Mel Mae Schmidt

Die vom glänzenden See


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raunte die Hexe ihr zu. „Bist immer noch so eine kleine schüchterne graue Maus wie damals. Zu nix nütze, wetten? Immer noch nicht. Die Gesellschaft hat keinen großen Nutzen an dir!“ Sie lachte hässlich. Lavinia wurde rot vor Wut und Verlegenheit. Dass sie so etwas Widerliches in Karls Gegenwart sagte war ihr mehr als peinlich. Er sollte so wenig wie möglich über ihr altes Ich wissen, dass sie selber so sehr verabscheute.

      Karl sah die Hexe ernst an und zweifelte offenbar an ihren Worten.

      Die Hexe führte Lavinia und Karl in ihr Büro und schloss hinter ihnen die Türe. Sie bot keinem der beiden einen Sitzplatz auf den vor ihnen stehenden Stühlen an. Jeder nahm sich einfach einen Stuhl und setzte sich darauf. Die Hexe schaute sie dabei mürrisch an und wollte wohl protestieren, beließ es aber dabei und stöberte stattdessen in einer Schublade.

      „Also?“, setzte Karl ungeduldig an.

      „Jaja, ich such ja schon“, meckerte die Alte zurück. „Es muss hier irgendwo sein.“ Ächzend wühlte sie in der vollgepackten Schublade in einer Kommode neben ihrem Schreibtisch.

      „Es? Was genau suchen Sie?“, wollte Karl wissen.

      „Werden Sie schon sehen.“ Die Alte suchte und suchte. „Ah, da ist er ja!“ Sie hielt einen Brief in Händen und übergab ihn Lavinia. Diese nahm den Brief in Empfang und schaute die Hexe verwirrt an. „Was ist das?“

      „Na ein Brief, du Dummerchen!“

      Karl verdrehte die Augen. „Ja das sehen wir selber. Sie meinte wohl eher, von wem der ist.“

      Die Hexe sah ihn genervt an. „Von ihren Eltern. Von wem denn sonst?“

      Lavinia starrte sie erschrocken an. Dann blickte sie auf den Brief in ihren Händen und dann zu Karl. Er war schon geöffnet worden.

      „Haben Sie den Brief geöffnet?“, wollte Karl in aufbrausendem Ton wissen. Die Hexe sah ihn unschuldig an. „Ja aber gewiss doch! Er lag ihr bei, als sie bei uns abgegeben wurde. Sie war noch ein Baby, so muss ich als ihre Erziehungsberechtigte den Brief öffnen. Darin steht immerhin ihr Name und etliche andere Informationen, die ich benötigte. Sonst wäre sie mit falschem Namen oder gar ohne Namen aufgewachsen!“ Wie ein Unschuldslamm sah sie Karl an. Dieser hielt die Bemerkung zurück, dass er bezweifle, dass sie es nicht sonderlich gestört hätte, wenn Lavinia mit falschem Namen aufgewachsen wäre. Stattdessen sah er Lavinia an, wie sie den Brief anstarrte und offenbar überlegte, ob sie ihn öffnen sollte.

      „Na los, Livi“, drängte Karl. „Mach ihn auf. Lies ihn!“ Hoffnungsvoll sah er sie an. Lavinia schluckte. „Ich habe Angst, Karl.“

      Die Hexe schnaubte spöttisch. „Ja, wie immer. Du hast immer Angst. Vor allem und jedem.“

      Karl sah sie wütend an. „Hören Sie damit sofort auf!“

      Die Hexe seufzte. Es klang, als habe sie einen guten Witz gerissen und keiner besäße die Intelligenz diesen zu verstehen.

      Karl wandte sich wieder an Lavinia.

      Diese gab sich selber einen Ruck und zog langsam und bedächtig den Brief aus dem Umschlag.

      IV.) 1204 - 1209 n.Chr., HEILIGES RÖMISCHES REICH, SCHWARZWALD

      „Du Armer“, sagte die Königin und tupfte dem armen Jungen sanft mit einem feuchten Tuch die blutenden Wunden ab.

      „Das brauchen Sie wirklich nicht zu tun, Hoheit. Es gibt Diener für diese Arbeit“, sprach der Vetter herablassend und sah dem für ihn widernatürlichen Geschehen angeekelt zu: Wie eine Königin einem kleinen wertlosen Bauerntrampel die blutigen, schleimigen Wunden abtupft!

      Was für eine Frevelhaftigkeit!

      Die Königin überhörte diese Bemerkung und widmete sich weiter dem Jungen. „Das ist wirklich schlimm, dass du im Spielzimmer über all die Bauklötze gestolpert bist, mein armer Junge. Du hättest dir allerlei brechen können! Da hattest du aber großes Glück gehabt.“ Sie lächelte den Jungen milde an. Dieser sah ausdruckslos zum nun gehässig grinsenden Vetter hinüber, während die Prinzessin voller Sorge der Behandlung ihrer Mutter zusah.

      „Es ist wahrhaftig nicht schlimm, Frau Mutter?“, fragte diese besorgt.

      „Aber nein“, sprach die Königin beruhigend. „Jedoch müsst ihr von nun an gut beim Spielen Acht geben.“

      Die Prinzessin nickte heftig. „Gewiss, Frau Mutter. Versprochen.“

      Die Königin lächelte sanft. Sie tupfte noch ein, zwei Male die Wunde des Buben ab und ging dann aus dem Raum.

      Sofort kam die Prinzessin auf ihn zugestürzt. „Gott sei Dank dafür, dass dir nichts zu Schlimmes zugestoßen ist!“ Sei schien ernstlich besorgt zu sein. „Gar nicht auszudenken, was sonst passiert wäre! Du hättest tot sein können!“

      Nun lachte der Vetter gehässig. Er trat näher an die beiden. „Ja“, sprach er in selbstverliebtem Ton, „das stimmt. Wie furchtbar, wenn du jetzt tot wärst! Was für ein ganz und gar schlimmer Gedanke!“

      Er lachte wieder.

      Der Bub erkannte sofort den teuflischen Plan des Vetters, doch die Prinzessin schien so nicht von ihrem Vetter denken zu wollen. Ihr guter Vetter …

      „Kommt, wir gehen zurück ins Spielzimmer“, sprach da der Vetter kühl weiter.

      Geschockt drehte sich die Prinzessin zu ihm um. „Ins Spielzimmer? Jetzt? Nach allem, was passiert ist? Wie kannst du nur übers Spielen nachdenken?“

      Ihr Vetter zog überrascht die Augenbrauen hoch. Er war es gewohnt, dass man das tat, was er wollte.

      „Eine gute Aufheiterung. Außerdem lebt er noch! Es ist fast nichts passiert!“

      Die Prinzessin war nun wütend. „Ganz genau: Fast!“

      Der Vetter verdrehte die Augen. Frauenzimmer! „Und was sollen wir sonst machen? Händchenhalten?“ Er lachte erneut.

      Die Prinzessin sah ihn wütend an. „Nun, er sollte sich hinlegen. Und ich werde neben ihm sitzen bleiben und ihm die Stirn kühlen.“

      Der Bub sah sie verwirrt an. „Ich möchte mich nicht hinlegen. Wirklich. Es geht schon.“

      Der Vetter sah seine Base entsetzt an. „Du willst Krankenschwester spielen? Aber wozu? Das ist niedere Arbeit! Kann er nicht alleine schlafen?“

      Die Prinzessin ignorierte ihn und wandte sich an den Buben. „Komm, du musst dich hinlegen.“ Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn wider aller Proteste des Buben in sein Schlafgemach, wohin auch der Vetter eilig folgte.

      Dort sprach die Prinzessin zum Vetter: „Außerdem ist niedere Arbeit erst dann niedere Arbeit, wenn man sie als solche bezeichnet. Dienst am Menschen und an Gott ist wertvolle Arbeit.“

      Der Vetter verdrehte erneut seine Augen und sah angewidert zu, wie seine Base königlichen Blutes einen armen Buben vom Lande zu Bett brachte und ihm die Hand hielt.

      Nach ein paar Minuten stand die Prinzessin vom Bette auf, nachdem ihr der Bub versichert hatte, dass alles in Ordnung sei und er alleine schlafen wolle, und ging zum Vetter. „Komm, wir gehen nach draußen.“ Sie ging schon mal voraus und der Vetter blieb mit dem Buben allein zurück. Dieser kam mit zornigen Zügen auf ihn zu, beugte sich zu ihm hinunter und zischte: „Egal wie sehr sie dich mag, egal was euch sonst noch verbindet: Ich werde eines Tages die Prinzessin heiraten, wir sind Könige! Dazu sind wir bestimmt! Solcherlei Dinge verstehst du natürlich nicht, Trampel! Mach dir also keine großen Hoffnungen, klar? Sie und ich werden eines Tages über euch kleine arme Wesen herrschen und du wirst dann wünschen niemals geboren worden zu sein!“

      Mit diesen Worten verließ er mit diabolischem Lachen das Zimmer.

      Der Bub kam sich nun so fürchterlich klein vor, so fürchterlich