Helge Hanerth

Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers


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wie weit ich von meinem Traum noch entfernt bin. Jede Entscheidung muss exakt beschrieben werden, um eindeutig zu sein. Auslegungen sollen so vermieden werden. Sie müssen nachgehalten und mit einer konkreten Maßnahme eingeleitet werden. Will ich z.B. am folgenden Tag zum Schwimmen gehen, dann ist bereits am Vorabend die Sporttasche zu packen. Zusätzlich lege ich die Zehner-Karte schon mal auf den Frühstückstisch.

      Für größere Ziele gibt es einen Aktionsplan. Alle Vereinbarungen dazu werden schriftlich fixiert in einer Maßnahmenmatrix.

       Niemals finde ich mich mit einer Situation ab, nicht einmal mit einer guten. Es geht immer auch anders und besser.

       Problemen weiche ich nicht aus, auch wenn sie kompliziert erscheinen. Ich stelle mich ihnen, weil ich die Schwierigkeiten vor der Auseinandersetzung mit einem Problem weniger fürchte, als die Ungewissheit, wenn ich Probleme vor mir herschiebe. Häufig entpuppen sich Probleme bei genauer Betrachtung als gar nicht so schwer lösbar. Mittlerweile ziehen mich deswegen Probleme sogar an. Ich löse gerne Probleme. Bei meiner Arbeit ist ein Problem, das ich angehe, immer auch eine Gelegenheit mich zu profilieren. Es sind die Projekte, die ich übernehme, die mich auszeichnen.

       Ich spreche über alles, was mich bewegt. Das tue ich auch, wenn ich von einer Person nicht erwarte, dass sie einen Ratschlag parat hat. Meine Erfahrung zeigt, dass ich oft überrascht werde. Die Sichtweisen anderer schaffen neue Blickwinkel auf den gleichen Sachverhalt. Das liefert bei Problemen zusätzliche Lösungsansätze.

       Für große Ziele suche ich mir Bundesgenossen. Heute spricht man auch von sozialen Netzwerken. Vereint bin ich stärker, das gilt nicht nur für die <Drei Musketiere>.

       Vereint bin ich auch im Verein. In meinem Verein für Gleitschirmflieger bin ich unter Gleichgesinnten. Da ist das Leben nicht nur viel schöner, die stellen auch mehr auf die Beine, als ich das alleine könnte. Bei Alkoholproblemen könnte so ein Verein eine Selbsthilfegruppe sein.

       Halbherzigkeit ist eine Todsünde. Es ist Zeitverschwendung etwas mit halber Kraft zu tun. So erreicht man nicht anspruchsvolle Ziele. Unbewusste Halbherzigkeit ist oft Ausdruck dafür, dass man von den Maßnahmen zur Zielerreichung nicht wirklich überzeugt ist. Fortgesetzte Halbherzigkeit ist somit auch die Ansage, den Erfolg nicht zu wollen. Wenn ich das weiß und nichts ändere, dann bedingt Halbherzigkeit sogar vorsätzliches Versagen.

       Ziele müssen positiv begründet werden, damit klar ist, wofür ich etwas tue. <Ich gehe joggen, weil mich das mit Energie auflädt>.

       Vermeidungsziele sind nicht zugelassen. Statt zu sagen, <ich esse kein Frühstückt> sage ich <ich gehe morgens joggen>.

       Ziele dürfen verschoben werden – einmalig.

       Wenn ich in Versuchung bin nachzugeben, frage ich mich, ob ich zu dieser Entscheidung auch noch am nächsten Tag stehen werde.

       Nie bei erster Erschöpfung pausieren. Man kann auch mit reduzierter Leistungsfähigkeit noch eine Menge schaffen. Schwierigkeiten und Widerstände sind normal. Das darf nicht stören. Es gibt keinen Anspruch auf Glück. Glück ist, was uns in den Schoß fällt oder was wir uns erarbeiten. Unter Umständen muss es mit Schweiß dem Leben abgerungen werden.

       Der Stundengong der Wanduhr ist die Gelegenheit, sich selbst bewusst zu machen und zu checken, ob ich mich im Rahmen meiner Vorgaben bewege. Das habe ich als Kind schon gemacht, als ich mir meine erste digitale Armbanduhr kaufte. Mit dem Stundensignal habe ich damals versucht mich in Gesellschaft nicht wie ein kopfloser, fremdgesteuerter Idiot zu verhalten. Ich habe innegehalten, um mich bewusst und situationsgerecht neu auszurichten.

       Ich gehe früh zu Bett, um früh aufzustehen. Nur dann sind meine Batterien aufgeladen. Nur dann ist volle Leistungsfähigkeit gewährleistet. Ich gehe gerne Joggen, wenn morgens in allen Häusern noch die Rollläden geschlossen sind oder ich im Winter im frischen, nur von einigen Kaninchen und Katzen berührten Schnee meine eigene <Loipe> trete

       Fehler müssen Konsequenzen haben. Wenn Fehler passieren, suche ich zu erst bei mir nach Ursachen. Ursachenforschung vermeidet unnötige Wiederholungen. Vielleicht musste ich ja scheitern? Vielleicht war das Ziel zu anspruchsvoll? Vielleicht liegt die Lösung darin, ein Ziel in mehrere kleine Etappenziele aufzuteilen? Ein Fehler ist immer auch eine Herausforderung. Ein Fehler ist die Chance zum Bessermachen. Ein Fehler enthält immer auch die Option zum Triumpf über das Versagen.

       Wiederholte Fehler brauchen Strafen, deren Anwendung schmerzhaft und erprobt ist. Ich muss die Disziplin haben mir etwas zu versagen, was mir lieb und teuer ist.

       Es braucht einen Plan B bei totalem Versagen oder bei realer Unmöglichkeit ein Ziel zu erreichen. Plan B ist als abgespecktes Minimalziel definiert. Der Plan B garantiert, dass ich immer erfolgreich bin. Es geht darum, die Richtung zu halten. Die Richtung ist ein angenäherter Weg zum Ziel.

      Machen mich meine Lebenserfahrung und meine Kontrollmechanismen stark genug gegenüber Alkohol? Ich war nach diesen Überlegungen der Meinung, die Frage mit Ja beantworten zu können. Mit meiner Persönlichkeitsentwicklung traute ich mir das auch ein zweites Mal zu. Schon in der ersten Trinkphase hatte ich immer einen genauen Trinkplan, der stets eingehalten wurde. Auch damals hatte ich die Trinkphase selbstständig beendet. Während der Trinkphase hatte ich mich nie nach Alkoholkonsum zu einer Autofahrt entschieden. Wieso sollte das jetzt anders sein? Die Gutachter sahen das Risiko doch nur, weil sie von falschen Annahmen und statistischen Hochrechnungen ausgingen. Sie waren überfordert mit einer Prognose, deren Parameter sie nicht sämtlich erschließen konnten. Ihre Vorsicht war in Unwissenheit begründet. Ich und mein Leben waren doch gar nicht wirklich Gegenstand ihrer Untersuchungen gewesen. Ihre Beurteilungen waren wissenschaftlich nicht korrekt und gingen manchmal an der Wahrheit vorbei.

      In meiner Studie sollte es keine externen statistischen Bezüge geben. In meiner Studie zählten nur Bezüge auf das Individuum in seinem wirklichen Verhalten. Meine Annahmen mussten besser sein, weil ich erkannte, was sie nur glauben wollten oder zu wissen glaubten. Meine einschlägigen Lebenserfahrungen berechtigten in ihrem Umfang zu den getroffenen Entscheidungen. Wer die nicht auch hat, den muss ich dringend vor einem solchen Experiment warnen. Es braucht den kompromisslosen Willen selbst am Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs die Entscheidung zur Umkehr zu treffen und auch zu exekutieren.

      Ich nannte meine Studie Trinkprojekt. Den letzten Ausschlag gegen Bedenken zum Trinkprojekt gab eine Erinnerung an einen Mann, der in einer Fußgängerzone eine Spielzeugente auf Rädern hinter sich herzog. Damals löste sich meine Verwunderung, als ein Kommilitone erklärte, dass das Teil einer Therapie sei, die von einer bekannten psychologischen Praxis durchgeführt wurde. Die meisten Patienten seien Alkoholiker, die lernen sollten, angesichts der permanenten Gegenwart von Alkohol, damit umzugehen. Nichts anderes hatte ich im Trinkprojekt vor.

      Vom Studiendesign her konnte es natürlich keine doppelblinde, randomisierte Studie werden. Aber es sollte eine Studie mit klarem Endpunkt und permanenter Verlaufskontrolle, sowie täglichen Evaluationen werden. Sämtliche Details waren schriftlich zu regeln, bis hin zu den Bedingungen für einen Abbruch und Sanktionen für Regelverletzungen. Ich wollte in meinem Trinkprojekt genauso vorgehen, wie in den pharmakologischen Studien, mit denen ich mich bei meiner Arbeit beschäftigte.

      Dafür legte ich auf meinem Firmen-Laptop mit MS-Project das Trinkprojekt an. Mit dem Programm konnte ich über ein zeitliches Verlaufsdiagramm sämtliche Planungsschritte dokumentieren und überwachen. Alle Maßnahmen und Prozesse mussten zuvor beschrieben werden. Unter MS-Word begann ich dazu mit einer Präambel.

      In der Studienpräambel nannte ich als Grund für die Untersuchung die Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdbeurteilung, hinsichtlich meines Trinkverhaltens und den Verhaltensweisen unter Alkoholeinfluss. Mein Glaube falsch beurteilt worden zu sein nagte an mir. Das Problem war zu lösen, damit ich wenigstens meinen Frieden finden konnte, wenn ich schon nicht auf Gerechtigkeit hoffen durfte. Das Zeitfenster der Studie sollte sieben Trinkmonate betragen. Das war kürzer als der Zeitraum meiner ersten Trinkphase. Alle Details der Studie bedurften der Schriftform. Durch eine ausschließlich auf das Individuum bezogene Untersuchung, die frei von allgemeinen statistischen Prämissen war, sollte in erster