Sabine-Franziska Weinberger

Der Märchenmaler


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Morgen“, begrüßte sie ihn höflich.

      Der Klang ihrer Stimme ließ sein Herz kurz höher schlagen und ihr Anblick machte ihn sprachlos. Andächtig hielt er jeden ihrer feinen Gesichtszüge in Gedanken fest und versuchte sich Linie für Linie genau einzuprägen. Auch sie betrachtete ihn eingehend und wartete darauf, dass er ihren Gruß erwiderte oder zumindest etwas sagte. Irgendetwas.

      „Ich bin Vincent“, gab er schließlich zurück. „Der Idiot“, fügte er in Gedanken hinzu, da er sich über seine Unfähigkeit, ein Gespräch interessant zu beginnen, maßlos ärgerte.

      „Ich weiß“, erwiderte sie.

      „Natürlich weiß sie, wer du bist, sonst wäre sie ja nicht hier“, schalt sich der junge Mann und überlegte angestrengt, was er als nächstes sagen sollte.

      „Möchtest du Platz nehmen?“, meinte er schließlich und zeigte auf ein paar Gartenstühle, die um ein zierliches weißes Holztischchen gruppiert waren. Das Mädchen nickte wortlos und der junge Mann rückte ihren Stuhl zurecht, um seine Unsicherheit zu überspielen. Nachdem sich beide Platz genommen hatten, bot ihr Vincent ein Glas Limonade an, doch die schöne Unbekannte lehnte dankend ab.

      „Ich werde nicht lange bleiben!“, kündigte sie an und senkte ihren Blick.

      „Schade“, murmelte Vincent. „Was führt dich zu mir, wenn die Frage erlaubt ist?“

      Das Mädchen sah auf und bedachte ihn mit einem Blick, den er nicht deuten konnte.

      „Meister Vincent, ich …“, sprudelte es aus ihr heraus, doch dann hielt sie unvermittelt inne, so als suchte sie nach den richtigen Worten, die ihre Anwesenheit erklärten und ihren Besuch rechtfertigten.

      „Vincent … wenn’s recht ist!“, erwiderte er kaum hörbar, während sein Blick neugierig auf ihr ruhte. Er hatte keine Ahnung, warum sie hier war, aber worum sie auch bat, würde er erfüllen, soweit es im Bereich seiner Möglichkeiten lag.

      „Vincent“, begann sie mit gedämpfter Stimme, „es ist sonst nicht meine Art, unangemeldet in fremde Häuser zu platzen, aber meine Situation lässt mir keine andere Wahl. Ich …“

      Ihre Stimme versagte abermals, und Tränen traten in ihre Augen. Vincent warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. Seit er sie das erste Mal auf dem Marktplatz gesehen hatte, wusste er, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Und wieder entdeckte er in ihren Augen diese tiefe Traurigkeit, die ihm von Anfang an aufgefallen war.

      „Ich bin hier, weil ich deine Hilfe benötige“, presste sie schließlich hervor.

      Eine Sekunde lang glaubte er, dass sie zu weinen anfing. Doch sie bemühte sich erfolgreich, ihre Tränen zurückzuhalten. Vincent schaute kurz in die Sonne, worauf seine Augen sofort wieder zu brennen begannen. Trotzdem gelang es ihm eine vertrauenerweckende Miene aufzusetzen, die sie ermutigen sollte, ihr Anliegen vorzubringen.

      „Wie kann ich helfen?“, meinte er zuvorkommend, worauf sich ein Anflug von einem Lächeln auf ihrem Gesicht zeigte.

      „Du musst mich malen!“, kam es wie aus der Tube geflossen. „Ich brauche ein Bild von mir. Möglichst schnell!“

      Vincents Kehle schnürte sich augenblicklich zusammen. Seit einer Woche tat er nichts anderes, als seine ganze künstlerische Kraft aufzubieten, um die vollkommenen Züge ihres Antlitzes auf die Leinwand zu bringen, und nun bat sie ihn ausgerechnet um etwas, das er trotz größter Anstrengungen nicht zustande brachte.

      Der Blick des Mädchens war in atemloser Spannung auf ihn gerichtet, aber nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, hätte sie ihn darum besser nicht gebeten.

      „Ich kann nicht!“, wandte er verlegen seinen Blick ab. Ein Kälteschauder zog durch seinen Körper. Ohne sie anzusehen, wusste er, dass sie maßlos enttäuscht war. Mit Widerwillen hob er seinen Kopf und sah ihr in die Augen. Unbeschreibliches Entsetzen und Furcht spiegelten sich dort wider.

      „Aber … aber du bist doch Vincent, der Märchenmaler?“, stammelte sie und versuchte, die Verzweiflung in ihrer Stimme zu verbergen.

      Der junge Mann erwiderte nichts. Er kämpfte gegen sein schlechtes Gewissen und sie glaubte förmlich zu spüren, wie er sich innerlich wand. In der Tat fühlte er sich miserabel. Da war etwas in ihrer Stimme, in ihren Augen, in der Art, wie sie ihn ansah, das seinen Atem zum Stocken brachte und sein Herz in Tausend Stücke riss, weil er ihren Wunsch nicht erfüllen konnte. Und das Schlimmste war, dass er sie ja malen wollte, da sie tief in seinem Inneren den sehnlichen Wunsch hervorrief, ein Bildnis von ihr zu schaffen, es aber nicht konnte, weil sein Talent dazu nicht ausreichte.

      „Nein, ich bin Vincent, der seine Rechnungen nicht bezahlen kann!“, erwiderte er traurig, „und habe mit der Malerei … äh … aufgehört.“

      Seine Worte entsetzten sie aufs Neue und einen Augenblick lang hätte er schwören können, dass seine bezaubernde Besucherin wie ein Fernsehbild aus den ersten Tagen flimmerte. Ungläubig rieb er seine geröteten Augen, und als er ihr abermals einen Blick zuwarf, war das Flimmern vorbei, wobei Vincent davon ausging, dass ihm seine übermüdeten Augen einen Streich gespielt hatten.

      Das Mädchen fühlte sich wie in ein Fass Tinte getaucht. Der Schrecken saß ihm in allen Gliedern, und es starrte ihn an, als könne es nicht glauben, was er da von sich gab.

      „Willst … willst du damit andeuten, dass du …?“, flüsterte die Unbekannte mit fast unhörbarer Stimme und brach ab, unfähig, ihren Satz zu Ende zu bringen.

      „Tut mir leid“, brach es aus Vincent heraus, und er umfasste beide Stuhllehnen mit festem Griff, so als suche er Halt, für das, was er ihr gleich sagen würde. Er schluckte und suchte nach den richtigen Worten. „Das mit den Märchen ist Geschichte. Wie heißt es schön: Es war einmal …“

      „Es war einmal, heißt nicht, dass es vorbei ist“, fiel sie ihm hastig ins Wort, „sondern dass es immer wieder von vorn beginnt. Was einmal war, hat für immer Gültigkeit!“ Sie beugte sie leicht nach vor und bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. „Ich war der Meinung, du hättest das begriffen!“

      „Und wie kommst du darauf?“, wollte Vincent wissen.

      „Weil du tief in dir drinnen ein Kind geblieben bist. Die meisten Erwachsenen sind nur noch leblose Hüllen, die mechanisch im grauen Alltag untergehen. Es gibt keine Farbe mehr in ihrem Leben. Sie sind erstarrt. Zu Stein geworden. Kalt und tot. Aber dir Vincent ist das Kunststück geglückt, das Kind in dir zu bewahren. Mit zerzaustem Haar, falsch zugeknöpften Jacken und verschieden farbigen Socken ziehst du mit deinen Farbtöpfen und Pinseln durch die Welt, und dein Blick ist noch nicht verstellt … für das Wesentliche.“

      „Das da wäre?“, hob Vincent fragend eine Augenbraue und einen Moment lang glaubte sie, den kleinen Jungen sehen zu können, der er einst gewesen war.

      „Licht und Farbe“, erwiderte sie mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen. „Und selbstverständlich Märchen“, fügte sie schnell hinzu.

      „Für die sich niemand interessiert!“, erwiderte er niedergeschlagen.

      Die Bitterkeit in seinen Augen tat ihr weh. Energisch schüttelte sie ihren Kopf.

      „Das stimmt nicht!“, rief sie enttäuscht.

      „Nein?“, erwiderte er und seine Gedanken wanderten unwillkürlich zu seinem Gespräch mit Monika. Vor seinem geistigen Auge entstand das Bild seiner Freundin, die ihm unaufhörlich einredete, dass Märchen lediglich Lügengeschichten wären.

      „Nein!“, rief die unbekannte Schöne und hielt seinem Blick stand. „Märchen sind unvergänglich und zeitlos, da sie uns helfen, die Welt zu verstehen und unsere Abenteuer zu bestehen. “

      „In meinem Leben gibt es keine Abenteuer“, wurde sie von Vincent unterbrochen. „Nur unbezahlte Rechnungen!“

      „Das Leben ist immer ein Abenteuer, Vincent!“, erklärte sie ruhig. Auch wenn es derzeit nur aus unbezahlten Rechnungen besteht.