Christian Schuetz

CYTO-X


Скачать книгу

      Die Eheleute wurden getrennt voneinander aufs Revier gebracht und befragt. Marit konnte es nicht glauben. Gerade hatte sie ihren Sohn verloren und nun stellte man ihr Fragen, die darauf hindeuteten, dass die Polizei zumindest einen Verdacht gegen Thorwald hegte.

      „Gab es Anzeichen?“, fragte eine Kommissarin sie. „Hat ihr Mann jemals die Hand gegen den Jungen erhoben? Oder gegen Sie?“

      Marit antwortete fast apathisch auf die Fragen, die allesamt mehrfach gestellt wurden, so als ob man ihr etwas in den Mund legen wollte. Irgendwann schrie sie die Kommissarin dann an: „Lassen Sie mich endlich in Ruhe! Mein Mann ist kein Schläger! Kein Mörder!“

      Marit war weinend zusammengebrochen. Der Anwalt der Familie war mittlerweile eingetroffen und sorgte dafür, dass die Magnussens wieder nach Hause durften. Die zuständigen Beamten entschuldigten sich für die Befragung. Dennoch war ihnen das Misstrauen gegen Thorwald anzusehen.

      Zu Hause erzählte Thorwald ihr dann in Ruhe, was geschehen war: „Ich bin aufgewacht und musste zur Toilette. Da habe ich das grüne Licht aus Leifs Zimmer gesehen. Ich ging auf die Tür zu und sah durch einen Spalt diesen Mann, diesen Fremden!“

      Marit zitterte. Ein Fremder im Haus machte ihr Angst, aber fast noch mehr Angst machte ihr die Möglichkeit, dass Thorwald sich das unter Stress eingebildet hatte oder gar, dass er Leif wirklich etwas angetan und sein Unterbewusstsein diesen Fremden erfunden hatte. Die Kommissarin hatte so etwas in der Art als typisches Verdrängungsverhalten angedeutet.

      „Der Mann hatte ein Gerät in der Hand!“, fuhr Thorwald fort. „Das grüne Licht kam aus diesem Ding und er hat damit Leif angestrahlt. Ich bin losgerannt, aber dann hat ein Luftzug die Tür zugeschlagen. Als ich sie wieder aufgerissen habe, war der Mann weg. Keine Spur von ihm und Leif lag tot ...“

      Thorwalds Stimme brach in einem Schluchzen ab und Marit verschwand im Schlafzimmer und sperrte sich ein. Sie wollte davon nichts mehr hören. Am nächsten Tag sagte dann Thorwald, dass es ein schlimmer Traum gewesen sein muss, der ihn zu Leif geführt hatte. Er schien selbst akzeptiert zu haben, dass es Einbildung war.

      Aber zwei Tage später nahm die Polizei Thorwald in Untersuchungshaft, nachdem der erste pathologische Befund als Todesursache die Schläge auf den Brustkorb genannt hatte. Die Medien hatten auch davon erfahren und Marit konnte die nächsten Tage nur mit heftigen Beruhigungsmitteln überstehen.

      Nach etwa einer Woche kam die Rettung in Form des Abschlussberichts aus der Pathologie. Bei Leif wurde eine sehr seltene Erbkrankheit festgestellt, die die Zellstruktur geschwächt hatte. Dies hatte sich anscheinend über Monate auf sein Herz ausgewirkt, das dann einfach kollabiert war.

      Die Krankheit wäre ohne spezielle Untersuchungen und Verdachtsmomente nicht festzustellen gewesen. Dass die Eltern nicht an der Krankheit litten, wäre nicht ungewöhnlich, weil der Fehler im Erbgut gerne mal zwei oder drei Generationen übersprang. Man entschuldigte sich für den Verdacht gegenüber Thorwald, aber auf den ersten Blick schien das Herz aufgrund heftiger Schläge auf den Brustkorb geschädigt worden zu sein.

      Die folgenden Wochen waren für das Ehepaar trotzdem die Hölle. Beide gingen gemeinsam zur Therapie, verbrachten mehrere Wochen in einer speziellen Kureinrichtung für Traumapatienten, bis Thorwald endgültig davon überzeugt war, dass dieser fremde Mann nur Ergebnis seiner Fantasie war.

      Ihre gemeinsame Therapeutin sprach davon, dass Thorwalds Unterbewusstsein einen Hilferuf aus Leifs Unterbewusstsein aufgefangen und so den Traum erzeugt haben könnte. Darauf hatten sie sich dann gemeinsam am Ende verständigt.

      Wirklich glauben mochte Marit diese Erklärung allerdings nicht. Was sagte das denn über sie als Mutter aus? Thorwald hatte den Hilferuf gehört, sie aber nicht? Dennoch war es besser, die Ereignisse ruhen zu lassen, als ständig nach Antworten zu suchen.

      Thorwalds berufliches Leben litt weiter. Er hatte jeden Antrieb verloren, aber seine Uni war geduldig, beurlaubte ihn und gab ihm viel Zeit, seine Angelegenheiten zu klären. Sechs Monate nach dem Tod von Leif fuhr Marit zu ihrer Mutter, weil es auch dieser nicht besonders gut ging.

      Als sie nach drei Wochen wiederkam, war Thorwald wie ausgewechselt. Seine Papiere waren nicht nur in seinem Arbeitszimmer verstreut, sondern flogen bis in den Flur. Es war anscheinend seine Art und Weise, endlich den Verlust zu kompensieren. Er kehrte auch wieder an die Universität zurück und da er sein Leben scheinbar wieder in den Griff bekommen hatte, indem er sich in seine Arbeit stürzte, suchte auch Marit eine Beschäftigung.

      Wirklich gelernt hatte sie nichts, aber sie konnte repräsentieren und so engagierte sie sich für eine Kinderhilfsorganisation. Sie wurde zum Gesicht der Initiative und war sehr erfolgreich in ihren Bemühungen, Geldmittel von Prominenz und Politik zu beschaffen.

      Persönlich war ihr der direkte Kontakt zu den Kindern wichtiger. Das war Marits Weg den Verlust ihres Sohnes zu bewältigen. Ihre Organisation kümmerte sich um in Not geratene Kinder und jedes einzelne Lächeln eines dieser Kinder half, ihre Wunden zu heilen.

      Der Ehe tat es natürlich nicht gut, dass beide auf unterschiedliche Weisen vergessen wollten und sich deshalb oft tagelang nicht sahen, aber ihr Fundament war dennoch stark genug, dass die Ehe hielt. Die Verliebtheit und vor allem der wilde Sex waren Vergangenheit, aber sie gehörten trotzdem zusammen. Und dann begrub vor sechs Jahren eine Lawine auch diesen letzten Rest ihrer Ehe.

      1 - Black-Spots and Bull-Shit

      Freitag, der 28. Juni 2013!

      03:23 AM

      Brugger schreckte hoch, als die Schneemassen über ihn hereinbrachen. Er war den ganzen Abhang hinuntergerast, aber der Lawine konnte er nicht entkommen. Das riesige Maul aus Schnee hatte förmlich nach ihm geschnappt, ihn wie ein denkendes Wesen verfolgt. Brugger hatte Haken geschlagen wie ein Schneehase, aber am Ende war alles vergeblich.

      Aber das passte jetzt alles nicht zusammen. Ihm war warm, der Raum war dunkel und nur von der vertrauten, orangefarbenen Anzeige seines LED-Weckers erleuchtet. Sein Puls war deutlich erhöht. Das war nur ein Traum gewesen! Er durfte seit über zwanzig Jahren schon nicht mehr Ski fahren, weil er Probleme mit seinen Knien hatte, und jenseits der Sechzig war es sicher auch nicht angebracht, abseits der Pisten über Schneebretter zu wedeln.

      Es war auch nicht sein eigener Traum oder besser gesagt, sein eigenes Schicksal. Vielmehr hatte er gestern den Lebenslauf eines Kollegen aus Oslo studiert, der ein tragisches Ende bei einem Lawinenunglück gefunden hatte. Professor Arno Brugger war Professor Thorwald Magnussen nie persönlich begegnet, aber die Ergebnisse der letzten Arbeit des Norwegers lagen seit einigen Monaten in Bruggers Lehrstuhl herum, ohne große Beachtung zu finden. Aber da Brugger bei seinem eigenen Projekt mehr und mehr Rückschläge einstecken musste, wollte er nochmal neue Wege gehen und auch Daten durchforsten, die er und sein Team eigentlich schon als irrelevant abgeschrieben hatten.

      Aber jetzt war es erst mal mitten in der Nacht. Kurz nach halb vier mittlerweile und damit zu spät, um dem vergangenen Tag noch Sinnvolles hinzufügen zu können und zu früh, um den neuen Tag schon zu beginnen. Andererseits war es keine Option, sich jetzt einfach wieder hinzulegen, da Brugger das Adrenalin in seinen Adern spürte, als wäre er wirklich in den Bergen verunglückt. Es war ein sehr intensiver Traum gewesen und das Mindeste zur Beruhigung war nun ein Tee oder eine warme Milch. Er stand auf und tapste nackt in Richtung Herd.

      Der Schrank, in dem er seine Teesortensammlung aufbewahrte, hatte eine verglaste Front und so sah er sich selbst und zuckte leicht zusammen. Das Gesicht, das er dort erblickte, schien nicht sein eigenes zu sein, aber es verwandelte sich langsam wieder dazu. Die weißen Haare wurden grau, der Vollbart verwandelte sich in den gewohnten Dreitagebart, die tiefen Furchen, die von seinen Nasenflügeln an den Mundwinkeln vorbei bis fast ans Kinn verliefen und somit sein Gesicht markant machten, zeigten sich wieder. „Früher waren das mal Grübchen!“, erinnerte sich Brugger.

      Es war ein Nachhall des Traumes. Zunächst hatte er tatsächlich kurz Magnussen gesehen, den er nur von Bildern kannte.