Christian Schuetz

CYTO-X


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über den Tisch streifen. Dort fand er die Akte des chinesischen Wurm-Agenten, aber er suchte vergeblich nach den Berichten der Anthropologen. Steffen schielte dann zum Mülleimer und zum Reißwolf.

      Brugger schmunzelte, weil Steffen ihn so gut kannte. „Keine Sorge, ich habe die Volkszählungen wieder in den Aktenschrank gepackt. Haben Sie die Würmer auch zum Runterladen?“

      „Nein, das war mir zu viel Sauerei! Aber mit dem alten Norweger werden Sie Ihre Freude haben. Googeln Sie Professor Magnussen ruhig auch mal, falls Sie es nicht schon gemacht haben! Wird Ihnen gefallen. Tragischer Tod, leider! Hätte gern seine finale Abhandlung gelesen.“

      Damit war Steffen auch schon wieder zur Tür hinaus.

      03:45 AM

      Brugger wanderte mit seiner Tasse Tee in der Hand durch sein großes Appartement. Er hatte es gekauft, als die Scheidung beschlossen war. Karina blieb natürlich in dem großen Haus am Rand des Taunus wohnen, schließlich hatte sie es von ihren Eltern geschenkt bekommen, als diese in eine Finca auf Mallorca gezogen waren, um ihren Lebensabend im warmen Mittelmeerklima zu genießen. Das Appartement war ein Schnäppchen gewesen. Dank der Wirtschaftskrise waren die Immobilienpreise gerade rechtzeitig gefallen und die Auswahl war riesig.

      Aber Brugger hatte sich sofort in dieses Objekt verliebt, weil es prinzipiell aus einem einzigen großen Raum bestand. Statt eines Flurs gab es eine kleine Empore, so dass man die Wohnung knapp einen halben Meter über dem eigentlichen Boden betrat und von dort aus, an einem Geländer stehend, die gesamte Wohnung überblicken konnte.

      Danach schritt man sechs Stufen hinunter in den Wohn-Schlaf-Arbeits-Bereich; lediglich Bad, WC und ein Speisekammer waren eigene abgeschlossene Räume. Die Küche befand sich in einer Ecke des riesigen Raums, halb offen, nicht zu groß, denn dieses Appartement war offensichtlich für einen reichen Junggesellen gebaut worden. Vielleicht für einen aufstrebenden, unsympathischen Jungbankier, einen unverheiratbaren Staranwalt oder einen coolen Profisportler? Oder eben maßgeschneidert für einen geschiedenen Physikprofessor!

      Brugger schaltete seinen Computer an und aktivierte die Bewegungssteuerung, die auf sein Bett ausgerichtet war. So konnte er im Bett den Mauszeiger wie ein Dirigent mit der rechten Hand steuern und mit der linken klicken oder doppelklicken, indem er einfach kurz die Hand hob. Für längere Texteingaben stand ein kleines drahtloses Keyboard auf dem Nachttisch bereit. Emma hatte ihm mal erklärt, wie er einfach mit Handbewegungen schreiben könnte, aber da war er dann doch zu konservativ und haute lieber in die Tasten.

      Brugger parkte seine beiden Tiger neben dem Bett und sprang in die noch warmen Laken zurück. Nun noch die Kissen in den Rücken gestopft, und es konnte losgehen. Er würde Magnussens Datenpaket mit Hilfe eines eigens dafür geschriebenen Programms mit den anderen zahlreichen Analysen verknüpfen und die Untersuchungskriterien definieren. Danach würde das Programm nach seiner Schätzung etwa zwei Stunden vor sich hin rechnen und er könnte diese Zeit noch für etwas Schlaf nutzen. Nach Ende des Suchlaufs würde ihn ein Alarm Ton wecken, nein, lieber Musik. Etwas aus Edvard Griegs „Peer Gynt“? Was würde besser passen zum norwegischen Datensatz?

      Brugger war plötzlich bester Laune und das obwohl er es hasste, mitten in der Nacht aufzuwachen, weil dies seinen Tagesplan furchtbar in Mitleidenschaft zog. Er hatte einfach plötzlich ein sehr gutes Gefühl, was sein eigenes Projekt anging. Magnussen war vor gut sechs Jahren verunglückt, sein Projekt hatte Millionen gekostet und war von seiner Universität sehr unzeremoniell abgebrochen worden. Sicher konnte er die Entscheidung verstehen, aber es würde ihm ein Genuss sein, den norwegischen Kollegen zu rehabilitieren, falls dessen Arbeit doch die Genialität besaß, die er vermutete.

      Im Hintergrund lief „Peer Gynt“, und so bewegte er die Hände ein wenig im Takt der Musik und ließ sich mehr und mehr von seinem Instinkt leiten. Zwischenzeitlich wusste er gar nicht, was er gerade eben eingegeben hatte, aber es beunruhigte ihn nicht. Dies war seine Stärke und je mehr er abschaltete, desto schneller und effizienter arbeitete er. Für seine Frau war er in dieser Hinsicht trotz fünfundzwanzig Ehejahren immer ein Rätsel geblieben und sie hatte stets vermutet, hätte er nicht geheiratet und eine Tochter mit großgezogen, dann wäre er der nächste Stephen Hawking oder Albert Einstein geworden.

      Brugger fühlte sich so wohl, dass nun auch das letzte Adrenalin des Alptraums abgebaut wurde und er langsam Müdigkeit in sich aufkommen spürte. Er hatte alle Routinen definiert, das Programm auf Automatik ein- und die Musik abgestellt. Er blickte noch kurz auf die Uhr, fast halb fünf, was bedeutete, dass er gegen halb sieben geweckt werden würde. Er könnte die Daten dann an seinen Rechner in der Uni transferieren, gemütlich frühstücken, duschen und dann zur Arbeit fahren. Mit diesem Gedanken schlief er höchst zufrieden ein.

      08:45 AM

      Brugger wurde wieder wach. Diesmal weckte ihn das Vibrationssignal seines Smartphones, das auf dem Nachttisch neben der leeren Tasse lag. Der Löffel in der Tasse vibrierte klirrend mit. Aus den Augenwinkeln nahm er auf dem Flachbildschirm wahr, dass die Analyse noch lief. Wer wagte es also, ihm so früh morgens eine SMS zu schicken?

      „Morgen Chef! 8:45 Uhr, wir vermissen Sie! Nehme an, Sie arbeiten heute zu Hause?“

      Brugger blickte auf den LED-Wecker und bestätigte die Zeit. Dann noch ein Blick auf den Bildschirm, auch dieser bestätigte ihm, dass er verschlafen hatte. „Komme um zehn!“, lautete seine kurze Antwort-SMS an seinen Assistenten. Rechtfertigen musste er sich nicht, aber er wollte, dass man ihn kontaktierte, falls er zu spät dran war. Früher kam es durchaus öfter vor, dass er in der Arbeit versank und die Zeit völlig vergaß.

      Allerdings fühlte er sich diesmal völlig unschuldig. Was war passiert? Warum rechnete diese Kiste immer noch? Stromausfall? Ein Online-Update, das seine Analyse verlangsamt hatte? Offensichtlich lief sie noch.

      Zum zweiten Mal wurde sein Tagesplan heute über den Haufen geworfen und das gefiel ihm gar nicht. Er wollte so schnell wie möglich wissen, woran es lag und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Er versuchte, die Zahlen dort auf dem Bildschirm zu erkennen. Sicher brauchte er eine Lesebrille für Kleingedrucktes, aber diese Zahlen waren groß und scharf genug, dank des riesigen Flachbildschirms. Was er auf dem Bildschirm sah, konnte er einfach nicht glauben. Hatte Magnussen genau danach gesucht? Hatte er die Idee schon fast zehn Jahre früher gehabt als er und einen Versuch angesetzt, der Black-Spots erklären sollte?

      Die Analyse stand momentan bei 115 nachgewiesenen Ergebnissen; der bisherige Rekord bewegte sich bei drei! Und bei diesen bisherigen Resultaten seiner Forschungsreihe musste seine Crew jedes Mal konstatieren, dass es sich um reine zeitliche Übereinstimmungen gehandelt hatte, die nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit durchaus als Zufall akzeptiert werden konnten.

      Es war zwar erstaunlich, dass in dem Fall zur absolut gleichen Zeit ein Massenspektrometer in Moskau, ein Thermometer in Gotland und ein Amperemeter in Buenos Aires völlig absurde Messergebnisse geliefert hatten, aber worin sollte da der Zusammenhang bestehen? Und so mussten sie es als Zufall abstempeln. Aber 115, nein, gerade sprang die Anzeige auf 116! Das war eine ganz andere Hausnummer!

      Allerdings war es noch nicht einmal die Zahl, die bei Brugger für Gänsehaut sorgte. Das Programm zählte derzeit fast einhunderttausend potenzielle Übereinstimmungen und das bei gerade einmal siebzig Prozent auf dem Fortschrittsbalken. Diese zweite Kategorie von Resultaten hatte bisher bei allen Versuchsansätzen im gleichen Größenbereich gelegen, wie die tatsächlich nachgewiesenen.

      Diese Explosion an Übereinstimmungen konnte nun eigentlich nur zwei Sachverhalten zugeschrieben werden. Entweder hatte Brugger bei der Eingabe der Analysedefinitionen absoluten Bockmist gebaut oder hier war eine wissenschaftliche Sensation im Gange.

      Brugger erhob sich aus dem Bett und schlüpfte wieder in seine Puschen. Die Tiger blinzelten wieder nicht, aber er meinte, dass er ängstlichen Zweifel in ihren Augen sehen konnte. Interessant, wie viele menschliche Gefühle sich in die Plastikaugen von Stofftieren hinein interpretieren ließen.

      Beim Aufstehen merkte er, dass seine Beine wacklig waren. Kein Wunder! Wenn du als Forscher