Günther Seiler

Die Balken biegen sich doch nicht


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war rappelvoll und in diesem Trubel war kaum ein Wort zu verstehen. Heribert lieh seinem linken Nachbarn, einem Kneipenrentner, der hier zu wohnen schien, sein linkes Ohr. Er formte dazu seine linke Hand zum Zusatztrichter, als Hilfsmittel für seine Ohrmuschel, damit er den Kneipenrentner gut verstehen konnte.

      Es hatte auch Zeiten hier in der Gärwiete gegeben, in denen Heribert beim Betreten der Kneipe von einem Gast arg durch den Kakao gezogen worden war. Dieser Gast, ein ehemaliger Mitarbeiter von Heribert, den er wegen Unregelmäßigkeiten hatte entlassen müssen, hatte sich, angetrunken wie er war, breitbeinig mit zwei Biergläsern in die Mitte des Schankraumes gestellt und die Arme wie im Wind leicht hin und her pendeln lassen. Dabei hatte er mit dick aufgeblasenen Wangen und Windgeräuschen einen leichten Sturm nachgemacht. Ein anderer Gast, ein Kumpel des Darstellers, war von seinem Bierhocker gerutscht und hatte versucht, sozusagen wie ein Pantomime, die Äste an seinem Kumpan zu schneiden. Das Gelächter war natürlich groß gewesen. Heribert hatte nur geantwortet: „Mit deiner krummen Figur lässt sich nicht einmal ein Blumentopf gewinnen.“

      Der Monteur Helmut Dahme hatte die Geschichte mit den Kunden und der roten Weste über der Tracht schon zum Besten gegeben. Solche Niederländer hatte Hitzacker noch nie gesehen. Am frühen Abend kamen diese beiden gestrandeten Gäste aus ihrem gegenüber liegenden Hotel in voller bayerischer Trachtenmontur in die Gärwiete und mischten sich unter das Volk. Denn hier hatten einige auch sehr fantasievolle Trachten an. Die Niedermüllers fanden sehr schnell Anschluss in der Feiergemeinde hier in Hitzacker und nahmen sich mit ihrer Panne selber auf die Schippe. Es war erst ein anstrengender Auftakt zur Tour auf den Spuren der Niederländer, doch das Leben ging auch im Feiern seine eigenen Wege. Ohne Panne wären sie nicht hier in diesem schönen Lokal gelandet, in dem das Bier frisch und gut gezapft war, so wie auf den Wies‘n in München.

      Das Oktoberfest war schon längst auch in Hitzacker Vergangenheit und der norddeutsche Alltag war in der Gärwiete eingekehrt. Monika stand alleine am Tresen und ihr Mann, der Franz, war nach Hamburg zum Großmarkt gefahren. In der Stammtischecke mit dem obligatorischen großen Messingteller, der mit seiner Kette und der Aufschrift Hier Stammtisch wie ein Aschenbecher aussah, saßen die Knobelbrüder und knobelten um die Wette. Am Nachbartisch wurde Skat gespielt, die Musik aus der Anlage war gedämpft. Es lag eine Stille über dem Schankraum, eine konzentrierte bei den Spielern, bei den anderen eher bedingt durch die Schläfrigkeit eines Sonntagnachmittags nach dem Gänsebraten, nach dem Motto, wer zuerst einschläft, braucht nicht abzuräumen und abzuwaschen. Sie mussten Acht geben, dass nicht der Kopf aus der offenen Hand rutschte, danach der Ellenbogen seinen Dienst versagte und der Kopf der Schwerkraft folgend mit einem Rums auf dem Tresen lag und der dösige Blick, als wollte er fragen, was denn los sei, in Richtung Wirtin ging. Diese aber machte sich nur Sorgen um das Bierglas, denn der Gast würde das Bier nicht vom Tresen wischen. „Mensch, Ernst, pass doch ein bisschen besser auf“, sagte Monika und Ernst blickte Monika an, als sei nicht er, sondern ein anderer für seinen Ellenbogen verantwortlich. „Mach mir noch einen Lütt und Lütt“, war alles, was Ernst sagte, drehte sich vom Tresenhocker und verschwand hinter der Tür. An der Tür hing Schild mit einem Cowboy auf einem schwarzen Pferd für die Herrentoilette. Es war ein Mitbringsel eines treuen Gastes aus dem Urlaub in den USA.

      Auch bei Lütt und Lütt galt der Spruch, auf einem Bein kann man nicht stehen. Und damit das Bier nicht so auf der Zunge staubte, musste ein Köm, ein kalter Korn hinterher genommen werden. Neben dem kurzfristig abwesenden Ernst saß die schweigsame Maria Brettschneider. Sie war eine Perle von einer Putzfrau hier in Hitzacker. Wenn Maria Brettschneider die Kneipe betrat und laut ‚Moin‘ sagte, das nicht ‚guten Morgen‘ heißen sollte, denn hier im Norden bedeutet ‚Moin‘ schlicht ‚guten Tag‘, wurde es still in der Kneipe. Man konnte also auch um Mitternacht, wenn die Stammkneipe noch offen hatte, beim Betreten ‚Moin‘ sagen. Spitzfindige würden sagen, nach Mitternacht wäre ja auch schon der nächste Morgen und demnach wäre ‚Moin, Moin‘ angemessener. Nein, das war ein Dauervierundzwanzigstundengruss. Also, wenn, diese besagte Maria diesen Gruß laut und deutlich brachte, gab es natürlich in der Gärwiete einen Gegengruß. Der jetzt auf der Toilette weilende Ernst sagte nach dem Gruß aber einmal: „Mensch Maria, was bist du heute sabbelig.“ Worauf Maria natürlich wie gewöhnlich nichts sagte, umständlich auf den Thekenstuhl krabbelte und ihren Wein mit einer Karaffe Wasser bekam. Monika hatte sich abgewöhnt, nach ihrem Trinkwunsch zu fragen, was Maria gut zupass kam, denn so musste sie auch nichts sagen. Maria war schon lange Witwe und böse Zungen in der Kneipe meinten, sie hätte ihren Mann, der gern und viel geredet und hier als Stammgast auch ab und zu einen über den Durst getrunken hatte, durch ihre Schweigsamkeit manchmal vor Verzweiflung auf die Palme getrieben. Ihr Mann war hier derjenige gewesen, der sich um die naheliegende Kirche sehr gekümmert hatte. Er war leider bei Baumschneidearbeiten auf dem Kirchengelände im letzten Herbst aus dem Baum gefallen und hatte sich unglücklich an einer uralten Grabplatte den Kopf aufgeschlagen. Nach einigen Wochen des Leidens war er erlöst worden. Es war ein sehr tragischer Moment gewesen und die gesamte Thekenabteilung der Kneipe Gärwiete war vollzählig zur Beisetzung angetreten. Das anschließende Gedächtnistrinken auf den lieben Verstorbenen hatte ganze zwei Tage gedauert.

      Heribert Döhring musste sich danach häufig anhören, wie gefährlich doch sein Hobby sei. Maria Brettschneider war schon lange Putzfrau in der Kirche und der Pastor Heiner Ulf Müller, der hier in Hitzacker immer nur mit Müller drei angesprochen wurde, obwohl Müller eins und zwei nicht mehr in Hitzacker wohnten. Müller eins war nach Berlin gezogen und dort verstorben. Der hätte man besser hier bleiben sollen, Berlin ist zu groß und auch zu hektisch, meinten die in allen Lebensfragen immer eine Antwort habenden Thekendauersitzer in der Kneipe Gärwiete. Müller zwei, eine Frau, war oft hier in der Kneipe gewesen und wohnte nun bei ihrer Tochter in Bremen. Müller eins war immer montags nach seinem Versehrtensport, wie man in der Kneipe liebevoll bemerkte, weil er einer Herzsportgruppe angehörte, erschienen und hatte hier in der Kneipe eine Kanne Kamillentee bekommen. Dazu trank er einen Köm, für den Durchfluss der Herzkammer, wie er meinte. Er war in Berlin aber unglücklicherweise nach einem Fahrradsturz und nicht an seiner Herzkrankheit verstorben.

       An diesem Abend saß der Pastor Müller drei am Tresen und hatte seinen großen Schoppen Wein vor sich stehen. Als seine Tresenmitbewohner nach und nach an diesem Abend in die Gärwiete herein schneiten, meinte der erste zu ihm. „Na, Pastor, trinkst du deinen Messwein von deiner Kark“? Mit Kark ist auf plattdeutsch die Kirche gemeint. Pastor Müller drei stand kurz vor dem Ruhestand und hatte heute eine besonders schwere Beerdigung hinter sich. Schwer im wahrsten Sinne des Wortes, denn zum Einen war die Bestattung mit der Predigt für ihn sehr anstrengend, weil die Angehörigen etwas für ihr Geld haben wollten, wie sie salopp sagten, zum Anderen war die Verstorbene eine sehr übergewichtige Person und es mussten zwei weitere Sargträger aus der Nachbargemeinde angefordert werden. Alle Träger bekamen für ihre Plackerei ein Extrageld. Der Pastor war in der Gemeinde sehr beliebt, weil er sich wirklich um die Belange der Leute kümmerte und weil er, als das Wasser kam, wie die Hitzacker die schlimmen Überschwemmungen der Elbe in Hitzacker ehrfurchtsvoll nannten, den Wasseropfern schnell geholfen hatte. Seine Kirche lag erhöht und war ruckzuck von ihm und den anderen Helfern in eine Notunterkunft umgewandelt worden. Eine Gulaschkanone war herbeigezaubert worden, damit alle einen warmen Löffel in den Bauch bekämen, wie er gemeint hatte. Nun saß er melancholisch am Tresen und die anderen trösteten den sonst immer fröhlich Trost gebenden Pastor. Sogar Maria sagte etwas und hatte Tränen in den Augen. Denn alle wussten, der Pastor ging in Rente und wollte sich einen Jugendtraum erfüllen. Er wollte nach Kalgoorlie-Boulder auswandern. Erst hielten die Tresenbrüder das für einen Witz aus der Schublade der Bierlaune heraus, denn der Pastor mochte auch gerne einen guten Schoppen Wein und sagte nicht nein. Er war aber immer korrekt, wie es sich für einen Kirchenmann gehörte. Im Gegenteil, die Gemeinde liebte ihn, weil er einer von ihnen war, mit dem man Pferde stehlen konnte. Dennoch war auch Respekt ihm gegenüber zu bemerken. Erst als der Schulleiter Lehmann der Grundschule gemeint hatte: „Was willst du denn in Australien?“, waren die Gäste hellhörig geworden. Einige hatten wohl gedacht, er würde in die Lüneburger Heide oder, noch schlimmer, nach Ostfriesland oder auf eine Hallig auswandern und Kalgoorlie-Boulder wäre ein altplattdeutscher Name des Dorfes. „Nach Australien, na sowas,“ hatten sie ungläubig gesagt und durch die Zähne gepfiffen, „da willst du bestimmt als Pastor mit deinem Klappaltar herumreisen oder als