Yuna Stern

I#mNotAWitch


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uns zu den O'Donoghues gehen. Sie werden dich untersuchen. Sie wissen, was sie tun.«

      Eine Gruppe von Medizinervampiren. Das klang ein wenig furchteinflößend, wie ich fand.

      »Wo leben sie noch mal?«, fragte ich und versuchte mir schnell eine Ausrede zu überlegen. Ich will nicht zu ihnen, weil ... ich Angst vor Spritzen, Operationen, Krankenhäusern habe?

      Die O'Donoghues wohnten angeblich seit Jahrzehnten in einer verlassenen Hospizanlage im Süden von –

      »Irland«, klärte mich Jack geduldig auf. »Bitte, Quinn. Ich kenne diese Leute.« Er zögerte, bevor er ergänzte: »Na ja, durch Isaiahs Erzählungen ... Sie sind überhaupt nicht gefährlich. Ernähren sich noch nicht einmal von Blut, stell dir das vor. Sie sollen so ein scheußlich bitteres Getränk aus Erde und Alkaloiden entwickelt haben, das sie seit geraumer Zeit einnehmen. Sie sind harmlos.«

      Hm, das glaubte ich nicht so recht.

      Aber, gut.

      »Und du meinst wirklich, dass sie mir helfen können?«

      Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ich hoffe es. Ich will dich nicht verlieren, Quinn ... Besonders nicht nach alldem, was wir im letzten Jahr gemeinsam erlebt haben.«

      Sobald er mich in seine Arme nahm, verkrampfte ich innerlich. All die Gefühle, die mich nach meiner Verwandlung für ihn heimgesucht hatten, waren wie weggefegt. Wieso also ...? Woher war diese Liebe damals gekommen? Hatte ich meine Gefühle für Aiden auf ihn projiziert? Hatte mein neuerworbenes Vampirgedächtnis mir einen Streich gespielt?

      Ich wusste es nicht, dennoch lächelte ich Jack an, um ihn nicht zu enttäuschen. »Meinetwegen«, wisperte ich. »Wenn es sein muss ...«

      »Ja, es muss sein«, bekräftigte er seine Worte mit einem raschen Nicken. »Wenn es dunkel wird, müssen wir uns auf den Weg machen.«

      »In Ordnung.« Ich lehnte mich gegen das Zierkissen. Im folgenden Moment packte mich der Schwindel erneut. Oh, nein. Nicht noch einmal. Ich fluchte leise. Schloss die Augen. Sobald meine Stirn zu pochen begann, hörte ich alles.

      Und zwar wirklich alles.

      Auf der Landstraße raste ein Auto mit ratterndem Motor entlang, der Fahrer diskutierte am Telefon mit seiner Tochter über ihre nächste Theateraufführung. Auf dem Hügel der Pollinders grasten Kühe, ihre Arbeiter in der Scheune misteten den Stall aus und husteten. Und auf dem Kastanienbaum vor der Waldhütte zwitscherte eine Wanderdrossel zum sechzehnten Mal an diesem Tag dasselbe verfluchte Lied.

      Ich hielt es nicht länger aus.

      Diese Kräfte waren eine Gabe, ja, natürlich, doch gleichzeitig führten sie mich in den Wahnsinn. Überall hörte ich Stimmen, wild durcheinander. Ich vernahm Herzschläge, konnte sogar recht bald einschätzen, ob die dazugehörigen Personen an Herzproblemen litten ... oder vielleicht Verdauungsschwierigkeiten hatten, da ihr Magen unaufhörlich rumorte. Gelegentlich konnte ich sogar hören, wie das Blut gewisser Leute durch ihre Adern rauschte und pumpte. Und jedes Mal spürte ich dann genauestens, wie mich der Durst befiel.

      Wie auch jetzt.

      Ein Förster spazierte etwa zweihundert Meter von uns entfernt den Waldweg entlang. Er keuchte, roch nach Schweiß und Alkohol. Seinen Gestank nahm ich selbst von der Hütte aus wahr. Unter seinen Schuhen knackten, zerbrachen Äste.

      »Nein«, flüsterte Jack und griff nach meinem Arm. »Es wird dir danach noch schlechter gehen, Quinn.«

      Das wusste ich natürlich. Ich wollte diesem Mann auch nichts antun. Eigentlich nicht. Aber ... Es war so verlockend. Meine Instinkte rieten mir dazu, ihn anzugreifen, obwohl der Tag noch hell war.

      Ich verschränkte die Arme vor der Brust, um meinen Körper unter Kontrolle zu bekommen. Drängte mich näher an Jack, der mir zur Beruhigung die Hand auf die Schulter legte. Er hielt mich so fest, dass ich mich nicht befreien konnte. So hockten wir dort auf der harten Couch, die angesichts ihres karierten Musters aus den Achtzigern zu stammen schien. Warteten darauf, dass der Mann verschwand.

      Es schien eine Ewigkeit zu dauern.

      Die Gardinen an den Fenstern ließen nur schmale Lichtstreifen durch, die sich auf den Holzboden legten. Sonst war alles kühl und finster in diesem Raum.

      Der Förster entfernte sich immer weiter von uns, doch irgendwann hörte ich, wie sein Telefon klingelte. Da blieb er stehen.

      Mein Durst nahm zu, kratzte an meiner Kehle, brachte mich zum Wimmern. Da ich all das Blut, das ich zuvor getrunken hatte, wieder ausgespuckt hatte, war mein Verlangen danach umso stärker. Trinken, die Leere in mir füllen, irgendetwas, das heiße Blut, ich konnte an nichts anderes mehr denken. Trinken, sofort, angreifen, seine Haut unter meinen Fingerkuppen spüren, wie sie zerreißt, und ...

      Ich schloss die Augen und versuchte meine Gedanken wieder zu sortieren. Um das zu tun, hatte Jack mir einen Trick beigebracht.

      »378 plus 723? Konzentrier dich darauf, Quinn.« Er strich mir über die Wange. Ich ließ meinen Kopf gegen seine Brust sinken, wiederholte seine Worte in meinen Gedanken.

      Rechnen, um dem Durst zu entkommen. Mal klappte es besser, mal nicht so gut. Ich versuchte mich nur auf die Zahlen zu konzentrieren, doch an diesem Tag funktionierte es nicht.

      Das Atmen des Försters. Sein Räuspern, während er an sein Handy ging. Mit seiner Schuhspitze schubste er einen Blätterhaufen an, das Rascheln verursachte Gänsehaut bei mir.

      Zahlen.

      300 – wie lauteten sie noch mal?

      Nun ging der Mann weiter, er zog sich den Reißverschluss zu, ich hörte das Quietschen seiner Lederjacke. Er hatte eine tiefe Stimme, telefonierte schnell und legte hastig auf. »Gleich komm ich«, hatte er gesagt.

      Jack schüttelte mich sanft. »Quinn, rechne.« Er nannte mir erneut seine Aufgabe: »378 plus 723?«

      Normalerweise nahm er kompliziertere Zahlen, doch an diesem Tag waren selbst diese hier zu schwer für mich. Ich rechnete, versuchte mich von dem Förster abzulenken, nur mit Mühe, ich wandte mein Gesicht ab, kniff die Augen zusammen und dachte nach.

      378 plus – erst einmal nur – 700 waren: 1078.

      Okay. Und weiter – was passierte draußen? Ich hielt den Atem an. Ich roch Blut, frisches Blut. Oh, der Förster schien sich verletzt zu haben. Wie, warum?

      Ich versuchte, mich aus Jacks Griff zu lösen.

      »Nein, Quinn. Egal. Zähl weiter.«

      Ja, rechnen. Es spielte keine Rolle, was im Wald passiert war. Mit dem Mann, dessen Blut nun auf die Erde tropfte.

      Ich spürte, wie mir das Wasser im Mund zusammenlief. Meine Zunge fühlte sich trocken an, taub, als wäre ich kurz davor, zu verdursten.

      Tausendachtund – wo war ich noch einmal? 1078. Blieben noch 23, die ich dazu addieren musste, dann wäre ich fertig. 78 plus 23 waren ... 78 plus 20 waren 98. Plus 3.

      Ich stieß Jack beiseite, murmelte ein »Tschuldigung« und rannte los.

      Ich hörte noch sein Fluchen hinter mir, dann war ich draußen.

      Die Sonne tat mir nichts, sie kitzelte nur auf meiner Haut, noch spürte ich nicht, dass sie mich vernichten würde. Ich war noch nicht daran gewöhnt. Die Angst vor der Sonne hatte sich bei mir noch nicht entwickelt.

      Einzig die Helligkeit blendete mich. Einen Moment lang schwankte ich, hielt mich an einem Baumstamm fest, dann kam mir der Geruch des Försters entgegen. Der Wind trug ihn zu mir, ich zitterte vor Aufregung und hechtete los, um ihn zu finden.

      Klar zu denken war in solchen Momenten unmöglich. Ich war eine Sklavin meiner eigenen Triebe. Nur das war mir bewusst. Und doch genoss ich das. Irgendwie.

      In nur wenigen Sekunden hatte ich ihn erreicht, beobachtete ihn von Weitem, verbarg mich zwischen den Bäumen. Nur einen Schluck. Den durfte ich mir gönnen. Musste ich.