-u-u-per-Wochende. Arschloch, das sind immer noch drei Tage bis dahin, erst mal rechtzeitig zum Meeting im Büro sein, Mann, jetzt fahr doch zu, was ist denn jetzt das, Mist, ist wohl ein Unfall, oh nein, jetzt kommen auch noch zwei Motorradtypen von der Secuforce, schnell Platz machen, da, jetzt haben sie dem armen Idioten da hinten die Seitenscheibe eingeschlagen, tja, die können ziemlich derbe drauf sein, wenn einer ihnen nicht schnell genug Platz machen. Jetzt sind sie zum Glück vorbei, ach, da vorne ist es ja schon passiert, nichts wie dran vorbei und dann weg hier.

      Die beiden Secuforce-Protektoren steigen von ihren chromblitzenden Magnetorädern. Die Helme nehmen sie nicht ab und dazu machen sie ein so grimmiges Gesicht, als ob sie sich selbst bei den ängstlich beiseite springenden Passanten noch mehr Respekt verschaffen müssten. Der Streifenführer geht vor, der andere bellt „Secuforce, Platz da, aber schnell“, obwohl die ältere Dame weder im Weg steht noch irgendwie weiter ausweichen könnte. Sie presst sich schon zitternd an die Hauswand. Die Streife stiefelt im Übrigen achtlos an ihr vorbei, hin zu dem Zeitungsverkäufer. Dessen fettig zerzausten Haare sind im Nieselregen nass geworden, er ringt verzweifelt seine wurstigen Hände, wenn er sie nicht wieder einmal zu Fäusten ballt und dem jungen Mann droht, der verwirrt um das verschrammte Auto herumstapft, das in den Resten des aus Zeltstangen und Planen zusammengeschusterten Zeitungsstandes zum Stehen gekommen ist. Oha, ganz ganz dumm gelaufen, da hat der junge Kerl ja wirklich, Treffer versenkt!, genau ins Schwarze getroffen, hundert Punkte. Frische Bremsspuren zeigen an, dass er von da drüben aus der schräg von links einmünden Straße gekommen sein muss, da hat er wohl zu viel Tempo drauf gehabt auf dem schlüpfrigen Schallschutzbeton, oder er hat irgendwie gepennt. Jedenfalls hat er die Kurve nicht