Günther Seiler

Die Balken biegen sich doch nicht


Скачать книгу

bei der Witwe Müller im Westdorf. Der Tüftler hatte schon sehr skurrile Ideen fast umsetzungsreif zu Papier gebracht, denn er mochte die Autos nicht besonders und war ein ökologischer Mensch. So dachte er lange über eine Umgestaltung der Friedhöfe auf platzsparenden Möglichkeiten nach. Nachher plante er mit unzähligen Zeichnungen, die Urnenbestattungen von der Fläche her optimaler zu gestalten und so sollten die Urnen immer im Zehnerpackung, von unten nach oben natürlich, in einem Gestell wie an einer Perlenschnur aufgereiht werden. Kleine Hinweisschilder an einem kleinen Stein sollten, falls es gewünscht wurde, mit den kurzen Lebensdaten auf den Verstorbenen hinweisen. Die Gestelle, an denen die Urnen angehängt werden sollten, sollten aus Bambus und die Urne ebenfalls aus abbaufähigem Material sein. Als er seine Erfindung hier, wie er es immer machte, an der Theke feierlich vorstellte, meinte ein Gast trocken: „Ich will aber nicht irgendwann meinem Nachbarn als Asche auf den Kopf fallen und ich möchte auch nicht, dass mein oberster Nachbar mir auf den Kopf bröselt.“ Den Vogel der Skurrilität schoss der Tüftler mit seinem Vorschlag ab, einen flexiblen Kirchhof zu gestalten, wobei die Särge und die Urnen nach dem Platzbedarf angepasst wurden, den täglich ein Computer neu berechnete und somit wurden die Urnen und Särge immer wieder vom Platz her angepasst, sprich umgesetzt. Ein anderer Thekengast meinte bei dieser Vorstellung: „Das ist ja Beerdigungstourismus und unsere Oma soll nicht jeden Tag auf dem Friedhof woanders liegen, Karussell fahren mochte sie noch nie in ihrem Leben.“ Ein weiterer Gast, ein pensionierter Kriminalkommissar, fügte hinzu: „Haben Sie schon mal etwas vom Verbot einer Störung der Totenruhe gehört?" Damit war dieser Plan bei dem Professor schlagartig hinfällig. Er hatte auch Zeichnungen zur Bewältigung der Transportproblematik zur Beförderung von Touristen auf Inseln und speziell nach Baltrum entworfen. Da war die Planung eines Tunnels nicht neu und nicht wirklich bahnbrechend, aber seine Seilbahnen hatten es in sich. Er ging als Problemlösung davon aus, die Inseln tideunabhängig und somit völlig wetterunabhängig zu versorgen. Er plante Seilbahnen in ausreichender Höhe für die Schifffahrt wie im Gebirge zum Festland zu installieren. Die ersten Zeichnungen gingen von Liften aus, wie man sie aus den Bergen her kannte und da auch Güter transportiert werden mussten, kam er auf geschlossene Gondeln. Der helle Wahnsinn manifestierte sich in der Seilbahn mit Gondeln in luftiger Höhe. Hier sollten Zeppeline mit Solarmotoren zur Haltung der Position und per Satellit gesteuert, als Haltepfeiler herhalten und unterhalb sollten Seile gespannt werden, um die Gondeln zu transportieren: „Sag mal, du Bastelkasper, und wie soll das unabhängig vom Wetter sein, die Dinger schaukeln doch nur so im Wind. Da werden die Gondelgäste seekrank und leiden obendrein auch noch unter Höhenangst.“ Das war der vernichtende Kommentar eines Ingenieurs am Tresen und somit starb auch diese bahnbrechende Idee eines natürlichen Tüfteltodes. Danach widmete sich der Herr Professor den Fahrrädern mit Solartechnik und Windsegeln. Diese Fahrradzeichnungen machten am Tresen die Runde. Der Tüftler malte sein Segel auf dem Fahrrad wunderbar etwas seitlich versetzt auf und reichte stolz die Zeichnungen an einen Gast am Tresen. An sich hätte der Professor gewarnt sein sollen, denn der Gast holte seinen Stift aus der Jackentasche, malte das Segel vor die Nase des Fahrradmänneken und dieser wurde auch so mit einer dicken Nase verändert, dass er einen langen Hals um das Segel machen musste, um nach vorne sehen zu können. Als die Zeichnung an dem Tresen herumgereicht wurde, gab es ein schallendes Gelächter. Der Tüftler hatte aber auch selber Humor und lachte lauthals mit, als er die Zeichnung zurückbekam.

      Von dieser guten Stimmung war heute aber partout nichts zu bemerken, der Regenblues machte am Tresen die große Runde. Die Thekengäste schauten sich eher ziemlich gelangweilt an und wären froh, wenn ein neuer Gast an den Tresen käme, an dem man sich so richtig reiben konnte. Nur dem Tüftler machte das Wetter überhaupt nichts aus. Er bekam von Engelbert seinen zweiten Grog und merkte es nicht einmal. Er langte automatisch zum Grogglas und wenn man dachte, er blickte in die Runde der Menschen an der Theke, war er mit seinen Gedanken Lichtjahre von ihnen entfernt. Das Thema, was wohl alle Insulaner bei schlechtem Wetter interessierte, war, ob die Fähre heute bei diesem Wetter führe oder nicht. Dabei wurde das Wort 'bei diesem' immer ganz besonders in der Betonung hochgezogen. Die Fähre war aber auch bei jedem Wetter ein Thema. Dieses Thema würde auf dem Festland naturgemäß keinen interessieren, aber wenn der Festländer erst hier eine Zeit wohnte, fragte er viel häufiger nach der Fahrmöglichkeit der Fähre als die Insulaner. Das hatte wohl mit der Urangst eines Menschen zu tun, von der Außenwelt ohne Nahrung abgeschlossen zu werden und langsam zu verdursten und zu verhungern. Sie sahen sich wohl schon in der misslichen Lage, wenn der Sturm abzog, auf allen Vieren am Strand kriechend, mit aufgeplatzten Lippen und schweren Lidern und ‚Wasser, Wasser‘ rufend. Sie fanden aber kein Gehör und der linke Arm wurde wie zu einem letzten Gruß mit allerletzter Kraft in die Luft gehalten und die gnadenlose sengende Sonne zeigte die Fata Morgana einer Stadt und danach fiel der Oberkörper mit einem Rums in den heißen Sand. Die Möwen warteten schon. Engelbert kannte das in all den Jahren an der Theke seiner Kneipe. Er pflegte dann immer mit seiner Bassstimme dröhnend in die Kneipe zu rufen: „Ist hier schon jemand auf der Insel verdurstet? Der möge sich bitte bei mir melden!“ Das brachte immerhin einige Lacher, bei einigen wohl auch verzweifelte. Engelbert verstand es aber stets, alle zu beruhigen. „Wir leben nun mal auf einer Insel und da kann es passieren, dass wir witterungsbedingt eine kurze Zeit, ich wiederhole, kurze Zeit vom Festland abgeschnitten sind. Wir haben genügend Vorräte auf der Insel und selbst der stärkste Frost kann uns nicht umwerfen. Wir werden dann mit Flugzeugen und Hubschraubern versorgt. Falls der Rum ausgehen sollte, eher habe ich aber einen Sechser im Lotto, nehme ich meine Schlittenhunde aus dem Stall und kutschiere selber nach Esens und hole Nachschub.“ Nun, aber unabhängig davon ist natürlich auf der Insel die Frage nach dem tideabhängigen Fahrplan der Fähre berechtigt. Es ist auch ein Eröffnungsgespräch bei fremden Gästen am Tresen. „Na, ob die Fähre wohl fährt?“ Schon hatte man vor dem zweiten Thema, „Wie wird das Wetter?“, einen Anknüpfungspunkt, der oft dergestalt ausgebaut wurde, dass der neue Gast einen Grog ausgab. Engelbert erklärte stolz seinen Tresengästen gerade die neuerworbene Saftpresse. Damit konnte er mit geschnittenen Äpfeln und Karotten einen herrlich sämigen Saft herstellen und als Energieträger anbieten. „Das trink man selber, damit dein Kamillentee im Magen nicht so alleine ist“, schüttelte sich der Stammgast Bruno Schmidt.

      Engelbert wollte in der Erklärung seiner Wunderpresse gerade fortfahren, als sich die Kneipentür öffnete und wie ein nasser Pudel ein neuer Gast eintrat. „Nun kommt das Reibeisen, von dem die Tresenkameraden gerade redeten“, dachte Engelbert und brach seinen Verkaufsvortrag ab. Bruno Schmidt drehte sich um und sagte: „Mann, da kommt ja unser Reibeisen, jetzt wird es hier endlich lustig.“ Der Gast schüttelte den Regen ab, zog seinen Regenmantel umständlich aus und begrüßte die Gäste. Die Begrüßung bei ihm unbekannten Personen ging folgendermaßen ab: „Gestatten, mein Name ist Oberst außer Dienst, Hermann Schlünders, Bonn - Bad Godesberg, Hardthöhe.“ Dabei nickte er kurz und militärisch nach den Seiten hin und schlug mit einem Klacken seine Hacken zusammen. Bruno sagte immer: „Wer das nicht glaubt, muss es selber sehen. Der könnte auf dem Jahrmarkt auftreten.“ Einmal hatte ein Gast zum Oberst a. D. folgendes gesagt: „Ich war schon einmal in Bonn, aber den Stadtteil Hardthöhe kenne ich nicht.“ Daraufhin hatte der freundliche Herr Oberst a.D., der immer Korrekte, erwidert: „Die Hardthöhe ist das Verteidigungsministerium in Bonn.“ „Museum wäre besser“, hatte Bruno geantwortet. „Verteidigungsmuseum klingt doch viel besser, da wir uns neuerdings mit dem Ostblock gut verstehen.“ Schon wurden die heißesten politischen Theorien am Tresen leidenschaftlich diskutiert.

      Der Oberst, wie er hier intern hieß, hatte für die Insulaner ein merkwürdiges, skurril anmutendes Hobby. Er war ein sogenannter Sondengänger. „Ein Sonderling bist du auch“, bemerkte ein Thekengast, als der Oberst von seinem Hobby berichtete. Der Oberst gehörte zu der merkwürdigen Kaste in unserem Land, deren Mitglieder mit einem Metalldetektor und mit einem Kopfhörer bewaffnet, frühmorgens oder kurz vor Sonnenuntergang, so als wären sie menschen- oder lichtscheu, wie böse Zungen sagten, loszogen und in einem gleichmäßigen Rhythmus das Suchgerät waagerecht vor sich langsam hin und her schwenkten. In der linken Hand hielten sie eine kleine Schaufel und in Abständen stutzten sie, prüften gezielt noch einmal die Stelle, bückten sich und fingen mit der Schaufel zu graben an. Ihre Ausbeute ließ sich jedes Mal sehen, sie fanden jede Menge an Münzen, Uhren, Ringe und vor allen Dingen Bierverschlüsse aus Metall und auch Schlüssel. Der Oberst hatte bereits einen Ring gefunden, der vom hiesigen Juwelier auf mehrere