Christian Schuetz

CYTO-X


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war aber schlau genug, sich gleich auf den Weg zu seinem Medizinschrank zu machen. Er spürte, dass er Nitro brauchte, weil sein Herz unregelmäßig schlug. Kein Wunder bei dem, was er gerade gesehen hatte. Er legte sich eine Tablette unter die Zunge und blickte in den Spiegel. In diesem Moment hätte er schwören können, dass die Falten bereits tiefer geworden waren und dass das eine oder andere Haar sich weiß gefärbt hatte. Er sah einen Mann, der innerhalb von Stunden um drei bis vier Jahre gealtert war und das, obwohl er sich eigentlich hätte freuen sollen über die größte Entdeckung seit ... Ja, seit wann denn?

      Das Objekt, die Darstellung der Berechnung hatte er gesehen. Was aber fehlte, war die Interpretation und diese wurde gerade in seinem Gehirn erstellt. Hatte Professor Magnussen etwa danach gesucht? Wie konnte er das, wenn ihm doch die anderen Ergebnisse gar nicht zur Verfügung standen, aus denen sich diese Unmenge an Volltreffern überhaupt ergeben hatte?

      Nein, Magnussen war nur etwas aufgefallen; eine Unregelmäßigkeit in der Zusammensetzung der Polarluft vielleicht? Danach sah sein Versuchsansatz aus und ließ auf nichts anderes schließen. Und wenn man bedachte, dass der Norweger aber auch gar keinen Hinweis auf seine Absichten in den Dokumenten hinterlassen hatte, konnte man zu dem Schluss kommen, dass er nicht wollte, dass jemand anderes von seinen Vermutungen erfuhr.

      Magnussen war also damals in der gleichen Situation, wie Brugger heute. Er wusste, dass er etwas entdeckt hatte, aber er konnte es nicht veröffentlichen, weil man ihn in der Luft zerrissen hätte, wäre er mit unvollständigen Daten vor die Kollegen getreten. Da die Uni sein Projekt beendet hatte, war auch klar, dass wohl keiner seiner Assistenten wusste, was er gesucht hatte.

      Bruggers Computer interpretierte Magnussens Ergebnisse nur. Ein Darstellungsversuch der Krümmung der Zeit konnte nur bedeuten, dass die Proben in Magnussens Untersuchung eine zeitliche Diskrepanz aufwiesen; also, dass die später genommenen Proben „jünger“ waren als die frühen? Wissenschaftlicher Unfug, aber er musste dem nachgehen.

      Die langsam rotierende Kugel auf dem Monitor stach ihm wieder ins Auge. Sie hatte etwas Drohendes, etwas Beunruhigendes, was hauptsächlich daran lag, dass sie durch ihre Kompaktheit die einzelnen Schleifen verdeckte oder vielleicht sogar verstecken wollte? Mein eigener kleiner Todes-Stern? Schnell drückte Brugger auf die Reverse-Taste und schon waren wieder nur die Schleifen zu sehen, die aus den wirklich vorhandenen 182 Treffern entstanden waren. Auch das waren schon reichlich viele für seinen Geschmack.

      Er musste sich die Daten aus dem Päckchen, das Steffen zusammengestellt hatte, nochmal gründlich anschauen. Er vermied jegliche schicke Darstellungsweise und ließ sich nur langweilige Tabellen anzeigen. Jede Luftprobe war sauber chronologisch markiert, fast penibel im Fünf-Minuten-Takt ohne irgendeinen Hinweis auf Ungereimtheiten. Da gab es gar nichts zu finden, also stöberte er ein wenig in den chemischen Auflistungen herum.

      Fast jede der Proben war in ihrer Zusammensetzung zu 99,99 Prozent identisch mit allen anderen. Nur einige wenige der Proben wichen um circa 0,2 Prozent in ihrer Zusammensetzung ab. Das war für Brugger schwierig zu analysieren, weil es nicht direkt in seinem Fachbereich lag, aber zumindest konnte er mit dem Computer so gut umgehen, dass er sich die Art und Menge der Moleküle anzeigen lassen konnte, die diese Abweichung verursachten.

      Proteine, Lipide, Polysaccharide, interessanterweise DNA-Spuren, dazu noch Spuren organischer und anorganischer Verbindungen, Moleküle oder Ionen. Insgesamt gut dreißig Zeilen an Substanzen im Nanogramm-Bereich, die ihm den Kopf schwirren ließen. Und immer, wenn die Abweichungen kamen, war das Verhältnis dieser Substanzen zueinander gleich.

      Zellspuren! Cytoplasma! Plötzlich erkannte er, was sich da präsentierte. Spuren von Zellflüssigkeit mussten das sein. Ein wenig Biologie war dann doch in seinem alten Schädel hängengeblieben. Was fehlte, war der Wasseranteil von über achtzig Prozent, der in menschlichen oder tierischen Zellen vorkam, aber das konnte die Messung nicht anzeigen, weil das Wasser in der Luftfeuchtigkeit untergehen musste und deshalb sowieso angezeigt wurde.

      Die Jagdlust war plötzlich da. Endlich hatte er einen Ansatz. Er scrollte weiter, in der Erwartung, jedes Mal wieder die gleichen dreißig Zeilen zu sehen, doch plötzlich, bei etwa der Hälfte der Untersuchungsunterlagen, stand da nur noch ein Wert, eine zusammenfassende Bezeichnung für das Gemisch: Magnasse!

      Brugger nickte. Ja, das war Magnussens gutes Recht, seine Entdeckung nach sich selbst zu benennen. Dass er es nicht Cytoplasma (oder besser dehydriertes Cytoplasma) nannte, konnte nur eines bedeuten: Es handelte sich nicht um eine menschliche, tierische oder pflanzliche Zellflüssigkeit!

      War es eine synthetisch hergestellte Substanz? Oder war sie von außerirdischer Natur? Brugger hasste es, an Science Fiction denken zu müssen, aber nach allem, was er in den vergangenen Stunden gesehen hatte, war es sogar eine logische Erklärung, dass Magnussen die Spuren von zeitreisenden Aliens nachgewiesen haben könnte. Allerdings hatte er bis dato keine chronologischen Abweichungen gefunden, die den Zeitreise-Aspekt bestätigen würden.

      Brugger hatte das ungute Gefühl, dass gerade diese Abweichungen bald auftauchen würden, weil er sie bisher nur übersehen hatte. Er blickte auf die Uhr. Es war kurz nach sechs am Abend und vielleicht gerade noch Zeit Steffen an der Uni zu erreichen.

      Er zögerte kurz und beruhigte sich erst durch langes, tiefes Atmen. Er wollte nicht zu aufgeregt klingen, denn möglicherweise hatte er hier etwas entdeckt, was vielleicht niemals veröffentlicht werden konnte oder durfte.

      Er wählte Steffens Nummer und nach nur zweimal klingeln war Steffen auch schon dran.

      „Chef? Was gibt's?“ Brugger konnte förmlich heraushören, dass er ihn gerade noch erwischt hatte, bevor er ins Wochenende abmarschiert wäre.

      „Nichts Wichtiges! Äh, sagt Ihnen der Begriff Magnasse was?“, gab er so beiläufig wie möglich von sich.

      „Magnasse?“, fragte Steffen und schien kurz zu überlegen. „Ja, sicher, das Zeug mit der C-14-Methode. Habe ich den Anhang nicht dem Datenpaket angefügt?“

      Bruggers Herz blieb fast stehen. Die C-14-Methode diente der Altersbestimmung von organischen Substanzen. Oh, mein Gott, dachte er, Magnussen hatte genau gewusst, was er da tat, genau gewusst, auf was für einer heißen Spur er sich befunden hatte. Deshalb die absolute Verschwiegenheit! Aber Steffen hatte ihm eine Frage gestellt und Brugger wusste nun nicht mal mehr, was er gefragt hatte? In ihm kam Panik auf.

      „Chef? Sind Sie noch da?“, klang Steffen besorgt.

      Jetzt musste Brugger improvisieren. „Äh ... ja ... Moment ... Ich hab' hier Kaffee verschüttet!“

      Oh, Gott! Wann hatte er das letzte Mal bewusst gelogen? Gerade Steffen würde es seiner Stimme anmerken, dass hier etwas nicht stimmte. Doch er hatte Glück, dass Steffen wohl wirklich auf dem Sprung nach Hause war.

      „Also, Chef, ich bin schon mit einem Bein aus dem Büro. Die Altersbestimmung der Magnasse ist in einer Unterdatei gespeichert, aber die Werte sind bereits mit der Hauptstudie verknüpft. Wenn Sie die Werte anschauen wollen, da ist ein Unterverzeichnis mit dem Namen C-14. Die Werte sind nicht in der Mappe, weil das die einzigen Daten von Magnussen waren, die auf CD gebrannt waren. Die CD liegt irgendwo auf meinem Schreibtisch, falls Sie das Original brauchen. Ich muss nun wirklich los, wir fahren übers Wochenende mit den Kindern weg!“

      Steffen war zu sehr abgelenkt, als dass er misstrauisch werden konnte. Wahrscheinlich war er länger an der Uni geblieben, als er seiner Frau versprochen hatte. Seine Kollegen tuschelten bereits, dass Steffen zu Hause nun wirklich nicht die Hosen anhatte. Für Brugger war dies ein Gottesgeschenk.

      „Ja, los! Ich sagte doch, es ist nicht wichtig! Die Kinder gehen vor! Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Grüßen Sie Ihre Frau, bitte!“ Er hätte kein weiteres Wort mehr herausgebracht, so trocken war sein Mund geworden.

      „Danke, Chef! Bis Montag!“, und schon war Steffen weg.

      Brugger klickte den Ordner mit dem Namen „C-14“ an. Dort waren die Proben in zeitlicher Reihenfolge aufgelistet. Die Altersbestimmung schwankte zwischen Null und über fünfhundert Jahren, weder aufsteigend, noch absteigend,