Günther Seiler

Die Balken biegen sich doch nicht


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‚Heringskopp‘, kommen Sie doch einmal mit.“ Den sprachlosen Gesichtsausdruck des Herrn Doktor würde sie so schnell nicht vergessen. Erna war praktisch veranlagt und sie konnte Knobeln wie ein alter Kutscher und ließ sich von den Männern nichts vormachen. Sie wurde an dem Tresen geachtet und ihrer Knobelkünste wegen auch gefürchtet, sodass immer weniger Stammgäste mit ihr den Becher schwingen wollten. Erna konnte auch gut kochen und backen und es war schon vorgekommen, dass sie ein ganzes Blech Kuchen aus Omas Rezeptbuch, wie sie stolz bemerkte, für die Tresenbesatzung mit gebracht hatte.

      Vor langer Zeit, als die Personenfähre in Grünenhagen Richtung Bienenbüttel über die Ilmenau noch in Betrieb war, kamen hier in die Kneipe ‚Heringskopp‘ auch die Fährleute, um den wohlverdienten Fährfeierabend zu genießen. Die letzte Fähre fuhr im Sommer um zwanzig und im Winter um achtzehn Uhr. Die Fähre war immer mit zwei Mann besetzt und wenn einer der Festmacher, so hießen die Matrosen, einmal krank war oder Urlaub hatte, half ein Bauer aus der Gegend aus. Den Kapitän zu ersetzen, er musste das Kapitänspatent haben, auch wenn die Ilmenau nicht so furchtbar breit ist, sah es schon schlechter aus. Mit einem pensionierten Kapitän konnte man sich bei rechtzeitiger Urlaubsplanung durchaus helfen, aber plötzliche Krankheiten oder sogar ein Unfall des Kapitäns waren so schnell nicht aufzufangen. Dann kam ein Schild an den Anleger auf beiden Seiten mit der Aufschrift „Wegen Krankheit des Kapitäns bis auf Weiteres geschlossen“. Das war allerdings immer ein Drama, denn wie kam man so schnell auf die andere Seite der Ilmenau, um einzukaufen oder seine Kühe auf die andere Seite des Flusses zu bringen? Einige meinten, das wäre nicht so schlimm, denn dann wüsste man, dass die eigene Mischpoke nicht plötzlich unangemeldet vor der Tür stünde. Wer sich aber am meisten freute, das waren die Schulkinder, aber natürlich nur, wenn Schulbetrieb war. Es kam einmal vor, dass der Kapitän während der Ferien für sage und schreibe eine Woche wegen Zahnschmerzen komplett ausgefallen war. Und als er wieder fit war und die Kinder zur Schule mussten, drehten sie ihm demonstrativ in den ersten Tagen den Rücken zu und starrten aufs Wasser. Sie dachten wohl über die verpassten Möglichkeiten der Feriengestaltung auf der anderen Seite der Ilmenau nach. Bei der ersten und letzten Tour eines jeden Fährtages, denn am Sonntag fuhr die Fähre im Winter nicht, musste der Kapitän ohne seinen Festmacher fahren, denn der Festmacher wohnte auf der gegenüberliegenden Seite des Kapitänwohnsitzes. Das war im Herbst und im Winter in der Woche für den Kapitän besonders ärgerlich, denn er musste bei Wind und Wetter aus seiner warmen Kajüte, um den Tampen zu lösen oder festzumachen. „An sich müsste ich für diese Zeit doppeltes Geld bekommen“, hatte er einmal bei kaltem Nebel in seine übel riechende Pfeife geknurrt. Sein Festmacher hatte einmal gemurrt: „Was rauchst du bloß für ein Kraut, das riecht ja, als würdest du die Haare der Meerjungfrau der Ilmenau in deiner Pief rauchen.“ Nach Feierabend kam der Kapitän aber regelmäßig mit seinem alten Moped in den Heringskopp gefahren und knobelte oder unterhielt sich mit den Arbeitern der Fischfabrik und des Kieswerkes.

      Da sagte eines Tages ein alter Stammgast, ein Fischer zu ihnen und sie unterbrachen ihre Knobelei: „Sagt mal, was haltet ihr von einer Attraktion bei dem nächsten Frühjahrsfest. Das Fest findet ja auch zum Teil an den Anlegern der Fähre statt. Wie wäre es, wenn es während der Überfahrt ein Heringswettessen gäbe, solange die Fähre unterwegs ist? Erst wenn der Tampen über den Poller vom Festmacher auf der anderen Seite der Ilmenau geworfen wird, ist Schluss. Wer während der Überfahrt die meisten Heringe isst und bei sich behält, hat gewonnen und bekommt einen Orden und eine Kiste Bier und Köm.“ Köm war hier im hohen Norden der gute Korn. Es hieß auch in der Kneipe bei der Bestellung: „Ich hätte gerne einen Lütt und Lütt.“ Das bedeutete, eine kleine Flasche Bier und einen Korn.

      Die Idee kam an und die Mitarbeiter der Fischfabrik besorgten rechtzeitig zum nächsten Frühjahrsfest Kisten von frischen, gleich großen Heringen. Gegen einen Obolus, der die Fährfahrt und die Heringe enthielt, konnte der Kandidat auf der Fähre seinen Appetit zeigen. Neben den Heringskampfrichtern mit Stoppuhr und der Liste wurde laut „Los“, gerufen, als der Tampen vom Poller vom Festmacher entfernt war und laut „Stopp“, geschrien, als auf der anderen Seite der Poller den Tampen aufnahm. Viele Gäste fuhren mit. Für den Kapitän war das der umsatzstärkste Tag im Jahr. Bei dem nächsten Fest wurden für andere Teilnehmer an Land Kieler Sprotten, also kleine geräucherte Heringe angeboten. Als Zeitraumfestlegung wurden das Ablegen der Fähre und das Wiederanlegen auf derselben Seite gewertet. Der Wettkampfzeitraum war zwar länger, dafür waren die Fische auch viel kleiner.

      Der Wettkampf auf der Ilmenau war schon lange vorbei und an einem Sonntagabend saß mit wenigen Gästen der Student Gottfried Wiegbold am Tresen in der Kneipe. Er hatte sich vorher sein Budget angesehen und beschlossen, sich mit dem Knobeln zurückzuhalten, zumal er die letzten Male immer verloren hatte und der finanzielle Verlust bei ihm als Student der Psychologie hier in Lüneburg besonders schmerzlich war. Gottfried leitete eine freiwillige Studentengruppe, die sich mit Konfliktlösungen im häuslichen Bereich beschäftigte. Das selbst gestellte Thema in Absprache mit dem Professor sollten sie später einmal in die Abschlussarbeiten einfügen und, wenn sie zu interessanten Ergebnissen kämen, sollte darüber ein Artikel in einer Fachzeitschrift erfolgen. Die Studenten saßen lange beisammen und überlegten, wie man dieses Thema am besten angehen könnte, um in jedem Fall zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Gottfried sah aus dem Kneipenfenster und, als er wieder den Blick wendete, kam ihm plötzlich die Idee. Es war ihm ein Foto aus der örtlichen Presse zum letzten Fährfest über die Ilmenau aufgefallen.

      Der Wirt Hubertus Mertens sah ihn an: „Na Gottfried, was überlegst du?“ Gottfried war schon immer etwas schüchtern und bevor er sich äußerste, überlegte er immer ein paarmal, ob seine Worte auch richtig verstanden werden würden: „Hubertus, ich denke einmal laut. Du weißt, dass wir uns in unserer Studentenarbeitsgruppe mit dem Thema ‚Deeskalation im häuslichen Bereich‘ beschäftigen. Ich meine damit, dass man sich in, sagen wir einmal, hitzigen Gesprächen in der Familie ruhig und immer sachlich betont verhalten sollte, bevor es zu persönlichen Kollateralschäden kommt, die nicht mehr rückgängig zu machen sind oder fast nicht mehr. Wenn also zum Beispiel die Tochter arbeitslos wird, ihre Wohnung verliert und ihre Beziehung in die Brüche geht und dann die Mutter ihr noch Vorhaltungen macht, dass sie selber Schuld sei, so hilft es überhaupt nicht die Probleme zu lösen. Selbst wenn die Mutter das so oder so gemacht hätte und Erfolg gehabt hätte, ist immer noch die Frage, ob das bei der Tochter letztlich auch geklappt hätte und sie zum Beispiel ihren Job, die Wohnung oder die Beziehung behalten hätte.“ Hubertus sah ihn an: „Bedenke aber, mein lieber Gottfried, dass auch bei einem Donnerwetter von der Mutter durchaus Klarheiten geschaffen werden könnten. Entweder sucht man gemeinsam einen Weg aus der Misere, wo sich beide Parteien aufgehoben fühlen und somit ohne Groll bei einem nächsten Telefongespräch darüber wiederum sachlich geredet werden kann, oder man geht ganz einfach getrennte Wege. Für eine Zeit oder für immer. Nach dem Motto, besser ein Ende mit Schrecken...., du weißt schon, was ich meine. Ich glaube, Gottfried, die Welt wäre friedlicher, wenn wir nicht immer meinen, Rivalitätskämpfe um unsere Position bestreiten zu müssen. Eine Tochter hat nun einmal diese Position und die Mutter eine andere. Ich meine damit nicht die Einstellung zu einer Sache oder Thematik, sondern die Stellung in der Evolution oder Natur, ganz wie man es sagen möchte. Immer wieder alles von Neuem infrage zu stellen, ist müßig und, wie sagen die Juristen so schön? Das ist nicht zielführend! Es sollte alles zu einem Ergebnis, zu einem Ziel führen. Meinst du nicht auch?“

      Gottfried sah ihn an: „Ja, das meine ich auch. Mach mir doch bitte noch ein Bier. Zurück zum Thema, du hast Recht, wenn du sagst, dass man auch ein Scheitern wie in diesem Beispiel mit der Mutter und der Tochter oder von dem Vater zum Sohn im Auge behalten soll, klar, das Leben ist so, und wenn man die Kämpfe um die eigene Position immer weiterführt und nicht einfach den Status quo anerkennt, geht das auch ewig so weiter, bis die Mutter oder der Vater eines Tages auf dem Kirchhof liegt. Meine Idee zum nächsten Wettkampf hat den persönlichen Hintergrund mit deiner Schwester zum Inhalt, was ich hier so im Laufe der Zeit am Tresen mitbekommen.“

      Hubertus sah ihn an und unterbrach das Bierzapfen: „Was hat Gudrun damit zu tun? Nur weil wir wegen eines Streites seit Jahren keinen Kontakt mehr haben? Das verstehe ich nicht, erkläre es mir.“ Gottfried bekam vor Aufregung rote Ohren: „Hubertus, klar, es geht nur euch etwas an, den Streit zwischen euch, meine ich. Meine Idee ist aber, deine Schwester hat doch auf der anderen Seite