Yuna Stern

I#mNotAWitch


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»von Anfang an, da hat er es mir angedroht, Quinn. Dass du irgendwann zu ihm zurückkehren wirst, weil er anders ist, nicht ... schwach ist. So hat er es ausgedrückt. Er hat es mit solcher Sicherheit gesagt, dass ich ihn ausgelacht habe. Wie dumm von mir.«

      Ich eilte zu ihm und fiel ebenfalls auf die Knie. Hob mit meiner Hand sein Kinn an, damit er mich direkt ansah. Eindringlich sagte ich ihm: »Du bist nicht schwach, Jack. Er hat gelogen. Ich ... ich verdiene dich überhaupt nicht. Noch nicht einmal als Freund, du bist so wertvoll.« Ich tröstete ihn mit einfallslosen Worten, die er sowieso nicht mehr hörte. Er war irgendwo anders, nicht präsent, starrte mich mit leeren Augen an, die mir vorkamen wie: Mit Regentropfen beschlagene Scheiben.

      »Du wirst ihn nie vergessen«, sprach er mit gebrochener Stimme und stieß mich sanft weg. Das schien die Erkenntnis zu sein, die ihn von mir forttrieb, denn im nächsten Moment stand er ruckartig auf und wanderte zur Tür.

      Dort blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu mir um, ohne mich wirklich anzusehen. Er schien noch etwas sagen zu wollen. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab, er überlegte es sich offenbar anders und verließ das Zimmer mit seinen letzten unausgesprochenen Worten noch in der Luft. Greifbar.

      Ich blickte ihm hinterher und hasste mich dafür, dass ich alles zwischen uns zerstört hatte. Innerhalb weniger Minuten. Gab es überhaupt noch ein: uns?

      Ich konnte nicht alleine bleiben, die Stille, wie sie mich mit einem Mal überfiel, ließ mich ungeduldig von einer Seite des Zimmers zur anderen wandern. Bis ich mich irgendwann dazu entschloss, einen Blick auf Cork zu werfen. Ja, ich wusste, dass das gefährlich war. Aber ich wollte nicht mehr eingesperrt sein. Mit meinen Gedanken und Jacks Enttäuschung, die innerhalb dieser vier Wände noch immer spürbar nachhallte.

      Vermutlich war es keine gute Idee von mir: Doch ich öffnete das Fenster, montierte die Bretter ab, die eine Sicht nach draußen unmöglich machten.

      All das, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen, um einen Streit zwischen Jack und mir zu verhindern. Nach meiner Rückkehr wollte ich in Ruhe mit ihm reden. Ihn erneut um Entschuldigung bitten.

      In diesem Moment jedoch wollte ich unbedingt nach draußen. Hinaus. Ich streckte den Kopf durch das Fenster, betrachtete die Umgebung.

      Regenwolken hatten sich über Corks Himmel zusammengebraut. Es war kurz vor Sonnenaufgang, doch das störte mich nicht. Es versprach, ein düsterer Tag zu werden, da konnte ich mich in den Schatten verbergen.

      Sobald ich mit einem sicheren Sprung auf dem Hof gelandet war, atmete ich erleichtert auf. Ich durchquerte den Hinterhof der Hospizanlage, kletterte über den Maschendrahtzaun. Zum ersten Mal seit meiner Verwandlung war ich alleine, ohne Jack, unterwegs.

      Auf dem Bürgersteig sah ich noch einmal zurück, nur flüchtig, um mich nicht im letzten Moment anders zu entscheiden.

      Und dann ging es los.

      Wie im Rausch flog ich durch die Straßen, während mir die Regentropfen die Sicht benebelten. An Autos vorbei, deren Fahrer mich vermutlich für ein wildgewordenes Reh oder eine Illusion ihrer morgendlichen Müdigkeit hielten.

      Ich kostete meine Kräfte aus, sprang auf Dächer, raste durch Vorgärten, erklomm Hochhäuser, wie eine Spinne, die ihr Netz durch die gesamte Stadt fädelte. Ich war so unvorsichtig, dass ich mir Jacks Predigt schon Wort für Wort ausmalen konnte. Sie beinhaltete die Worte: Falsch. Nicht richtig. Fehler. Und so weiter und so fort.

      Doch gegen einen selbstständigen Ausflug von mir konnte selbst er nichts haben. Ach, was spielte ich mir vor ...

      Einzig die Müdigkeit und der Durst, meine Blutarmut sozusagen, brachte mich irgendwann dazu: Anzuhalten.

      Direkt vor einem irischen Pub, der »The Circle« hieß.

      Davor tummelte sich eine Gruppe junger Leute, die sich gerade voneinander verabschiedeten. Sie bemerkten mich nicht, winkten einander zu, umarmten sich gegenseitig und riefen: »Bis dann.« Auf ihren Fahrrädern fuhren sie nacheinander davon.

      Nur ein Junge blieb zurück, dessen Haare ungekämmt waren, mit einem Kaugummi im Mund und offensichtlich schmerzenden Schläfen, die er mit den Fingern massierte.

      Sein Herz pochte so rasant, wie ein Kolibri, der mit den Flügeln schlug. Und er wirkte so ... unschuldig.

      Als er mich bemerkte, verzogen sich seine Mundwinkel zu einem schüchternen Lächeln. Auf seiner Wange bildete sich ein Grübchen. Er wirkte ausgesprochen süß, ja, das Wort war wie für ihn geschaffen. Ich vermutete, dass er noch bei seinen Eltern wohnte. Und vielleicht gerade mit dem Studium begonnen hatte. Was wohl seine Fächer waren? Kunst? Philosophie?

      Er grüßte mich mit einem knappen: »Hi.«

      Sollte ich umkehren?

      Ob es mein Jagdtrieb war, der mich so zu ihm führte? Meine Bedürfnisse ließen sich nicht länger unterdrücken. »Hi.«

      In seinen blauen Augen leuchtete die Aufregung. Er schien von meinem Anblick fasziniert zu sein. Auch das war wohl meinen Kräften geschuldet. Ich fragte mich, was er sah? Eine jüngere Frau, mit leichenblasser Haut und feurigen Haaren, die sich zu einer Zeit an ihn drängte, in der seine Stadt noch schlief? Es schien ihm jedenfalls zu gefallen, dass ich mich zu ihm gesellt hatte.

      »Ich heiße ...«

      Ich unterbrach ihn schnell. Seinen Namen wollte ich nicht wissen. Sonst traute ich mich nicht, ihm ein wenig Blut abzuzapfen. »Du heißt ... Liam«, schlug ich vor. Dass meine Stimme dabei verführerisch klang, war nicht meine Absicht.

      Er runzelte die Stirn und wirkte im ersten Moment verwirrt. Dann schien er zu begreifen. »Oh.« Die Verblüffung dauerte nicht lange. Er grinste und nickte. »Meinetwegen.« Nach kurzem Überlegen fügte er hinzu: »Und du bist ... Rose?«

      »Ganz genau.« Ich tanzte auf ihn zu. Von meinem Durst dazu verleitet, griff ich nach seiner warmen Hand und führte sie an meine Wange.

      Vermutlich würde ich all das aufgenommene Blut wieder ausspeien, doch ich wollte die Erfahrung machen, meine Grenzen austesten. Und selbst wenn es wie Gift auf mich wirkte, so konnte ich mich in der Gegenwart des Jungen nicht länger kontrollieren.

      »Möchtest du etwas trinken?«

      Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich dachte: ja.

      Ich dirigierte ihn in eine Seitengasse, direkt neben dem Pub, wo wir unter einem Vordach aus Holz Schutz vor dem Regen suchten. Daneben standen die Mülltonnen, die zur Gaststätte gehörten. Dem falschen Liam schien das nicht so angenehm zu sein. Er drehte sich mehrfach um, als ob er irgendetwas befürchtete, fragte mich leise: »Wirklich? Hier?«

      Ich zuckte mit den Schultern. Hier würden keine Passanten vorbeikommen. Es war der perfekte Ort für einige Sekunden Zweisamkeit.

      »Okay.« Mit entschlossener Miene, so als ob er sich selbst im Stillen Mut zugesprochen hatte, packte er meine Taille und hob mich hoch, drückte mich gegen die unverputzte Ziegelwand. Er schmiegte sich an mich, kam mit seinem Gesicht so nah heran, dass der Minzgeruch des Kaugummis den Gestank des Alkohols kaum noch übertünchte.

      Wie musste ich weitermachen? Sollte ich ihn gewähren lassen? Oder direkt einen Biss in seinen Nacken wagen? Plötzlich fühlte ich mich wie ein unbedarftes Schulmädchen, das seine Unsicherheit zu überspielen versuchte.

      Sobald ich seine Lippen spürte, so weich, als ob er sie regelmäßig mit Honig bestrich, war ich wie elektrisiert. Sein Kuss dauerte länger, als ich es geplant hatte. Ich ließ mich treiben, bis seine Hände zu meiner Hose wanderten. Da fiel es mir wieder ein. Mein hastig in den letzten Minuten zurechtgelegter Plan.

      Ich musste ihn, so hatte ich durch Jacks Erzählungen gelernt, in dem Moment tiefster Ekstase erwischen. Damit sein fiebriges Verlangen ihn dazu veranlasste, nicht vor mir zu flüchten, wenn ich ihm meine wahre Gestalt offenbarte. Letztendlich ging es nur darum, ihn von mir abhängig zu machen, so dass er sich nach mehr Stunden mit mir verzehrte, danach wortwörtlich bettelte.

      Auch wenn ich nicht vorhatte, ihn zu meinem