Christian Schuetz

CYTO-X


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der erste Passant fragt: „Was haben Sie denn vollbracht?“ und du dann antworten musst: „DAS weiß ich noch nicht!“

      Man musste sich in solchen Momenten immer beherrschen, nicht zu früh zu jubeln und man durfte schon gar nicht andere Fachkollegen informieren. Das würde mit Sicherheit im Fiasko enden. Eine Entdeckung erforderte immer ein gesundes Maß an Verschwiegenheit oder gar Geheimniskrämerei.

      Erst wenn das Gebilde solide genug war, durfte man es in die Wildnis der Wissenschaft entlassen. Das Kind deiner Forschung musste gesund und kampfbereit sein, wie ein Elefant oder ein Nashorn; schickte man eine kränkliche, kleine Gazelle, würde sie nur von den Hyänen zerrissen werden. Und Hyänen gab es in der wissenschaftlichen Gemeinde zur Genüge.

      Er griff nochmals nach seinem Smartphone und tippte eine revidierte Meldung ein: „Streiche zehn Uhr! Arbeite zu Hause! Nur dringendste Anrufe!“

      Der Fortschrittsbalken zeigte Brugger an, dass er frühestens in einer Stunde mit einem abschließenden Protokoll rechnen konnte, also lieber erst mal duschen, einen Kaffee ziehen und den Verstand für das öffnen, was dieser Tag noch bringen könnte.

      Was hatte er da heute Nacht eingegeben? An alles konnte er sich nicht erinnern, nur dass er sehr viele Verknüpfungen erlaubt hatte, was vielleicht die riesige Zahl an potenziellen Treffen erklärte. Und gerade diese würden Brugger sicher noch die meiste Arbeit machen.

      Brugger betrat das Bad und betrachtete sich im Spiegel. Mit seiner linken Hand strich er über die Altersfurchen und zog sie etwas glatt. Besonders nach einer solchen Nacht sah er so alt aus, wie er war, zweiundsechzig. Seine Tochter würde noch immer von „etwas größeren Grübchen“ sprechen, aber das war Humbug und eines stand für ihn jetzt schon fest: Was da gerade geschah, würde seine Falten nicht kleiner werden lassen und auch den Anteil an grauen Haaren nicht reduzieren.

      Was auf diese Einsicht folgte, war sicherlich die längste Dusche seines Lebens, verbunden mit dem höchsten Pro-Körper-Seife-Verbrauch der Menschheit; vom Wasserverbrauch ganz zu schweigen. Dass er das Einseifen dreimal wiederholte, bemerkte er nicht. Seine Haare allerdings blieben weitgehend ungewaschen. Die Dusche war also nach seinen Maßstäben ein organisatorisches Fiasko, aber er machte sich bereits Gedanken über die Auswirkungen seiner Entdeckung, sofern es denn wirklich eine Entdeckung war und nicht sein Ende als ernsthafter Wissenschaftler bedeutete.

      Den Bademantel übergeworfen und die Kapuze über die zumindest nassen Haare gestülpt, schlappte er zurück in Richtung Kochnische, wo er seinen Kaffeeautomaten anschaltete. Er konnte am Knacksen aus dem Rechner hören, dass das Programm noch nicht fertig war. Außerdem würde „In der Halle des Bergkönigs“ ertönen, sobald die Analyse fertig war. Er musste leicht grinsen, weil er sich noch zwischen diesem Lied und „Morgenstimmung“ hatte entscheiden müssen. Er hatte das richtige Lied gewählt. Es würde langsam und leise beginnen und immer schneller und lauter werden mit großen Crescendo am Ende. Brugger machte sich einen Milchkaffee und fand in einem Schrank noch leckere Kekse, „Double-Chocolate-Chunk-Cookies“. Vielleicht nicht das gesündeste Frühstück, aber gut fürs Gemüt und ein wenig Nervennahrung, dank der Schokolade.

      Als er hörte, wie die Musik begann, blieb er an seiner Kaffeebar stehen und genoss das Lied, den Kaffee und die Cookies. Der Stress würde ihn noch früh genug einholen. Erst als die Musik aus den Wäldern und Bergen Norwegens verklungen war, begab er sich wieder in den großen Raum und stellte sich neben das Bett, von wo aus er den großen HD-Bildschirm am besten sehen konnte.

      182 Übereinstimmungen und 142.557 potenzielle Treffer lautete das Endergebnis des Programms. Er rieb sich mit beiden Händen durchs Gesicht und bemerkte, dass er das Rasieren vergessen hatte. Was zum Teufel hatte er eigentlich über eine halbe Stunde lang in dieser Dusche gemacht? Egal, es gab nun Arbeit und zwar jede Menge.

      Brugger stöpselte nun seinen PC wieder an den normalen Monitor an. Dieser Job erlaubte nicht die Bequemlichkeit eines Bettes. Hier war harte Arbeit für einen Wissenschaftler angesagt und diese erledigte sich einfach am besten an einem Schreibtisch.

      Der Kapuzen-Bademantel ließ ihn von weitem eher wie einen alten Jedi-Meister statt wie einen Professor erscheinen. Nur die Plüsch-Tiger passten nicht zu Darth Brugger.

       Wieso hatten eigentlich die von der dunklen Seite der Macht immer die coolen Namen?

      Nun begann die mühsame Kleinstarbeit am Rechner. Dabei vergaß er alles um sich herum. Die Putzfrau, die am Nachmittag vorbeikam, fand ihn in Boxershorts und einem weißen Feinripp-Unterhemd vor, da er beim Grübeln den Vorgang des Anziehens abgebrochen hatte. Auch dauerte es einige Minuten, bevor er bemerkte, dass er etwas unpassend gekleidet war und sich dann dazu zwang, sich doch noch fertig anzuziehen. Die Putzfrau störte ihn dann aber doch so sehr, dass er ihr sagte, sie solle nur das Bad machen. Er bezahlte sie für die vollen vereinbarten zwei Stunden und musste ihr mehrfach versichern, dass alles in Ordnung war.

      „Ja, am Montag wieder normal! Ich werde Sie dann auch nicht mit meiner Anwesenheit stören, dann können Sie putzen wie und was Sie wollen!“ Es klang etwas arrogant, war aber nicht so gemeint. Er mochte die Frau, die nun schon seit sieben Jahren bei ihm putzte, ihren eigenen Schlüssel hatte und vor der er manchmal sogar seine privaten Probleme ausgeschüttet hatte. Das hatte er aber jedes Mal mit einem Trinkgeld bedacht, schließlich war er der Ansicht, sich so den Weg zum Seelenklempner gespart zu haben.

       Psychologie! Was heute alles Wissenschaft sein will!

      Zurück am Schreibtisch hatte sein Rechner für ihn eine Meldung parat: „Darstellung nicht möglich! Reduzierung der Dimensionen empfohlen.“ Die Nachricht wurde von einem „Ausführen“-Feld begleitet. Brugger legte seine Stirn in Falten und rieb sich das Kinn mit einer Hand. Er hatte keine Ahnung, worauf dieses Mistding hinaus wollte und so fuhr er mit dem Mauszeiger eben über dieses „Ausführen“-Feld und klickte. Langsam erschienen Punkte auf dem Bildschirm, allerdings so langsam, dass klar war, dass hinter jedem Punkt einiges an Rechenarbeit steckte.

      Nebenbei sah er ein paar der Protokolle durch; vielleicht gelang es ihm dort zu erkennen, warum eine Reduzierung der Dimensionen erforderlich war und verdammt nochmal, welche Dimensionen sollten denn da vernachlässigt werden? Dann sah er es Weiß auf Schwarz: „x=0; y=0; z=0“; also alle drei darstellbaren Dimensionen? Brugger minimierte das Fenster mit dem Protokoll und musste mitansehen, wie sein Rechner gerade ein dreidimensionales Bild erzeugte.

      Aus einzelnen Punkten entstand eine perfekt geformte Schleife, die durch den Mittelpunkt der Anzeige verlief und dann auf der Gegenseite eine absolut symmetrische Schleife erzeugte. Dann kam die Linie wieder durch den Mittelpunkt, bog um ein paar Grad ab und bildete wieder eine Schleife von exakt der gleichen Größe und so lief es weiter und weiter. Wunderschöne präzise langgezogene Unendlichkeits-Zeichen, immer leicht nebeneinander versetzt, aber ein Schönheitspreis war hier nicht zu gewinnen. Dennoch erfreute die Ästhetik des Ergebnisses den Physiker.

Grafik 2

      Brugger sah nochmal auf das Protokoll. Nein, er hatte sich nicht geirrt: X, Y und Z waren auf null gesetzt. Wenn der Rechner nun eine dreidimensionale Darstellung anbot, dann war Achse X die Zeit, das war klar, aber was waren Y und Z? Theoretisiert wurde schon immer über unendlich viele Dimensionen, aber zu fassen hatte sie noch niemand bekommen.

       Bis jetzt?

      Brugger begann leicht zu grinsen, während sich die Schleifen weiter verdichteten. Die Freiheiten, die er dem Programm erlaubt hatte, zahlten sich aus. Obwohl er sonst durchaus etwas restriktiver arbeitete, war er heute Nacht wohl in der richtigen Laune gewesen.

      Brugger überlegte laut: „Dimension fünf ist vielleicht der Versuch die Krümmung von Raum und Zeit darzustellen. Aber was ist Dimension sechs?“ Oder teilte das Programm Raum- und Zeitkrümmung nochmal in zwei unabhängige Darstellungs-Dimensionen?

      Bei geschätzten knapp dreitausend Schleifen hörte das Zeichenprogramm auf. Brugger betätigte die Option „Automatisch vervollständigen“, und nach kurzem Knacksen flogen die Schleifen nur