Christian Schuetz

CYTO-X


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Erfolg. Dann strich er mit beiden Händen über sein Gesicht, so als wolle er die Sorgenfalten glätten, aber auch das gelang nicht.

      Sein Äußeres war Brugger nicht wirklich wichtig, aber er hatte das große Glück, dass er über eine starke natürliche Ausstrahlung verfügte. Steckte man ihn für einen Galaempfang in einen feinen Anzug, machte er durchaus etwas her, sogar, wenn er das Rasieren mal wieder vergessen hatte. In Jeans oder Ledersachen wirkte er wie ein leicht ergrauter Rockstar. Im Laborkittel, in einem Raum mit fünfzig anderen Wissenschaftlern, wusste jeder Fremde sofort, dass er dort der Chef sein musste.

      Brugger schüttelte sich kurz, um auch die letzten Nachwirkungen seines Alptraums zu verscheuchen und kratzte sich an seinem blanken Hintern. Das war einer der Vorteile, die er als geschiedener Mann hatte. Niemand störte sich daran, dass er im Adamskostüm Tee zubereitete.

      Nein, sicherlich hatte er sich nicht scheiden lassen, um diese Momente genießen zu können. Zwischen ihm und seiner Frau gab es gravierende Probleme, die diesen Schritt nötig gemacht hatten und es war auch alles kein Drama, weil sie beide sehr vernünftig damit umgegangen waren.

      Die fünfundzwanzig Jahre Ehe hatten sie noch geschafft, nicht zuletzt wegen der gemeinsamen Tochter Emma, auf die beide Eltern unglaublich stolz waren. Sie war mit Beginn des Medizinstudiums den Fußstapfen der Mutter gefolgt, aber deswegen war Brugger nicht eifersüchtig. Dass ihre Eignung dort lag, hatte er immer gewusst.

      Die Scheidung war einfach nötig geworden, weil Brugger und seine Frau sich gegenseitig auf die Nerven gingen. Beide Eheleute waren in ihren Fachbereichen Koryphäen und in den frühen Ehejahren waren sie auch immer gegenseitig mit Begeisterung an den Fortschritten des Partners interessiert, aber mit zunehmender Zeit bemerkten sie die Unterschiede ihrer Interessen. Bruggers Forschung war immer auf das große Ganze gerichtet, das im Idealfall die Menschheit vor der zwangsläufigen Selbstzerstörung retten könnte. Seiner Frau Karina reichte die Rettung eines einzelnen Menschen.

      Nun, das war Bruggers Zusammenfassung ihrer Differenzen. Er brauchte immer eine klare Definition der Probleme, und auch das war der Beziehung meist nicht zuträglich. Karina wusste, dass Arno bei all seiner professionellen Kälte ein sehr warmherziger Mensch sein konnte. Vor allem war er Emma immer ein guter Vater und für sie stellte er seine Arbeit auch mal hinten an. In diesen Genuss war Karina selbst nur höchst selten gekommen.

      An seine Arbeit dachte Brugger auch in diesem Moment. Er warf sich seinen Morgenmantel um und schlüpfte in seine Tiger-Plüsch-Schlappen, die ihm seine Tochter geschenkt hatte. Sie hatte ihm gesagt, wenn er wieder einmal zu verbissen in seinen Forschungen versunken wäre, sollte er einfach auf die Puschen runterschauen. Und tatsächlich, als er ihren Rat das erste Mal befolgt hatte, sah es wirklich so aus, als zwinkerten die Tiger ihm zu. Er hatte furchtbar lachen müssen und kurz darauf war ihm ein erfolgreicher Lösungsansatz für sein damaliges Problem eingefallen.

      Bei seinem derzeitigen Projekt allerdings hatte er dies bislang vergeblich versucht. Wenn überhaupt, dann schauten ihn die Tiger mitleidsvoll an. Er war sich von Beginn an sicher, dass es sein letztes großes Projekt sein würde, auch wenn er sich nicht sicher sein konnte, überhaupt zu Ergebnissen zu gelangen.

      Seine Universität bot ihm großen Spielraum, schließlich war er in den vergangenen knapp dreißig Jahren maßgeblich daran beteiligt, dass die Goethe-Universität Frankfurt zu einer der weltweit führenden Hochschulen für theoretische und angewandte Physik geworden war.

      Bei der einen oder anderen Gelegenheit hatte man seitens der Universitätsleitung auch schon das böse Wort „Nachfolgeregelung“ fallenlassen, aber niemand wagte es, auf Brugger in dieser Hinsicht Druck auszuüben. Und so hatte er sich entschieden, sich als letztes Hurra einem alten Steckenpferd zu widmen: Kollegen bloßstellen!

      Das war zumindest die Sichtweise der Außenstehenden oder gar der Betroffenen. Für Brugger stand einfach fest, dass zu oft fahrlässig oder gar schlampig geforscht wurde und damit vielleicht wichtige Erkenntnisse verloren gingen.

      Nun konnte man das schlecht an einzelnen Forschungen festmachen, schließlich war man nicht persönlich dabei und so war es schwer, über ein Projekt oder gar einen Kollegen zu urteilen. Aber immer schon hatte sich der Professor die Einzelmesswerte der Projekte angesehen und mit großer Neugier die Anzahl der „Black-Spots“ gezählt. Diesen Namen hat Brugger sich für Messwerte ausgedacht, die nicht den Erwartungen entsprachen oder gar offensichtlich falsch sein mussten, aus welchen Gründen auch immer, und die deshalb aus den abschließenden Gesamtbewertungen entfernt worden waren.

      Um diese Logik verstehen zu können, greifen wir auf ein Beispiel zurück: Ein Meteorologe möchte wissen, wie hoch die durchschnittliche Mittagstemperatur auf einer einsamen Südseeinsel im Januar ist. Zu diesem Zweck stellt er dort ein Thermometer fachgerecht auf und versieht es mit einem Gerät, das ihm die Daten zurück ins kalte Deutschland funkt. Jeden Tag um Punkt zwölf Uhr Inselzeit erhält er die Temperaturmessung.

      Vier Wochen lang sind alle Werte zwischen 32 und 40 Grad Celsius, doch dann eines Tages meldet das Gerät minus 273,15 Grad Celsius, was gleichzeitig der absolute Temperatur-Nullpunkt wäre. Nun, ganz offensichtlich ist da etwas passiert und der Meteorologe streicht das Ergebnis aus seiner Analyse und erhält dann eine Durchschnittstemperatur von 35,8 Grad. Ohne Streichung läge die durchschnittliche Mittagstemperatur des malerischen Eilands plötzlich bei nur noch 25,8 Grad. Es war also nötig, das eine, offensichtlich irreguläre Ergebnis zu streichen.

      Diesen Vorgang bezeichnen Wissenschaftler auch als „Entfernung von Fehlwerten“, „Messfehlerkorrektur“ oder einfach „Schwärzen“. Aber nicht immer sind diese Streichungen so eindeutig, wie bei unserem Beispiel aus der Südsee.

      Brugger gefiel die Benennung „Black-Spot“ und er markierte, sofern er einen solchen in der Arbeit eines Kollegen fand, diesen mit einem kleinen „BS“ am Rand seiner Ausgabe.

      Im schmunzelnden Wissen, dass bei seinen englischsprachigen Kollegen „BS“ für Bullshit stand, verbreitete er seine Kritik gerne, wenn er feststellen musste, dass in einem Forschungsbericht dermaßen häufig „BS“ auftauchte, dass man den Eindruck gewinnen konnte, der Kollege habe solange geschwärzt, bis seine ursprüngliche Theorie durch Zahlen auch endlich belegt werden konnte.

      Für manchen galt es als kleiner Adelsschlag, für andere als blanke wissenschaftliche Ohrfeige, wenn man in Bruggers vierteljährlichem „Bullshit-Report“ erwähnt wurde. Selbstverständlich veröffentlichte Brugger die Papiere immer wieder unter anderen, deutlich neutraler klingenden Namen, aber die wissenschaftliche Gemeinde hatte sich längst auf den Spitznamen seiner Artikel geeinigt und Brugger mochte ihn sehr, obwohl er das nie zugeben würde.

      So entstand die Idee, aus all diesen geschwärzten Werten, diesen ungeliebten Kindern der Wissenschaften, letztlich doch noch etwas Großes zu machen. Seine Sammlung aus Forschungsergebnissen war bereits riesig, aber er hatte alle größeren Universitäten weltweit dennoch angeschrieben, mit der Bitte, man möge ihm alles zukommen lassen, was entbehrlich sei, sofern der jeweilige Kollege auch zugestimmt hatte.

      Die Berichte trudelten in regelmäßigen Abständen ein. Auch von Kollegen, bei denen er sich sicher gewesen war, dass sie nicht zustimmen würden. Und so saßen er und sein Team plötzlich vor über fünfzigtausend wissenschaftlichen Untersuchungsreihen mit Einzelergebnissen im hohen dreistelligen Millionenbereich und fast einer Million seiner geliebten „Black-Spots“.

      Um der Masse an Daten Herr zu werden, verbannte Brugger zunächst alle Untersuchungen, bei denen nicht mindestens zwei Messwerte geschwärzt worden waren. Man wollte schließlich Gemeinsamkeiten finden, Parallelen die sie letztendlich auf die Spur von etwas Neuem stoßen sollten. Dabei war es grundsätzlich egal, ob die „Black-Spots“ von den jeweiligen Forschern begründet oder kommentarlos gestrichen worden waren. Er hatte bei seinem Stab auch immer Geduld gepredigt. Man suche nicht die Nadel im Heuhaufen, sondern eher einen hypothetisch vorhandenen Metallsplitter dieser Nadel.

      Und diese Geduld war bitter nötig, denn nach nun fast acht Monaten war sein Lehrstuhl immer noch praktisch ergebnislos. Man hatte lediglich die Gründe für etliche Fehlmessungen dokumentieren können, insbesondere