Günther Seiler

Die Balken biegen sich doch nicht


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Er besaß außerhalb von Hitzacker in der Göhrde ein großes Anwesen mit einem alten schönen Baumbestand. Und da begannen die Diskussionen, die schon zu heftigem Gesprächsstoff in der Nachbarschaft und auch in seiner Kneipe Gärwiete in Hitzacker gesorgt hatten. Hier standen sich zwei Lager gegenüber, die allerdings zwar hämisch, aber nicht bösartig miteinander umgingen. Man war schließlich auf dem Lande und musste miteinander auskommen. Zum strittigen Thema hielten sich aber alle für Fachleute, die sogar behaupteten, jemanden zu kennen, der in einer Baumschule beschäftigt war. Es ging um das aufwändigste und langsamste Hobby der Welt. Einige Hobbyisten würden ihre Kunst nicht erleben, waren aber stolz darauf, dass man noch in hundert Jahren ihr Werk bewundern durfte. Die Anhängerschaft für diese Leidenschaft, die vor langen Jahren in England entstanden war, war weltweit klein. Es ging um das kunstvolle Schneiden von Bäumen. Die Äste wurden nach einem speziellen Muster gebogen. Und damit das Kunstwerk in Jahren ein sinnvolles Ganzes ergab, wurden die Äste in kleine Verzweigungen verdrahtet. In der Heavyklasse, sozusagen in der Jumboabteilung dieses Hobbys, war Heribert Döhring aktiv. Wie oft musste er sich in der Kneipe schon anhören, wann er sich einen passenden Anhänger zusammenbauen würde, damit sein Riesengewächs zur Meisterschaft nach England transportiert werden konnte, wo alle drei Jahre die Meisterschaft im "treebend" stattfanden. Diese Hobbyleute nannten sich auch „treebendies.“ Natürlich wurden die tonnenschweren Schätzchen nicht ausgegraben und transportiert, sondern die Mitglieder meldeten ihre Bäume bei ihrem Verband an und eine Kommission kam und begutachtete den kunstvollen „tree“. In der Grafschaft Wymondham befand sich die Hochburg dieser Kunst und dort traf man sich auch zur Meisterschaft. Wenn die Thekengäste wüssten, wie vornehm es dort zuging und, dass das Ganze weitaus exklusiver als Golf war, würden sie den Mund nach dem Absetzen des leeren Kornglases vor Ehrfurcht geschlossen halten. Der Sieger erhielt ein Preisgeld von umgerechnet fünfhunderttausend Euro.

      Heribert Döhring nahm seine Hand vom rot geschubberten Ohr, blätterte in dem in England erschienenen, gutgemachten Hochglanzmagazin „tree News“ und vergaß seine zu Hause immer noch schnaufende Angetraute, die er immer noch so abgöttisch liebte, dass sie in seiner Skala des Lebens noch vor seinen Bäumen und seinem Geschäft locker auf Platz eins kam.

      Das Telefon klingelte, Mark Zinner nahm den Hörer auf und meldete sich geschäftlich höflich, als sein Gesichtsausdruck erst unbeteiligt, dann angestrengt und zu guter letzt ungläubig wurde. Mark nahm ohne Worte das Telefon vom Ohr und schaute die Muschel an, als ob hier der Text des Anrufers wie in einem Display als Endlosschleife laufen würde. Schnell sagte er: „Moment bitte“ und hielt die Muschel des Telefons mit der linken Hand zu. Heribert wollte gerade seine andere Ohrmuschel mit dem Innenleben vornehmen, als er beim Umblättern seines Magazins aufblickte und gespannt innehielt: „Ist jemand gestorben?“. Mark sagte erschüttert: „Chef, hier am Telefon ist ein holländischer Bayer oder ein bayerischer Holländer, der flucht am Telefon wie ein alter Bierkutscher auf dem Oktoberfest, weil ihm seine Maß Bier weggerutscht ist. Ich habe nur verstanden, dass er gesagt hat, ‚ich habe ein Rad ab’.“ Heribert antwortete erstaunt: „Wer, du?“ Mark fuhr fort. „Nein, er, ich meine den Anrufer, den Kunden, ja den“, stammelte Mark. Heribert lachte laut auf: „Für solche Fälle sind wir nicht zuständig, der Doktor wohnt am Marktplatz, gib mir bitte den Hörer.“ Mark war völlig konsterniert und verdattert. Er reichte seinem Chef den Hörer: „Hier ist das Autohaus Döhring in Hitzacker, was führt Sie zu uns?“ Heribert verstand nur noch die restlichen Wortfetzen, die mit Himmelsakra endeten und dann nickte Heribert verständnisvoll und schrieb sich etwas auf. „Wir kommen sofort“, sagte er und legte den Hörer auf. Er brüllte durch die offene Tür in die Werkstatt. „Hans Heinrich, mach den Abschlepper klar, wir müssen einen fliegenden Holländer von der B 216 holen.“

      Heribert fuhr selber den Abschleppwagen zur Pannenstelle und sein Mitarbeiter, der sonst immer das Fahrzeug fuhr, saß leicht missmutig daneben. Zum Einen war er von einer schwierigen Schweißarbeit bei einem alten Wohnwagen abgezogen worden und zum Anderen plagte ihn eine Erkältung mit argen Halsschmerzen. „Immer diese zugige Luft in der Werkstatt“, hatte unlängst seine Schwiegermutter zu ihm gesagt, „da musst du dir doch auch eine dicke Erkältung zuziehen.“ Unter seinem Overall hatte er eine wollenen Unterhose an und um den Hals einen dicken Schal gewickelt. Als er heute Morgen kurz den Schweißbrenner weggelegt und theatralisch den Kopf nach hinten gebeugt hatte, um sich die Nasentropfen in die Nase zu träufeln, war der Rentner vorbei gekommen, der jeden Tag hier war, um nach dem Rechten zu sehen, wie er immer sagte. Als der Rentner ihn so in der Rückbeugung gesehen hatte, hatte er trocken gemeint: „Ich kann dir mit dem Brenner helfen, um deinen Rüssel freizubekommen. Dann bleibt dein Ansaugstutzen immer offen.“ Der Monteur hatte geschnieft und fast unverständlich stark nasal gebrummt: „Da kenn ich aber noch einen, der das dringend bräuchte.“ Sie hatten sich grinsend angesehen.

      Als sie sich mit dem Abschlepper auf der B 216 der Pannenstelle näherten, sahen sie schon von weitem das Blaulicht eines Streifenwagens zur Absicherung der Fahrzeuge. Sie wendeten und fuhren zurück hinter einen schief liegenden Wohnwagen, vor dem ein neuer Geländewagen als Zugfahrzeug stand. Was sich ihnen jetzt bot, würde keiner glauben. Die auf sie zukommenden Polizisten grinsten breit bei der Begrüßung. An dem Randstreifen an der B 216 von dem Gespann in sicherer Entfernung stand eine Frau im Trachtendirndl und telefonierte aufgeregt auf niederländisch. Sie gestikulierte und fuchtelte wild mit ihren Armen, um ihren Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen, wenn man denn ein Bildübertragungshandy gehabt hätte. Das wäre aber noch leicht zu ertragen. Sie trug in ihrer freien Hand eine wild gelb blinkende große Warnlampe, die sich im Rhythmus ihrer Telefonbewegungen drehte. Sie sah wie ein Leuchtturm im Dirndlkleid aus. Was diese Warnung in dieser Entfernung von der Straße zu bewirken sollte, wusste sie wohl nur alleine. Wahrscheinlich wollte sie die Rehe auf die Pannenstelle aufmerksam machen. Sie setzte dem Ganzen aber in der ulkigen Erscheinung in ihrem Dirndl noch das Sahnehäubchen der Komik auf: über ihrer Bluse trug sie eine grell rot leuchtende Warnweste. An dem Wohnwagen und etwas versetzt zur Straße stand ihr Mann. Der hatte ebenfalls eine echt bajuwarische Volltracht mit kurzer Lederhose an und die Bommel an dem Oberschenkel tanzten im Gehen auf und ab. Ein großer schwerer Mann, ein wahres bayerisches Mannsbild, stand vor ihnen und hatte über seine Tracht ebenfalls eine Leuchtweste übergestreift. Heribert und sein Monteur mussten beim Einparken so laut lachen, dass es bei Heribert derart im Gehörgang knackte und er endlich diesen Gehörgang so frei bekam, wie schon lange nicht mehr. Die Außengeräusche kamen ihm schon zu laut vor und er dachte unwillkürlich an Ohrwatte zur Geräuschdämmung. Sein Monteur sagte beim Aussteigen: „Das glaubt mir heute Abend keiner am Tresen in der Kneipe.“ Korbinian Rufus Niedermeier stellte sich Heribert und dem Monteur vor. Durch den Reifenschaden war der schöne und teure Wohnwagen am Radkasten so beschädigt worden, dass dieser aufwändig repariert werden musste. „Die Ersatzteile kommen aber erst in zwei Tagen, solange müssen Sie hier wohnen. Da wir den Wohnwagen an der Seite zerlegen müssen, können Sie nicht mehr in ihm übernachten. Aber Sie können hier in Hitzacker im Hotel gegenüber der Kneipe Gärwiete wohnen, wenn Sie möchten. Diese Kneipe wird Ihnen gefallen, es ist eine Bayernkneipe.“ Korbinian stimmte zu, die Polizei fuhr ab, der Wohnwagen wurde abgekoppelt und an den Abschlepper mit einem Hilfsschlitten auf Rädern gehängt und es ging ab zur Werkstatt. Seine Frau Theresa Niedermeier telefonierte sogar während des Einsteigens in den Geländewagen. Wahrscheinlich gab sie für einen niederländischen Radiosender eine ausführliche und plastische Direktreportage.

      An diesem Abend war in der Gärwiete ein Gedränge, wie in einem Bierzelt auf dem Oktoberfest in München, kein Zelt für Prominente, sondern für das durchschnittlich fröhliche Feiervolk auf den Wiesn. ‚O zapft is‘ und das in vollem Ausmaße mit geschmückten Fahnen, Bändern und was es alles in den Landesfarben aus Bayern gab. Es hätte nur noch gefehlt, dass der Eröffnungsbierwagen mit den Brauereipferden hier in Hitzacker eine Kehre gemacht hätte und nach München, sozusagen gleich um die Ecke, zu den Wiesn unter dem Gejohle der Menge zurückgerollt wäre. Die Musikanlage war so laut, dass sich die daneben stehenden leeren Bierbembel durch die Vibration verschoben. Eine Leiste in blau-weißen Trachtenfarben hielt die gesamten Bembel aber vor dem Fallen auf die Köpfe der vielen Biertrinker im Lokal ab. Der bajuwarische Zupfhansel mit seiner Musikband aus dem Lautsprecher gab sein grenzwertig Bestes, bis zum quälenden Anschlag. An dem Tresen saß bereits Heribert aus dem Autohaus mit seinem Monteur aus der Werkstatt. Der verschnupften