Sabine-Franziska Weinberger

Der Märchenmaler


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der Welt keinen Ort gab, an dem er sich lieber aufhielt. Doch in diesem Moment war das nicht so. Konnte es sein, dass ihm in seinen eigenen vier Wänden eine feindliche Atmosphäre entgegenschlug? Vincent schüttelte den Kopf. „Du bist übermüdet!“, suchte er nach einer vernüftigen Erklärung für das mulmige Gefühl in seinem Bauch.

      „Da ist er ja, der Lümmel!“, hörte er plötzlich jemanden sagen, obwohl sich außer ihm keiner im Raum befand. Vincent drehte sich rasch um, konnte jedoch niemanden entdecken.

      „Ich halluziniere“, dachte er verstört, schloss schnell seine Augen, und hoffte, dass die Stimme wieder verschwand. Das tat sie auch. Aber zu seinem maßlosen Entsetzen vernahm er eine andere.

      „Behandelt man so eine Dame in Not?“, wurde er scharf zurechtgewiesen. „Schäm dich!“

      „Rüpel!“, ertönte es von weiter hinter. „Flegel!“, von der anderen Seite. „Taktloser Banause!“ aus der Mitte. Und jemand meinte sogar: „Dem müsste mal einer anständige Manieren beibringen!“

      Plötzlich waren da hunderte von Stimmen. Vielleicht sogar tausende. Über Vincent brach ein regelrechtes Donnerwetter herein. Er brauchte einen Moment, um einen klaren Gedanken zu fassen. Doch je länger er überlegte, wurde dem jungen Mann klar, dass an einen vernünftigen Gedanken nicht zu denken war.

      „Ihr seid alle nicht echt!“, rief er den Stimmen im Raum zu, worauf es kurz still wurde.

      „Nicht echt!“, brüllte die erste Stimme zurück.

      Vincent wusste besser als jeder andere, dass diese Stimmen nur eine Folgeerscheinung seiner Übermüdung waren, da er sich ja ansonsten in einem ... Unfähig, den Gedanken zu Ende zu bringen, rief er: „Ihr seid nicht echt, sondern nur Einbildung meiner Fantasie!“

      „So“, konterte der Tenor. „Einbildung meinst du. Vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise bist du hier der Eingebildete und wir die Wirklichkeit!“

      Unsicher, was die Stimme ihm damit sagen wollte, erwiderte Vincent: „Dann zeig mir doch, wie wirklich du bist!“

      „Nichts leichter als das, Vincent!“, kündigte der Angesprochene an. „Jungs! Ich glaube der Rohling hier hat eine Lektion verdient!“

      „Ich bin kein Junge“, vernahm Vincent die feine Sopranstimme, die er schon gehört hatte.

      „Ist ja nicht deine Schuld“, meinte der Tenor trocken, während er einen Blick nach hinten warf. „Also dann, Tuben und Dosen, zeigen wir dem neunmalklugen Grobian, wie echt wir wirklich sind!“

      Flugs flogen unzählige Farbenkleckse durch die Luft, und es dauerte nicht lange, bis Vincent seiner Farbenpalette ernsthafte Konkurrenz machte. Zu seinem Entsetzen und zur Freude seiner Widersacher stand er mitten im Raum und bot eine ausgezeichnete Angriffsfläche für ihre Offensive. Rote, grüne, blaue, gelbe, orange, violette, braune und schwarze Farbpatzen flogen dem jungen Mann von allen Seiten entgegen und ein karmesinroter Klecks landete sogar – klatsch – auf seiner Nase, obwohl er die Hände schützend vor sein Gesicht hielt.

      „Aufhören! Hört auf!“, flehte Vincent seine Farben an und zog schnell ein weißes Taschentuch aus seiner voll geklecksten Hose, um sich zu ergeben.

      „Schon besser“, meinte die Tenorstimme gnädig, worauf der Klecksregen vorerst eingestellt wurde.

      „Was … was wollt ihr von mir?“, fragte Vincent eingeschüchtert und fühlte zahllos unsichtbare Augen wie Rasierklingen in seinem Rücken.

      „Wir wollen gar nichts!“, erwiderte die erste Stimme. „Aber Farbenfein braucht deine Hilfe. Sofort!“

      „Farbenfein?“, wiederholte der junge Maler verwundert und verstand gar nichts. „Wer soll das sein?“

      „Na, das Mädchen, das heute bei dir war!“, wurde ihm zugerufen.

      „Woher wisst ihr von ihm?“

      „Das wissen sie von mir!“, teilte die erste Stimme mit und Vincent sah, wie ein Pinsel mit violettem Holzstiel, kurzer Quaste und weißen Naturborsten rasch sein linkes Hosenbein und Hemd hinaufkletterte, um es sich auf seiner rechten Schulter gemütlich zu machen.

      „Von Pilobolus, deinem Lieblingspinsel.“

      „Und von mir, Filomena, deiner Feder“, trällerte die weibliche Sopranstimme, die einer zierlichen, vergoldeten Zeichenfeder gehörte, welche schwungvoll auf Vincents Zeichenbrett hüpfte, wo sie elegant Platz nahm.

      „Und mir“, brummte eine tiefe Bassstimme.

      „Uuund duuu hast natürlich auch einen Namen“, stammelte Vincent und widerstand dem inneren Drang, das Atelier fluchtartig zu verlassen.

      „Selbstverständlich, ich bin Barock, dein Zeichenblock.“

      „Barock?“, wischte sich Vincent ungläubig mit dem Taschentuch über seine mit Farbklecksen übersäte Stirn. „Wie die Kunstepoche?“

      „Genau!“

      „Jetzt unterhalte ich mich doch tatsächlich mit meinem Zeichenblock“, stellte Vincent sichtlich schockiert fest und zwang sich ruhig zu bleiben. „Ich glaub’, mir fliegt gleich die Palette weg!“, dachte er vezweifelt und strich sich mit einer Hand durch das von den vielen Farbspritzern völlig verklebte Haar. Durch das Fenster fiel sanftes Herbstlicht auf sein Gesicht, doch der junge Mann bemerkte es nicht. Fieberhaft versuchte er zu verstehen, was um ihn herum vor sich ging, doch es gab dafür keine einleuchtende Erklärung, außer, dass er nun endgültig seinen Verstand verlor.

      „Du bist nicht verrückt, Vince!“, schien Pilobolus seine Gedanken zu erraten und blickte zu dem verzweifelten Bild auf, das der junge Maler bot. Dunkle Ringe belagerten seine Augen und eine tiefe Falte grub sich unbarmherzig in seine Stirn.

      „Wie beruhigend, das von meinem Malpinsel zu hören “, dachte Vincent sarkastisch und sah Pilobolus verstört an.

      „Du hast nur ein wenig das Ziel aus den Augen verloren!“, fuhr Barock fort. „Daher haben wir beschlossen, dir ein wenig“, er räusperte sich kurz, „Entwicklungshilfe zu leisten!“

      Obwohl der junge Maler sich ernsthaft bemühte, seinen aufkommenden Ärger zu unterdrücken, gelang es ihm nicht.

      „Wie aufmerksam!“, fuhr er seinen Zeichenblock an. „Zum Glück bin ich auf eure … äh … Entwicklungshilfe nicht angewiesen, weil ich mir meine Richtung selber aussuche, und wenn wir nun alle wieder so tun könnten, als wärt ihr die Farben und ich der Maler, wäre ich euch zu großem Dank verpflichtet!“

      „Geht nicht!“, erwiderte Pilo fransig und seine Stimme durchdrang Vincents Bewusstsein wie eine misslungene Zeichenlinie. Der junge Maler sah den Pinsel verständnislos an und sein Ärger verwandelte sich augenblicklich in hellen Zorn.

      „Wieso nicht?“

      „Weil Farbenfein in großer Gefahr ist!“, beantwortete Filomena seine Frage, und auch ihre spitzen Gesichtszüge waren mittlerweile vor Ärger dunkel gefärbt.

      „Unsinn!“, hielt ihr Vincent entgegen. Die kleine Zeichenfeder schloss darauf kurz ihre Augen, als wollte sie Kraft sammeln, um Vincent gebührend zu antworten.

      „Farbenfein wird in Tristesse gefangen gehalten“, teilte sie ihm so ruhig wie möglich mit. „Wenn es nicht bald gelingt, sie zu befreien, wird sie für immer verblassen. Und Kolorien mit ihr.“

      „Das ist ja heiter!“, setzte Vincent an. „Dann erklär mir doch bitte, wie sie es heute in meinen Garten geschafft hat, wenn sie sich angeblich irgendwo in Gefangenschaft befindet!“

      „Das, was du heute gesehen hast, war nicht sie!“, beantwortete Barock seine Frage. „Das war nur ein Bild von ihr. Eine Projektion, welche sie bestimmt unmenschliche Kräfte gekostet hat. Bedauerlicherweise umsonst!“

      Vincent sah seinen Zeichenblock leicht verwirrt an. Seine Worte hatten ihn getroffen, obwohl er nicht genau hätte sagen können