Günther Seiler

Die Balken biegen sich doch nicht


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gelegen haben, den Ort nicht richtig mitbekommen. Die später ankommenden Gäste waren natürlich sofort von der Neuigkeit informiert worden und Kalgoorlie-Boulder war schnell nach Alaska verlegt worden. „Er wolle die neuen Goldsucher am Klondike bekehren und am Sonntag dort in einer alten windschiefen Bretterbude von Kirche die Messe lesen.“ „Da kannst du in der Woche deine Kollekte mit selbst geschürftem Gold aufbessern.“ Andere sahen ihn, als sie endlich den Erdteil Australien begriffen hatten, ihn, den Pastor Heiner Ulf Müller, der Müller drei, in Australien bestimmt als Müller vier bezeichnet, weil es dort doch viele Auswanderer mit dem Namen Müller gab, schon apathisch auf einem alten klapprigen Gaul sitzen oder mit weit heraus hängender Zunge durch den heißen Sand laufen und sich nach Hitzacker in die Kneipe Gärwiete mit dem schönen Wein zurücksehnen. „Der bekommt dort in Australien einen Sonnenstich, denkt an Müller eins, der auch hier wegwollte und nach Berlin ausgewandert ist.“ Immer wenn die Kneipentür geöffnet wurde und die verbrauchte Luft sich quasi die Hand mit der neuen, frischen Luft in der Türöffnung gab, kam ein lautes fröhliches Gelächter aus der Gärwiete und die Anwohner dachten, da ging es wieder mal hoch her. Jubel, Trubel, Heiterkeit in Hitzacker. Irgendwann fragten sie ihn nach seinen Auswanderungsplänen, als sie bemerkten, er machte wirklich ernst. Der Pastor erklärte, dass der Ort Kalgoorlie-Boulder tatsächlich auch heute noch mit der Goldsuche in Australien zu tun hatte, zirka achtundzwanzigtausenddreihundert Einwohner hatte, sich dort die größte Goldmine der Welt befand und in Western Australia an einer Bahnlinie liegt, die diesen Ort mit Perth, einer Millionenstadt verbindet. Er sagte ihnen auch noch folgendes: „Ich werde in einem Team von Theologen und Ärzten mitarbeiten. Ich denke, dies war der entscheidende Punkt, dass ich dort eine Aufenthaltserlaubnis bekommen habe. Wir, das heißt die Organisation, unterhält ein von den Amerikanern aufgekauftes Transportflugzeug und damit können wir auch unwegsames Gebiet in Australien erreichen, um die Menschen zu versorgen. Mit mir sind vier weitere Theologen mit an Bord. Wir haben auch Zelte dabei, in denen wir uns um die Menschen kümmern können. Und wir haben sogar ein extra Zelt als mobile Kirche. Es ist auch ein staatlicher Fachmann für Verwaltungsfragen dabei, der die Menschen beruflich beraten kann und ihnen die Wege in der Verwaltung freimacht. Wir versuchen dieses Flugzeugprogramm als Test in Australien laufen zu lassen, aber in Wirklichkeit zielen wir für später auf die Versorgung von Menschen in armen Regionen in Afrika ab.“ Sie hörten ihm schweigend und interessiert zu. Er erzählte ihnen von einem Buch in seiner Kindheit, das ihn bis heute nicht mehr losließ. In jeder seiner freien Minute hatte er sich in den letzten zehn Jahren mit Australien beschäftigt, die Sprache gepaukt und sich alle Bücher über das Land bestellt. Sein Einwanderungsgesuch wurde genehmigt. „Denn als Pensionär kann ich mich selber versorgen und notfalls“, dabei lächelte er, „kann ich mit dem Planwagen und klapprigen Gäulen durch die Wüste ziehen.“ Der Witz, den andere ja erzählten und der zum lauten Lachen animierte, kam aus seinem Mund mit denselben Worten ganz anders an. Keiner lachte, sie hatten einen dicken Kloß im Hals und Monika drehte sich mit ihrem zu putzenden Bierglas weinend zur anderen Seite der Theke um. Maria Brettschneider schluchzte herzzerreißend auf und hielt sich die Hände verschämt vors Gesicht. Der Pastor war ganz gerührt und sagte, auch mit einem dicken Kloß im Hals und der Blick verschleierte sich vor Tränen: „Kinder, ich komme euch hier ja mal besuchen.“ Es war plötzlich still, die Gäste schnieften in die Taschentücher, die Brillen wurden abgenommen, um die Tränen zu trocknen. Ein Thekennachbar wandte sich an seinen Kumpel: „Wer hätte gedacht, dass die Maria eine solche heftige Reaktion zeigen würde. Ich dachte, eher würde man den dritten Weihnachtstag einführen.“ Als die Tür aufging und ein bekannter Gast hereinkam, wunderte dieser sich: „Was ist denn hier los, ist jemand gestorben?“ Monika beruhigte sich und rettete die Lage. „Ich gebe schon jetzt einen auf die Rückkehr von Müller drei nach Hitzacker aus. Er wird uns dann bestimmt hier in der Gärwiete seinen großen Goldfund aus Australien zeigen. Was wollt ihr trinken?“ Damit beruhigte sich die Situation und die Gäste konnten ihre verlorene Fassung so langsam wieder gewinnen. Auch der schwarze Humor, der kurz verloren gegangen war, ließ sich wieder in den Gesprächen der Gäste blicken. Einer fragte seinen Thekennachbarn leise, ob nicht in dem Flugzeug ein kleiner Platz für eine mobile Kneipe wäre. Sie brächten auch den Wein mit, der hier in Hitzacker angebaut wurde. Die Lachfrequenz auf der nach oben hin offenen Kneipenskala kam in Wallung. „Sag mal, Pastor“, fragte der neue Gast, der kurz von der Sachlage informiert worden war, „wer ist denn dein Nachfolger?“ Der Pastor hatte gerade seine Rechnung bezahlt und war auf dem Weg zur Tür, wo er sich umdrehte. Alle blickten ihn gespannt und schweigend an. „Das ist eine Pastorin, ihr könnt euch auf sie freuen, eine sehr nette und sympathische Person.“ Damit verließ Pastor Müller drei die Kneipe und ein kalter Windzug huschte schnell durch die offene Tür, die mit einem lauten Klacken zufiel.

      Geschichte 4

      Die kleine Schwester der sieben ostfriesischen Inseln: Baltrum

      Baltrum, die kleinste der sieben ostfriesischen Inseln, ist mit der Fähre von Neßmersiel zu erreichen. Diese Donröschenperle der Nordsee ist autofrei, liegt 4,5 Kilometer vom Festland entfernt, hat zirka 511 Einwohner und ist 5 Kilometer lang und 1,4 Kilometer breit. Ach ja, für die Freunde der Statistiken noch eines, diese liebenswerte Insel hat demnach eine Fläche von 6,5 Quadratkilometern. In Sichtweite des Anlegers auf einer kleinen Anhöhe sieht man schon von Weitem an den verschiedenen flatternden Fahnen an den Masten die Kneipe mit einem Café. Der Inhaber der Kneipe wollte es sich mit keinem Fußballfan als Feriengast verderben und hatte deshalb alle Bundesligavereine sozusagen unter Wind. Sogar die zweite Bundesliga war flaggenmäßig vertreten. „Ich bin der einzige Trainer der Welt, bei denen alle Vereine Wind von vorne bekommen“, sagte der Wirt, ein ehemaliger Kapitän zur See, Engelbert von Ritter. Blaublütig mit Zertifikat, Brief und Siegel. Er betrieb die Kneipe mit dem originellen Namen ‚Ohne Hausnummer‘ zusammen mit seiner Schwester Gundula Hermine Dorfler, geborene von Ritter. Der Herr Dorfler war hier vor langer Zeit einmal Feriengast gewesen, hatte einen kapitalen Inselkoller bekommen und war mit dem ersten Nebel auf See, beziehungsweise mit der ersten Fähre zum Festland verschwunden. Das war ein schwarzer Montag für Gundula Hermine gewesen. Sie hatte etwas gebraucht, um sich über den Verlust dieses Herrn Dorfler hinwegzutrösten und da die Geschwister das Haus auf der Anhöhe in Sichtweite zum Anleger von den Eltern geerbt hatten, betrieb sie das ‚Café XXL‘ mit einer Teestube und der Bruder die Kneipe. Zwischen den Räumlichkeiten gab es einen Durchgang, damit die Gäste bei Sturm und Regen nicht erst auf die Straße mussten. So lautete die Begründung der Inhaber wegen des Durchgangs an das Bauamt in Esens. Von diesem Amt waren sogar zwei Beamte zur Begutachtung gekommen. Sie hätten auf der Insel sowieso einiges zu prüfen, wie sie sagten.

      Früher hatte das große Bauernhaus ein schickes Reetdach, was jedoch aufgrund der Stürme und witterungsbedingten Einflüssen dringend erneuert werden musste. Da die Brandkasse die Prämie für Häuser mit Reetdächern kräftig angehoben hatte, entschied man sich für rote Dachziegel. Der Name der Kneipe ‚Ohne Hausnummer‘ hatte aus einer Besonderheit auf Baltrum ergeben. Hier tragen die Straßen keine Namen, sondern die Häuser haben nur Nummern.

      Engelbert von Ritter war zwei Meter groß, wog seine 130 Kilogramm und, man höre und staune, trank als Wirt selber absolut keinen Alkohol. Er war dreißig Jahre auf große Fahrt zur See gefahren, hatte die ganze Welt gesehen und zuletzt hatte er als verantwortlicher Kapitän einer Reederei aus Bremen ein großes Containerschiff zwischen Amerika und Europa befehligt. Die Familie stammte von einer Nachbarinsel und die Eltern hatten seinerzeit das schöne Anwesen auf Baltrum gekauft. Die Kneipe ‚Ohne Hausnummer‘ war an 365 Tagen im Jahr geöffnet und selbst Weihnachten und Sylvester konnte man ohne Voranmeldung hier erscheinen. Allerdings gab es zum Essen während des Jahres immer nur Bockwürste mit Senf und Kartoffelsalat, oder wie ein Gast mal bemerkte, Senf mit Bockwürsten und dazu den guten Kartoffelsalat. Zu Weihnachten und zum Jahreswechsel kam als kulinarischer Jahreshöhepunkt eine Ergänzung in Form von leckeren Frikadellen, natürlich mit Senf, Tomatenketchup war hier verpönt. Ansonsten musste sich der Feriengast in einem der wundervollen anderen Restaurants versorgen. Die Scholle war hier auf der Insel Baltrum besonders gut, die Gäste leckten sich die Finger nach dem Essen. Die Einrichtung der Kneipe ‚Ohne Hausnummer‘ war schon einzigartig. Der große, ehemalige Schankraum war umgebaut und eine originale Einrichtung eines Fischtrawlers hier