Mel Mae Schmidt

Die vom glänzenden See


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an.

      Er schluckte. „Sehr wohl, Fräulein. Ihr Wunsch ist mir Befehl.“

      Er stellte sich auf die Beine und lief neben ihr her.

      „Du benimmst dich wie ein Bediensteter, aber du bist wie ein Bruder für mich und ein Sohn für meine Eltern. Du kannst uns ganz locker ansprechen und behandeln. Das sage ich dir schon seit fünf Jahren!“ Die Prinzessin lachte.

      Der Bub lächelte, obwohl ihn der Satz du bist wie ein Bruder für mich mitten ins Herz traf. „Ich weiß, Fräulein. Aber ich habe viel zu großen Respekt vor Euch, als dass ich mich erdreisten könnte, so mit Euch zu sprechen. Ich bin nicht königlich wie Ihr es seid, ich habe dreckiges Blut.“ Traurig sah er zu Boden. „Ich weiß wo mein Platz in der Gesellschaft ist und ich akzeptiere es.“ Mit angespanntem Kiefer ging er weiter. Die Prinzessin jedoch blieb neben ihm stehen. „Was redest du da? Wir sind ebenbürtig! Und dreckiges Blut? So etwas gibt es nicht! Ich weigere mich, so von dir zu denken!“ Sie kam auf ihn zu und schlang ihre Arme um ihn. „Ich habe dich sehr, sehr gern. Egal was passiert.“ Das rührte den Buben sehr und sein Herz hüpfte in seiner Brust. Erneut sog er tief den Geruch von Lavendel ein, der an der Prinzessin haftete, als auch rings um den Garten prächtig blühte und seinen harmonischen und beruhigenden Duft ausströmte. Eine Weile standen der Bub und die Prinzessin umschlungen da und der Bub wünschte, es würde niemals aufhören. Aber nach einigen Minuten löste sich die Prinzessin von ihm, lächelte ihn an und sprach: „Alles wieder gut?“ Der Bub nickte. „Ja.“ Die Prinzessin lachte. „Fein.“ Dann nahm sie seine Hand, legte sie in ihre und so spazierten sie Hand in Hand durch die Flora ihres Palastes. Der Bub wusste gar nicht wie ihm geschah, als er ihre Hand in seiner spürte. Ihre zarten schlanken Finger, ihre Wärme, ihre Nähe. Er wollte ihr unbedingt sagen, was er fühlte. Aber der Satz, er sei wie ein Bruder für sie, machte ihn wieder mutlos. So schritten sie, bloß wie ein junges Pärchen aussehen, durch die Frühlingslandschaft und hin und wieder schenkte die Prinzessin dem Buben ein herzliches Lächeln. So spazierten sie ein Stündchen durch den Palastgarten und sprachen über Gott und die Welt. Wie Seelenverwandte kannten und verstanden sie einander. Sie lachten gemeinsam, sie weinten gemeinsam, sie spielten gemeinsam, sie wurden gemeinsam erwachsen. Obwohl der Bub wusste, dass er eigentlich nicht an des Prinzessin Seite gehörte, hoffte er doch inständig, ihr Bräutigam zu werden. Ihr Ehegatte. Ihr König. Ihr Beschützer. Auf ewig. Und doch, so ahnte er voller Pein, würde die Etikette wollen, dass die Prinzessin einen reichen Edelmann heiratet, damit das Königreich und sein Reichtum bestehen blieben. Und dies würde auf gar keinen Fall mit dem armen Buben geschehen … Wäre er doch nur ein Mann von Adel, Ansehen und Reichtum! Dann würde die Prinzessin ihm gehören. Das machte den Buben sehr traurig und ihm wurde sehr weh ums Herz. Was nützte es, der Prinzessin zu sagen, was er fühlte, was nützte es, ihr nahe zu sein und sie zu verstehen, wenn er sie doch nie haben konnte wie eine Braut? Was nützt Seelenverwandtschaft, wenn man entzweit wird und nie zusammen sein kann? So schritt der arme Bub mit schmerzendem Herzen neben der heiteren Prinzessin her, ihre Hand noch immer in seiner und auf einmal hörten beide jemanden rufen: „Was tut ihr da? Das ist gegen die Etikette!“ Erschrocken drehten sich beide zu dieser Stimme um und erblickten – den Vetter! Groß, schlank und wie ein Edelmanne gekleidet stand er vor ihnen. Sein Gesichtsausdruck war ernst. Sofort löste die Prinzessin ihre Hand aus der des Buben, was ihn schwer enttäuschte, und lief freudig auf ihren Vetter zu. Sie schlang ihre Arme um ihn, was dieser nur widerwillig über sich ergehen ließ. Wie gut er es hat, dachte der Bub. Und er weiß es nicht mal zu schätzen. Hasserfüllt sah der Vetter auf den Buben. „Ihr habt Händchen gehalten, wie ich gesehen habe? Warum?“

      V.) 05.November 2016 – KINDERHEIM/SCHLOSSHOTEL, SCHWARZWALD

      Lavinia hielt den Brief ihrer Eltern in der Hand. Ihr Herz schlug schnell. Sie wagte kaum diesen zu öffnen und zu lesen. Karl sah sie gespannt an. Auch sein Herz schlug schnell. Einzig und allein die Hexe sah beide unbeeindruckt an und fragte sich innerlich, weshalb Lavinia so lange brauchte, um den Brief zu öffnen und zu lesen. In ihrem Geiste schubste sie sie regelrecht dazu, ihn zu lesen. Sie konnte diese Stille nicht ertragen. Würde Lavinia nicht endlich den Brief öffnen, so dachte die Hexe bei sich, dann würde sie ihn aus der Hand reißen und schreien.

      Sie seufzte leise.

      Dann entfaltete Lavinia endlich den Brief und atmete tief ein und aus. Dann begann sie, ihn zu lesen. Es waren zwei dicht beschriebene Seiten und Lavinia sog jedes einzelne Wort auf, um genau zu verstehen, was ihre Eltern ihr sagen wollten.

      Es war unfassbar.

      Lavinia atmete schwer. Dann blickte sie, nachdem sie den letzten Satz und die lieben Grüße ihrer Eltern gelesen hatte, vom Brief auf. Sie wandte ihr Gesicht Karl zu. Mit großen Augen sah sie ihn an, der sie erwartungsvoll anschaute. „Und?“, wollte er wissen. „Was steht da? Was ist mit deinen Eltern passiert?“ Gierig nach der Antwort starrte er Lavinia an. Diese war noch zu geschockt, um zu begreifen und es angemessen in Worte zu fassen. Sie konnte kein Wort herausbekommen.

      Karl sah schließlich zur Hexe, die genervt dem ganzen Schauspiel zuschaute. „In dem Brief steht drin, dass Lavinias Eltern vor einem Mörder auf der Flucht waren. Daher mussten sie Vorsorge treffen und ihre Tochter – wenn der Mörder ihre Eltern doch zu fassen bekäme – in einem Heim in Sicherheit bringen“, beantwortete die Hexe Karls fragenden Blick.

      Dieser starrte sie nun noch verwirrter an. „Auf der Flucht? Vor einem Mörder? Wieso das denn?“ Ihm stand die Verwirrung sichtlich ins Gesicht geschrieben.

      „Weil Lavinias Familie einer alten adligen Familie entstammt. Dem Adelsgeschlecht der Normandells von Lörrach. Lavinia ist die letzte Nachfahrin dieses Geschlechts und ihre Familie wurde Jahrhunderte lang gejagt. Man sagt, ihre Familie bewahre ein großes Geheimnis und viele Schätze irgendwo versteckt. Jeder, der geldgeil ist würde diesen Leuten hinterherjagen. So war es all die Jahrhunderte. Und so war es auch bei Lavinias Eltern.“ Die Hexe klang gelangweilt, als sie dies erzählte. Als würde ihr diese Geschichte jeden Tag begegnen und sie inzwischen zu Tode langweilen.

      Karl riss die Augen weit auf. „Adlig?“ Er starrte Lavinia fassungslos an. Diese starrte genauso fassungslos zurück. Sie bekam einfach kein Wort über die Lippen.

      „Aber stimmt das mit dem Geheimnis und den Schätzen?“, wollte Karl weiter wissen. Die Hexe zuckte mit den Schultern. „Kann ich Ihnen nicht sagen, ich weiß davon nichts. Nach all der Zeit halte ich es inzwischen für immer unwahrscheinlicher.“ Sie rümpfte abfällig die Nase.

      Karl atmete tief durch. „Wo sollen wir anfangen danach zu suchen?“

      „Steht in dem Brief“, schloss die Hexe und räusperte sich dann ächzend. „Schön, das war´s. Ich muss weitermachen. Das ist alles, was ich für Sie tun kann. Alles Gute.“ Sie drängte Karl und Lavinia hinaus und schlug die Türe hinter ihnen mit einem lauten Knall zu.

      Draußen standen Karl und Lavinia nun völlig verdattert da und Lavinia musste immer und immer wieder den Brief anschauen und genau nachlesen, ob das, was die Hexe ihnen da gerade erzählte, auch wirklich stimmte.

      Lavinia konnte nicht glauben, was da stand: Adelsgeschlecht Normandell von Lörrach. Sie, Lavinia Normandell, war also Gräfin! Lavinia Gräfin Normandell von Lörrach.

      Unfassbar.

      „Also konnten meine Eltern diesem Mörder nicht entkommen“, flüsterte Lavinia melancholisch. Karl sah sie traurig an. Er schüttelte den Kopf. „So wie es aussieht wohl nicht.“ Er fühlte mit ihr. Sie schniefte.

      „Na gut, dann müssen wir uns auf die Suche nach diesem großen Familiengeheimnis und die Schätze machen“, entgegnete sie und zeigte mit dem Zeigefinger auf die Adresse in dem Brief. „Schlosshotel Waldlust“, sagte sie. „Dort stand früher, im 13. Jahrhundert, der große Palast meiner Familie. Den Normandells von Lörrach. Im letzten Jahrhundert wurde dort dieses Schlosshotel gebaut, nachdem etliche Kriege in den letzten