Günther Seiler

Die Balken biegen sich doch nicht


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für Innenausbauten trauten sich die Arbeiten zu und lieferten einen Beweis für gute Handwerksarbeit ab. Das Holz roch immer noch nach Teer und Fisch und man konnte förmlich den Seewind spüren und sich das Möwenkreischen vorstellen, wenn die Netze eingeholt wurden. Die gesamte Einrichtung der Kneipe war auf Fischerei, mit Modell– und Buddelschiffen, Netzen und echten Seesternen und hölzernen Galionsfiguren abgestellt. Die Kneipe war so richtig kommod. Der Wirt war ein großer Bastler und sammelte vom Strand das angeschwemmte Holz und daraus wurden Inselgegenstände angefertigt. Zum Teil waren die Stühle kunstvoll aus angeschwemmtem Holz von ihm angefertigt worden. Der Gast konnte den Stuhl in der Kneipe, auf dem er saß käuflich erwerben und sofort mitnehmen.

      Das angeschlossene Café der Schwester hatte in einem Neubau zehn schicke Fremdenzimmer und bot diese als Hotel Garni an. Zum Essen ging man in eines der guten Speiselokale auf der Insel. Geöffnet wurde die Kneipe täglich um Punkt elf Uhr am Vormittag und der Betrieb ging normalerweise bis Mitternacht, jedoch gab es auf der Insel keine Polizeistunde und so war man in der Nachtzeit flexibel. Der Wirt hatte in dem Kneipenbetrieb einen festen Personalstamm von fünf Mitarbeitern und so konnte er, wie er sagte, außerhalb der Spur arbeiten. Er war aber jeden Tag in seiner Kneipe. Wenn er Urlaub machen wollte, ging er für Stunden an den einsamen Strand und ließ sich die Lungenflügel durchpusten. Zum Festland zog es ihn nicht. Diese Ruhe, das war es, was die Insulaner so liebten. Und alles musste seinen geplanten Gang gehen, denn das Chaos kam von alleine, es klopfte vorher nicht an die Tür.

      Vor einiger Zeit, es war gerade der Frühling vorbei und man konnte an der milden, samten Luft den nahenden Sommer erahnen, war ein Gast in das Café gekommen. Der vollständige Name des Cafés war: ‚Café XXL neben der Kneipe Ohne Hausnummer‘. Abgekürzt hieß es auf der Insel schlicht ‚Das Café XXL‘ oder nur ganz kurz ‚XXL‘. Dieser Gast hatte erschöpft und fast panisch gewirkt. Er hatte sich eine Kanne Kaffee bestellt und diesen mit einigen Pillen gegen Übelkeit mit einem großen Grunzer, wie „Ahh“ durch seine Kehle geschüttet. Die Bedienung hatte Gundula Hermine Dorfler angesehen und ihr am Tresen leise zugeflüstert: „Was ist das denn für einer?“ Gundula hatte sorgenvoll zu dem Gast geblickt und zu ihrer Bedienung gemeint: „Hast du die Telefonnummer vom Inselarzt?“ Als die Bedienung Susanne mit dem Kopf geschüttelt hatte, hatte Gundula das Telefonbuch aus der Schublade gesucht, da sie für alle Fälle gewappnet sein wollte. Der Gast hatte sich den kalten Schweiß von der Stirn gewischt, aus dem Fenster gesehen und sich mit der rechten Hand am Tisch fest gehalten, so als würde das Café wie ein Schiff auf See schaukeln. Gundula Hermine hatte abwechselnd auf ihr zu polierendes Weinglas gesehen, denn hier in dem Café wurde auch Wein ausgeschenkt. Weitere alkoholische Getränke bis auf einen Kräuterschnaps gab es im Café nicht. Der Gast, der offensichtlich seine persönliche Sturmfahrt nach Alaska zu verarbeiten hatte, war langsam grün im Gesicht geworden. Die Wirtin war nun mit dem Polieren des Glases fertig, hatte es zufrieden betrachte, es in die Glasvitrine gestellt und war zum Gast gegangen. „Ist ihnen nicht wohl? War die Überfahrt so schrecklich." Der Gast hatte sie kläglich, zum Erbarmen angesehen und seinen wehleidigen Blick gehoben. ,,Ich habe gerade die Höllenfahrt meines Lebens hinter mich gebracht. Ich bin mit der Fähre angekommen.“ Gundula hatte abgewartet, denn da musste ja noch etwas kommen, man konnte ja nur mit der Fähre oder mit dem Flugzeug auf die Insel kommen, denn als Schwimmer und mit einem Koffer in der Hand würde es wohl etwas schwierig sein. So hatte sie zu ihm gesagt: „Verzeihen Sie bitte, Sie sagten, Sie wären mit der Fähre angekommen, wie sonst wollten Sie Baltrum erreichen? Es geht nur mit dem Schiff oder dem Flugzeug.“ Bei dem Wort Flugzeug war seine Reaktion durch seinen Blick so heftig gewesen, dass Gundula hatte schnell reagieren müssen und zu Susanne am Tresen gerufen hatte: „Geh eben rüber in die Schankstube und hol einen Engelbert Speziale.“ Susanne war schnell zur Schankstube gelaufen und blass und aufgeregt mit dem Schnaps wieder gekommen. Im Schlepptau war, die Tür ausfüllend, der Meister des Schnapses selber erschienen. In der linken Hand, das war keine normale Hand, das war ein kleines Wagenrad, hatte er wie ein Puppenfläschchen eine ausgewachsene Mammutflasche mit dem roten Etikett ‚Engelbert Speziale‘ gehalten. Diese Flasche sah gefährlich giftig aus und jeder Gast, der diesen Schnaps bestellte, bekam auch nur ein Gläschen, maximal zwei Gläser am Abend. Engelbert sagte immer: „Meine Gäste sind mir zu wichtig, ich brauche sie noch.". Dabei hatte einmal ein anderer Gast am Tresen im Scherz die Fingerbewegung fürs Geldzählen gemacht. In diesem Fall konnte man schon einmal im Café eine Ausnahme machen, aber mehr als zwei Gläser bekam auch dieser Gast dort nicht, sonst hätte der Doktor ran gemusst.

      Der Schnaps war dem neu angekommenen Gast gereicht worden und die gesamte Crew des Cafés und der Wirt der Kneipe hatten am Tisch Platz genommen und ihn äußerst besorgt angeblickt. Gundula hatte ihr tragbares Telefon dabei gehabt und hätte nicht gezögert, sofort den Inseldoktor anzurufen. Engelbert hatte gesagt: „Was hast du mein Jung, ist dir schlecht?“ Der hatte an dem Glas genippt und Susanne hatte laut gesagt: „Nicht nippen wie eine Nonne, kipp weg wie ein Inselschipper.“ Der Gast hatte sein Glas abgestellt und dankbar in die Runde geblickt, die Ohren hatten auch schon wieder Farbe bekommen: „Mann, oh Mann, was ist das denn für ein Feuerwasser, der weckt ja den halben Friedhof auf.“ Der Wirt, stolz auf sein Getränk, und hatte besorgt gefragt: „Was war denn los?“ Der Gast hatte mit heiserer Stimme geantwortet: „Mein Name ist Hans Dieter Balje. Ich komme aus Frankfurt und wollte nach meinem stressigen Leben als Geschäftsmann einige Zeit ausspannen. Meine Batterie ist leer und mein Arzt meinte, wenn ich so weitermache, bräuchte ich im Alter keinen Seniorenplatz mehr, das würde sich vorher regeln. Also, meinte er, an die frische Seeluft, ohne Arbeit, mit viel Sport und Spaziergänge im Freien, und gab mir eine Überweisung für seinen Freund und Kollegen, dem Inselarzt, mit.“ „Der kennt unseren Doktor Vogt?“, hatte Susanne ungläubig gefragt. Hans Dieter Balje war fortgefahren. „Ja, denn mein Arzt in Frankfurt stammt von Langeoog und ist ein großer begeisterter Fan der ostfriesischen Inseln. Er sagte immer zu mir. ‚Viele Leute lieben heutzutage die Kreuzfahrten in aller Welt. Eine ostfriesische Insel selber ist wie ein Kreuzfahrtschiff, nur verbraucht sie keinen Diesel, bleibt immer in der Position und die frische Luft gibt es gratis. Außerdem muss man am Abend keinen Smoking anziehen.‘ Ich sagte ihm noch im Scherz: „Na, ein wenig fahren die Inseln schon, sie verändern sich ganz langsam.“ Dabei, meinte er und lachte, bekäme man aber keine Seekrankheit. Hier beginnt mein Dilemma, ich habe höllische Angst vor dem Fliegen und vor Schiffen. Ich werde schon seekrank, wenn ich in eine Suppenterrine blicke. Deshalb schließe ich dabei auch immer die Augen oder ich blicke einen festen Punkt in der Ferne an.“ „Beim Suppenessen?“, hatte erstaunt Susanne gefragt, hatte die anderen angeblickt und noch ungläubiger als vorhin ausgesehen. Hans Dieter Balje hatte betreten genickt, umständlich in seiner Jacke nach der aus fein gehämmerten Kartonpapier gefertigten Visitenkarte gesucht und sie Gundula gereicht. „Ich leite eine eigene Firma.“ „Für Suppentüten?“, hatte lachend Engelbert gefragt. Hans Dieter war irritiert fortgefahren, er hatte so noch nie seine Probleme vor fremden Menschen offenbart, die Insulaner machten aber alle einen ehrlichen und menschlichen Eindruck auf ihn. Wer weiß, was die hier im Laufe der Zeit schon alles gesehen hatten. „Nein, ich entwickle eigenständig Computerprogramme für die Autoindustrie mit meinen zwanzig Mitarbeitern. Ich habe vor, hier eine Weile zu bleiben, meine Firma kann ich auch von hier aus leiten. Meine Mitarbeiter werden immer am Freitag mit dem Flugzeug anreisen. Entweder fliegen sie am Abend zurück oder dürfen auf meine Kosten bis zum Montagmorgen hier in Baltrum in einem schönen Hotel bleiben, sie arbeiten schon genug und sollen nicht auch diese furchtbare Leere im Körper und Kopf bekommen. Ein schreckliches Gefühl, man will es nicht und kann dagegen einfach nichts machen. Man fühlt sich auch so hilflos, so ausgeliefert.“ Sie hatten seinem Gesicht angesehen, dass ihm nicht zum Spaßen zu Mute war. Er war den Tränen näher gewesen, als er sich selber eingestehen wollte. Gundula hatte in einem leisen mitfühlenden Ton gemeint: „Das hört sich nach Burnout bei Ihnen an, aber Sie sind hier bei unserem Inseldoktor Vogt gut aufgehoben. Wo wollen Sie wohnen und kommt Ihre Familie nicht nach?“ Hans Dieter hatte das leere Glas in den Händen gedreht: „Ich wusste vom vielen Arbeiten ja nicht einmal, welche Jahreszeit wir hatten und ich kannte mich mit den Tageszeiten in Australien, Asien und den USA besser aus als in Frankfurt. Einmal wollte ich mich endlich aufraffen, um in einem See baden zu gehen. Als ich alles zusammengepackt hatte und mit meinem Auto aus der Tiefgarage gefahren war, war es draußen dunkel und es schneite.“ Susanne, die sehr emotional war, hatte vor Rührung feuchte