3 Kolorien „Eine Reise ist ein vortreffliches Heilmittel für verworrene Zustände.“ Franz Grillparzer, österreichischer Dichter und Dramatiker (1866-1944) Vincent marschierte mit seinen Farben und seinem Malzubehör durch das von Pilobolus gemalte Tor und verlor augenblicklich das Gleichgewicht. Einen Moment lang kam es ihm vor, als schwebte er durch etwas, das ihn an Herbstnebel erinnerte, silbrig glänzte und ihn schützend wie einen Kokon umgab. Überall roch es nach frischer Farbe, Öl, Kreide und Buntstiften. Der junge Mann hatte keine Ahnung, wo er sich befand und wurde unversehens nach oben gehoben. Und das ziemlich schnell. Als sich der Nebel allmählich lichtete, schlug Vincent der Länge nach auf. Er wollte aufstehen, doch das erwies sich als schwierig, und nach mehreren kläglichen Versuchen war der Maler froh, dass ihm sein Malpinsel half. „Danke“, lächelte er und ergriff dessen Hand. „Willkommen in Kolorien!“, begrüßte ihn Pilobolus freundlich. Vincent sah sich neugierig um. Sein erster Blick fiel auf einen ins Sonnenlicht getauchten Teich, der sich sanft an die ihn umgebende Erde schmiegte. Der Maler befand sich am Fuße eines mächtigen Baumes, der wie eine Riesenqualle aussah und an dessen Wurzeln eine Quelle entsprang, die eigenwillig gewunden ihren Weg hinunter zu einem in Türkis schimmernden Bächlein gluckste und gurgelte. Bei genauerem Hinsehen entdeckte der Maler mehrere Weiher und Tümpel und der Boden um ihn herum war von einer bunt schillernden Kruste überzogen und funkelte, als wäre er in Diamantenstaub getaucht worden. Etwas Schöneres hatte Vincent in seinem ganzen Leben nicht gesehen. Und diese Farben. Diese Klarheit. Diese Leuchtkraft und Brillanz. Die Quellenlandschaft vor ihm wurde von sanft geformten Hügeln umrahmt und wirkte wie ein mystisches Bild, das von ungewöhnlich farbigem Licht durchflutet wurde, sich leicht unscharf vom silbernen Rand entlegener Berge abhob und abwechselnd ins Goldene, Orangerot oder Dunkelrot spielte und an die Farben einer untergehenden Sonne erinnerte, die sich nach einem langen Tag nach der Stille der Nacht sehnte. Unvermittelt vernahm Vincent ein Blubbern neben sich wahr und wurde von Pilobolus schnell zur Seite gezogen. Keinen Moment zu früh, denn neben dem Maler schoss eine gigantische, königsblaue Farbfontäne in den Himmel. Einen Moment später wölbte sich ein goldener Farbenspiegel in unmittelbarer Nähe und schickte abermals einen mächtigen Strahl nach oben. Winterweiß, Zyklamenlila und Safrangelb folgten innerhalb weniger Sekunden. Der Maler beobachtete sprachlos das beeindruckende Schauspiel und traute seinen Augen nicht. „So intensive Farben habe ich noch nie gesehen!“, rief er andächtig. „Das ist ... fantastisch!“ „Das ist es!“, bestätigte Pilobolus lächelnd. Unsere Springfarbenquellen sind einzigartig und gehören zu den wenigen Flecken in Kolorien, die von Monotonia und ihrer Bande noch nicht zerstört wurden. Leider gibt es nicht mehr viele davon, da das Land unter ihrer Herrschaft immer mehr dem Grau gleich gemacht wird. Wenn es nicht bald gelingt, ihr Einhalt zu gebieten, wird auch dieser Ort von ihren Verwüstungen nicht verschont bleiben. Die Quellen werden nach und nach versiegen, ihre Farben verblassen und schließlich von den Grauschatten aufgesaugt werden.“ „Klingt nicht gut!“, rief Vincent, dem Pilobolus‘ Niedergeschlagenheit nicht entging. „Klingt schrecklich“, stimmte ihm Filomena traurig zu, „daher brauchen wir deine Hilfe, um Farbenfein so schnell wie möglich aus den Fängen der Grauen Hexe und ihrer Grauschatten zu befreien.“ „Was sind Grauschatten?“, erkundigte sich der Maler und sah seine Feder neugierig an. „Grauschatten sind Grauen erregende Geschöpfe, die im oberen Teil Fledermäusen gleichen und im unteren Teil auf zwei Hühnerbeinen stehen. Sie sind blitzschnell, unersättlich und ernähren sich ausschließlich von Zeichnungen, denen sie jedes bisschen Farbe aussaugen.“ „Fledermäuse auf Hühnerbeinen?“, schmunzelte Vincent und schüttelte ungläubig seinen Kopf. „Das hört sich vielleicht lustig an, ist es aber nicht!“, erwiderte Filomena traurig. „Grauschatten sind berüchtigt und gefürchtet, und in ihrer Unersättlichkeit werden sie nur von den Farbenfressern übertroffen, die etwas größer sind und schmuddeligen Zottelbären ähneln, mit dem Unterschied, dass sie auf Ochsenbeinen gehen. Wo immer sie auftauchen, entfärben sie jeden Flecken Farbe und hinterlassen alles, was sich ihnen in den Weg stellt, grau und trostlos.“ Die Vorstellung von verfilzten Zottelbären auf Ochsenbeinen ließ Vincent unwillkürlich frösteln und er biss sich auf seine Unterlippe, die in Kolorien etwas seltsam schmeckte. Fast gegen seinen Willen fragte er: „Wer ist Monotonia?“ „Ihre Gebieterin, der sie bedingungslos gehorchen“, wurde der Maler von seinem Zeichenblock aufgeklärt. „Wir wissen nicht viel über die graue Hexe, bis auf dass sie jede Art von Farbe abgrundtief hasst. Mit falscher Freundlichkeit und Heimtücke ist es ihr gelungen, sich das Vertrauen von Farbenfein zu erschleichen und mit Hilfe von der da oben“, Barock zeigte wütend in Richtung Sonne, „hat sie unsere Hüterin der Farben nach Tristesse gelockt und dort gefangen genommen.“ „Was hat Monotonia nun vor?“, wollte Vincent wissen, während sein Blick von seinem Block wieder zu seiner Feder wanderte. „Monotonia hat unsere Sonne beschwatzt unterzugehen und ihr versprochen, sie beim nächsten Aufgang zum mächtigsten Stern aller Zeiten zu machen.“ Dass eine Sonne unterging, erschien Vincent nicht sonderlich bösartig, deshalb meinte er mit der Schulter zuckend: „Ein Sonnenuntergang ist nichts Ungewöhnliches. Sonnen gehen unter. Das ist ganz normal!“ „Bei uns nicht!“, rief Filomena und in ihren Augen standen Tränen der Verzweiflung. „Bei euch nicht?“ „In Kolorien geht die Sonne niemals unter!“, ließ Filomena ihn wissen. Und wenn sie untergeht, geht ganz Kolorien mit ihr unter.“ „Aha“, warf Vincent seiner Feder einen leicht ratlosen Blick zu und ließ sich die Bedeutung ihrer Worte kurz durch den Kopf gehen. „Sofern ich richtig verstehe, will Monotonia Kolorien vernichten, indem sie die Sonne zum Untergehen bewegt.“ „So ist es“, erwiderte Filomena verbittert und sah zu ihm verzweifelt auf. Vincent runzelte seine Stirn und schüttelte verständnislos den Kopf. Wie konnte jemand nur einen so wunderbaren Ort wie die Springfarbenquellen vernichten wollen? „Deshalb sind wir hierher, um ihren Plan zu vereiteln“, gab sich Pilobolus kämpferisch. „Sie zerstört unsere Farben, unser Licht, unser Land und daher werden wir sie für alles Graue, das sie uns angetan hat, zur Rechenschaft ziehen.“ Vincent schwieg einen Moment. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, machte er ein paar Schritte auf den Teich vor ihm zu, um einen Blick hineinzuwerfen. Der junge Künstler sah auf die ruhige, grünlich schimmernde Wasseroberfläche unter ihm und betrachtete gedankenverloren sein Spiegelbild, mit dem irgendetwas nicht stimmte. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. „Ich bin eine Zeichnung!“, stellte er zu seinem maßlosen Entsetzen fest und wich einen Schritt zurück. Ich bin eine Zeichnung! UND NOCH DAZU EINE ZIEMLICH MIESE!“ Betroffen drehte er sich schnell um und suchte in Pilobolus’ Augen nach einer Erklärung für die Katastrophe, die von der Wasseroberfläche widerspiegelt wurde. „Oh, oh, das habe ich dir leider vergessen zu sagen, dass du zu einer Zeichnung wirst, wenn du mit uns durch das Farbentor gehst?“, erwiderte sein Borstenpinsel scheinheilig. „Mehr fällt dir nicht dazu ein!“, rief Vincent wütend und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich augenblicklich. Ungläubig drehte er sich wieder um und machte einen Schritt nach vor, um nochmals einen skeptischen Blick auf sein Spiegelbild zu werfen, als könne er nicht glauben, was er da unter sich sah. „Wieso sehe ich so schlecht aus?“, rief er empört. „Du siehst