Christian Schuetz

CYTO-X


Скачать книгу

Arbeit ihres Mannes interessiert, aber ihr reichten oberflächliche Erklärungen, wie „Polarforschung“ oder „Neue Energien“ oder „Magnetfeldphysik“. Thorwald hatte ihr trotzdem immer alles genauer erklärt, was er gerade erforschte und er hatte ein feines Gespür dafür, wie detailliert er in seinen Ausführungen werden konnte.

      Aber seine letzte Studie wollte oder konnte er ihr nicht näherbringen. Nahezu beunruhigend war seine Erklärung: „Ich mache das für Leif! Irgendwann wirst du es verstehen!“ Sie hatte es danach vermieden, ihn nochmal darauf anzusprechen.

      Auch an seiner Uni schien man ihm ungeahnte Freiheiten zu gewähren, obwohl keiner dort wirklich wusste, was er vorhatte. Dann, etwa zwei Monate vor dem Unfall, begann er eigenartig, ja gar schwermütig, zu werden. Aus heiterem Himmel fing er an, von seinem Lebenswerk zu sprechen, obwohl sich dies noch im Entstehungsprozess befand. Wenn sie ihn fragte, ob ihm etwas fehlte, sagte er stets, dass alles in Ordnung sei. Ihm ginge nur Vieles im Kopf herum.

      Und dieser Ausflug zum Ski-Trekking war auch etwas, das er bis zu diesem Zeitpunkt noch nie gemacht hatte. Marit hatte gehofft, dass der Trip sein Gemüt erhellen und seinen Akku auffüllen würde. Thorwald war schon immer ein geborener Naturmensch, aber er hatte vor dieser Trekking-Tour nur wenig frische Luft schnuppern können, weil er sehr viel Zeit an der Uni oder in seinem Arbeitszimmer verbracht hatte.

      Sie machte sich zwar Sorgen, als er aufbrach, aber sie hoffte einfach, einen erholten Mann zurückzubekommen, der wieder mehr Freude am Leben zeigte. Vielleicht sogar ein wenig von dem Mann, den sie mit gerade einmal zwanzig Jahren kennengelernt hatte…

      Er war damals Gast in einer Fernsehshow, bei der sie als Assistentin fungierte. Mit sechzehn hatte sie von einer Karriere als Model geträumt. Der Traum blieb nicht völlig unerfüllt. Sie posierte in Sommerkleidern für Kataloge und durfte sogar eine hübsche Leiche in einem Fernsehkrimi spielen. Später folgten Werbe-Spots für Zahncreme und Tampons, aber die großen Laufstege der Welt blieben ihr verwehrt. Ein Agent sagte ihr, sie wäre zwar sehr hübsch, aber einfach nicht markant genug.

      Zu dem Zeitpunkt, als Professor Thorwald Magnussen seinen Auftritt als Experte für Polarlichter und die arktische Flora und Fauna in einer Samstag-Abend-Quiz-Show hatte, war Marit am Tiefpunkt ihrer Karriere. Sie hatte den Job nur über die Besetzungscouch bekommen können und hatte sich bereits entschlossen, dem Showbusiness den Rücken zu kehren.

      Da lief ihr bei den Proben dieser Mann über den Weg. Für ältere Männer hatte sie schon immer ein besonderes Faible, was vielleicht der Tatsache zu schulden war, dass sie ohne Vater aufgewachsen war. Klischee oder nicht, es hatte sofort gefunkt.

      Natürlich war sie nicht die Einzige, die begeistert von ihm war. Das Publikum liebte ihn, wie er mit einfachen Worten die Entstehung von Polarlichtern erklären konnte. Oder wie er Filmaufnahmen von spielenden Polarfuchswelpen kommentierte und von einer Begegnung mit einem ausgewachsenen Eisbären berichtete.

      Thorwald hatte den Zuschauer im Sturm erobert und man wollte von ihm mehr sehen. Es folgten Einladungen zu einer Late-Night-Show und einer Experten-Diskussion, und Marit gelang es zumindest immer, als Hostess an den Produktionen beteiligt zu sein.

      Sie flirteten hinter den Kulissen, aber er schien, vielleicht aufgrund des Altersunterschieds von dreiundzwanzig Jahren, etwas zurückhaltend zu sein. Doch dann wurde sie eines Tages in das Büro eines der Produzenten gerufen. Ihr Vertrag lief aus und sie befürchtete erneute Avancen, auf die sie nicht eingehen wollte.

      Sie dachte, der Abschied vom Showbusiness wäre nun gekommen, doch dann sagte ihr dieser Produzent, er bereite eine dreiteilige Serie vor und sie wäre explizit als Moderatorin angefordert worden.

      „Vom wem?“, platzte es aus ihr heraus und die Antwort machte sie einfach nur glücklich.

      „Dieser Professor Magnussen, Polarforscher! Sie haben doch schon mit ihm gearbeitet. Sie scheinen einen gewissen Eindruck bei ihm hinterlassen zu haben.“

      Das Konzept war Thorwalds Idee und er hatte sich damit durchgesetzt, weil der Sender ihn schlichtweg haben musste. Koste es, was es wolle! Sie reisten fast drei Monate mit einer Aufnahmecrew durchs winterliche, nördlichste Norwegen und die Sendungen waren so aufgebaut, als würde der Professor der netten, jungen Moderatorin die Welt erklären. Oder zumindest diesen kleinen Teil der Welt.

      Prinzipiell war es auch genau das. Manchmal musste sie eben nur so tun, als hätte sie etwas Spezielles noch nie gesehen, auch nicht bei den Proben. Die Sendungen waren jedes Mal soziales Gesprächsthema und selbst die kühlen norwegischen Klatschblätter hatten schnell ihren Aufmacher: „Das Model und der Professor! Wie heiß wurde es in der Arktis?“

      Marit hätte ihnen schon sagen können, dass es sehr heiß geworden war, aber die beiden ließen den Rummel an sich abprallen. Das ruhige Gemüt der Skandinavier sorgte wohl dafür, dass das öffentliche Interesse auch nie zu groß wurde.

      Als sie mit einem Fernsehpreis ausgezeichnet wurden, waren sie bereits verheiratet und Marit im dritten Monat schwanger. Ihre Karriere hatte sie an den Nagel gehängt und wollte einfach nur Ehefrau und Mutter sein. Für dreieinhalb Jahre waren beide so glücklich wie man nur sein konnte.

      Dann kam die Nacht, die alles veränderte. Ein Geräusch hatte sie geweckt. Alles war dunkel. Ihre Hand suchte auf der anderen Seite des Betts nach ihrem Mann, aber der war nicht dort. Sie blickte zum Babyphone. Das Lämpchen flackerte leicht, aber es war nichts zu hören.

      Sie drehte sich gerade wieder zurück und wollte weiterschlafen, als sie aus dem Gerät einen Schrei hörte: „Nein!“

      Sie fuhr herum. Das Adrenalin schoss durch ihren Körper und sie saß bereits aufrecht, als sie Thorwald zum zweiten Mal schreien hörte. Sie sprang auf und rannte zum Kinderzimmer, ohne sich vorher anzuziehen.

      Als sie an die Tür kam, sah sie als erstes ihren Mann über Leif gebeugt, wie er zweimal mit der Faust auf den Brustkorb des Jungen schlug. Völlig schockiert dachte Marit, ihr Mann würde dem Kind etwas antun.

      „Was machst du da?“, rief sie entsetzt, aber Thorwald antwortete nicht, weil er zu konzentriert und auch offensichtlich selbst zu schockiert war. Dann erst erkannte Marit den Versuch einer Herzmassage und dass sich Thorwald hinuntergebeugt hatte und seinen Sohn künstlich beatmen wollte. Als er sich aufrichtete und wieder begann den Brustkorb zu bearbeiten, gehorchten Marits Beine wieder.

      Sie stürzte zu Leif und presste ihre Lippen auf die ihres Sohns. Marit hatte keinerlei Ausbildung in Rettungsmaßnahmen, aber sie wollte alles in ihrer Macht Stehende für ihr Kind tun. Sie presste so oft und so heftig Luft in die Lungen ihres Sohnes, bis ihr schwindlig wurde und sie neben dem Bett auf die Knie ging.

      „Ein Mann war hier drin bei ihm!“, sagte Thorwald plötzlich. Marit hörte die Worte, aber verstand sie nicht. Sie sprang wieder auf und wollte Leif weiter beatmen, aber ihr Mann packte sie bei den Schultern und zog sie an sich.

      „Marit! Nicht! Er ist tot!“ Sie wollte sich mehrmals losreißen und schrie vor Verzweiflung, schrie ihren Mann an, schrie ihren Sohn an und schrie bis sie nicht mehr konnte.

      Dann ließ Thorwald sie los und Marit umarmte ihren toten Sohn. Dass ihr Mann das Zimmer verließ und die Polizei rief, hörte sie nicht mehr. Erst als fast zehn Minuten später das Blaulicht durch das Fenster flackerte, ließ sie ihren Sohn los. Thorwald legte ihr seinen Morgenmantel um, als der Notarzt bereits die Treppe hoch stürmte. Sie fühlte sich in diesem Moment absolut leer und betrachtete das Geschehen, als würde vor ihr ein Film ablaufen. Ihr Mann hielt sie im Arm, als der Arzt den Tod ihres Kindes feststellte.

      Es war ihnen vorher schon bewusst, aber es so ausgesprochen zu hören, besiegelte das Drama einfach endgültig. Thorwald führte sie ins Schlafzimmer und setzte sie aufs Bett. Sie saß dort einige Minuten, bevor ein Polizist zu ihr kam und sie fragte, ob sie Hilfe brauchte.

      Sie öffnete den Mund und ohne wirklich zu wissen, was sie da von sich gab, sagte sie: „Mein Mann hat gesagt, da wäre ein fremder Mann bei meinem Sohn gewesen!“

      Der Polizist zuckte zusammen. Er war nicht gekommen, um sie irgendwie zu befragen. Der Professor hatte ihn einfach gebeten, doch bitte nach ihr zu