Tilmann A. Büttner

Adam Bocca im Wald der Rätsel


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die Zeitungen im Regen, der in unangenehmen Böen immer wieder einsetzende Wind hat feuchte Papierfetzen über den Bürgersteig getrieben, wo sie von den Passanten zertreten werden. Der Zeitungsverkäufer könnte einem eigentlich leid tun, das ist ja auch sonst kein gutes Geschäft mit den Papierzeitungen, wo doch so gut wie jeder sein Digitalpapier hat, auf dem er alle Bücher, Zeitschriften und Zeitungen abrufen kann, und nur dann eine Zeitung kauft, wenn sie billiger als der Download ist. Da bleibt bei den Händlern nicht viel hängen.

      Und jetzt muss auch noch so ein junger Schnösel den Stand zu Schrott fahren. Klar, das ist ärgerlich, mehr als ärgerlich, aber die Sympathie der wenigen Schaulustigen, die sich von der Secuforce-Streife nicht abschrecken lassen, gehört trotzdem nicht dem Zeitungsverkäufer, sondern eher dem jungen Mann aus dem Unfallauto. Die Aufregung des schmierigen Zeitungsverkäufers ist zu aufgesetzt. Besonders seit dem Eintreffen der Streife haben sich seine Beschimpfungen dermaßen gesteigert, damit die Secuforce-Protektoren auch ja nicht übersehen können wer hier der Schuldige ist. „Du Missgeburt, den Hals sollte man dir Umdrehen, du unnützes Stück Scheiße, dich sollten sie gleich erschießen“, schimpft der Zeitungsverkäufer, schwingt drohend die Fäuste, lässt seinen Zeigefinger immer wieder anklagend in Richtung des jungen Kerls sausen, Mitleid muss man da bekommen mit dem armen Kerl. Es ist Adam.

      So ganz geht die allzu offensichtliche Taktik des Zeitungsverkäufers trotzdem nicht auf, „du hättest hier alle umbringen können, du dummes Häufchen Dreck“, zetert er jetzt weiter. Aber die Streife scheint noch nicht erkannt zu haben oder erkennen zu wollen, wer hier der Bösewicht ist, und wer das arme Opfer. Der Streifenführer wirft sich in die Brust und stemmt die Hände in die Seiten. Während sein Kollege den Handcomputer zückt, schnauzt er den Zeitungsverkäufer an:

      „Was ist denn hier los?“

      Keine sehr geistreiche Frage, gewiss, der Zeitungsstand wird ja wohl kaum rückwärts in das Auto reingefahren sein, das dann nicht mehr ausweichen konnte. Aber das wagt natürlich keiner einem Secuforce-Protektor entgegen zu setzen.

      „Zum Glück sind Sie da, Herr Protektor“ dient sich der Zeitungsverkäufer devot an, „dieser..., dieser Verbrecher ist viel zu schnell um die Kurve gerast, mit deut-lich un-an-ge-pass-ter Geschwindigkeit, wir hätten alle tot sein können, er hat mein ganzes Geschäft kaputt gefahren.“ Und nur für den Fall, dass der Streifenführer den Ernst der Lage nicht ganz begreifen sollte, deutet der Zeitungsverkäufer auf die zerfetzten Reste seines kümmerlichen Standes, will heißen: seines Geschäfts, mit einer Bewegung, die wohl grenzenlosen Schmerz ausdrücken soll. „Tot hätten wir alle sein können, und ruiniert hat er mich vor allem der Verbrecher, Sie müssen gleich...“. Nein, so nicht, Secuforce-Protektoren müssen gar nichts.

      „Ruhe!“ schnauzt der Streifenführer erwartungsgemäß, „Secuforce-Protektoren müssen gar nichts!“ Sein Kamerad macht einen Ruck, als wollte er die Hacken zusammenknallen.

      „Nein, nein, natürlich nicht, Herr Protektor“ fistelt der Zeitungsverkäufer in verzweifelter Beschwichtigung, „ich wollte nur sagen..., ich habe alles gesehen, dieser Verbrecher ist viel zu schnell...“

      „Ruhe!“ Jetzt brüllt der Streifenführer den Zeitungsverkäufer förmlich an. „Halt den Mund! Identitätskarte! Flott flott!“

      „Jawohl, natürlich“, mit zitternden Händen dreht sich der Zeitungsverkäufer um und wühlt in den Trümmern auf der Suche nach seinen Papieren. Währenddessen tritt der Streifenführer an das Auto heran und packt Adam bei der Schulter.

      „Wie ist das passiert?“

      „Ich weiß nicht so recht, bin wohl so rausgerutscht.“ Adam wirkt nicht im Geringsten eingeschüchtert, dafür um so zerstreuter. „Was ist denn passiert?“ gibt er die Frage ungeniert zurück. Eine derart offene Naivität müsste eigentlich auch hartgesottene Secuforce-Protektoren entwaffnen, aber dieser Streifenführer ist ein alter Hase und lässt sich nicht beirren. Bevor er sich ins Nachdenken verheddert, greift er zu bewährten Instrumenten der Sachverhaltsaufklärung.

      „Identitätskarte, Führerschein, Fahrzeuglizenz, flott flott“, bellt er Adam an. Immerhin zeigt er sich keineswegs ungeduldig, während Adam umständlich seine Tasche und das Handschuhfach nach den geforderten Dokumenten durchkramt. Es dauert eine halbe Ewigkeit. Denn in Gedanken ist Adam gar nicht hier am zu Schrott gefahrenen Zeitungsstand, im kühlen Nieselregen eines unansehnlichen Mittwochmorgens, nein, er hängt noch ganz dem vorigen Tag nach, an dem so viel passiert ist.

      Dieser Dienstag vor dem Unfall war auch kein sonniger Tag mehr gewesen, aber immerhin war dem morgendlichen Regen ein Vormittag mit einigen halbwegs sonnigen Momenten gefolgt. War da etwas besonders an diesem Dienstagvormittag gewesen, den Adam bei monotoner Beschäftigung im Regierungsamt verbrachte? Wohl kaum, wieder einmal sortierte er „Eingaben interessierter Mitbürger“ in verschiedene Aktenordner ein. Das System, nach dem er sortieren musste, war ziemlich willkürlich. Zum Teil ging es um die Adressen der Absender, dann auch darum, was genau sie wollten (wenn sie denn ein Anliegen ausdrücklich formulierten), schließlich auch danach, ob sie einen Betrieb mit einer bestimmten Anzahl von Arbeitsplätze repräsentierten. Genauso gut hätte man die Zuschriften nach der Eingangsuhrzeit in Kombination mit der Lieblingsfarbe der Absender sortieren können, schon allein deswegen, weil nur ganz wenige Zuschriften irgendeine Beachtung fanden. Diejenigen, die in die Ordner sortiert wurden, gehörten allesamt zur überwältigend großen ignorierten Mehrheit. Aber das interessierte Adam nicht wirklich, seit mehr als einem Jahr erledigte er im Regierungsamt derlei Aufgaben, bei denen weder Methode noch Ziel einer näheren gedanklichen Überprüfung standgehalten hätten. Wenn man denn darüber nachgedacht hätte, Adam tat es jedenfalls nicht. Genau so wenig, wie er sich über seine freiwillige Dienstzeit an sich Gedanken machte. War es wirklich schon über ein Jahr her, seitdem er den Schulabschluss gemacht und die freiwillige Dienstzeit begonnen hatte? Es hätten genau so gut zehn Wochen oder zehn Jahre sein können. Die im Regierungsamt verbrachte und vertane Zeit versickerte spurlos wie Wasser in einem Schwamm.

      Selbst das für ihn ungeheuer wichtige, ja einschneidende Erlebnis eineinhalb Wochen zuvor, an jenem Samstagnachmittag am Ufer der Kirna hatte ihn zwar wachgerüttelt, aber doch keine Reflexionen über den Sinn seiner freiwilligen Dienstzeit ausgelöst. Nur in seinem Inneren Geweckt worden war er durch die Begegnung mit Sandra und… diesem andere Mädchen… – ja richtig, Stella hieß sie wohl – allein innerlich war, das, aber immerhin. Da waren auf einmal viel mehr wertvolle und wunderbare Empfindungen in ihm, als nur die reichlich knabenhafte Freude über eine gewonnene Partie Squitten oder einen fröhlichen Abend mit den Jungs aus seiner Clique. An jenem Samstagabend hatte er, alleine am Flussufer stehend, liebende Empfindungen in vielen Farben und Tönen gespürt – nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Empfindungen münden nicht von selbst in einen Entschluss zum Handeln, besonders nicht bei einem jungen Mann, dessen Schritte ins Leben zwar immer größer werden, aber noch so unsicher sind, dass er immer wieder über seine eigenen Füße stolpert. An der Eintönigkeit seiner freiwilligen Dienstzeit und seiner völligen Gleichgültigkeit der Dienstzeit und ihrer Eintönigkeit gegenüber hatte sich schlechthin gar nichts geändert. Und so hatte auch dieser Dienstag, der Tag, bevor er am Mittwochmorgen in den Zeitungsstand rauschte, wie jeder andere Wochentag so gewöhnlich und ereignisarm begonnen, wie Adam sich es nur hätte wünschen können.

      Die Veränderungen in seinem Leben seit dem – sehr kurzen – Aufeinandertreffen mit Sandra hatten sich auf seine Freizeit beschränkt. Schon am Sonntag danach hatte er am Computer versucht, Sandra zu identifizieren und ihre Nummer herauszubekommen. Zunächst hatte er mithilfe des Tokens, den er als Behördenangehöriger eines Regierungsamtes immerhin hatte, auf die zentralen Meldedatei zugegriffen und eine Inverssuche zu der Nummer durchgeführt, die Stella ihm gegeben hatte. Das hatte erwartungsgemäß funktioniert, zu dieser Nummer hatte der Rechner eine Stella Parker als berechtigte Person ausgeworfen, weitere Daten wie Wohnort, Tätigkeit, Geburtsdaten und dergleichen seien bei dem „der Regierung von kooperativ verbundenen Sicherheitskonzern“ – das war natürlich die Secuforce – hinterlegt und könnten dort von Berechtigten abgefragt werden. So weit ging Adams Berechtigung als freiwillig Dienstleistender natürlich nicht, und so musste er mit Stellas Namen weitersuchen. Er hatte keinen Erfolg. Der erste Ansatz war natürlich das Freundenetz