Helge Hanerth

Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers


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mochte ich ihn dann doch noch nicht. So akut war es nicht. Noch hoffte ich auf eine besondere Idee. Die kam aber nicht. So entschied ich mich für Krafttraining, putzen und Alkohol als tägliche Freizeitroutine an den Nachmittagen. Die Vormittage blieben reserviert für freiwillige Arbeiten am Rechner für meine Firma. Ich entschied die nächste Lebensmittelbestellung um Korn zu ergänzen. Bis dahin setzte ich die Grundreinigung der Fliesen für die gesamte Etage fort. Morgen würde ich mich dann noch die Treppe hocharbeiten in die nächste Etage. Bis dahin hatte ich auch das Physikbuch durchgelesen.

      Als Pascal mit dem Einkauf kam, war er keineswegs überrascht, über meinen weiteren Wunsch auf der Einkaufsliste.

      „Gibt es einen besseren Grund als den hier?“, fragte er ohne eine Antwort zu erwarten und sah auf meine Beine.

      Von nun an sahen die Tage wie folgt aus:

       6:00 Uhr Aufstehen, dann Hanteltraining

       7:15 Uhr Frühstück mit Tageszeitung (ich las sonst nie Zeitungen,

      keine Zeit)

       8:00 Uhr Büroarbeit

       13:00 Uhr Mittagessen

       14:00 Uhr Alkohol, YouTube und Video

       20:00 Uhr Bettruhe

      Gegen 19:30 Uhr nahm ich meinen letzten Drink und rollte ins Bad. Ich wusste, dass ich dann bald einschlafen würde. Zehn Stunden Schlaf stellten sicher, dass ich morgens fit war. Dann platzte ich wieder vor Energie. Das Hanteltraining kam mir dann gerade recht.

      Ich liebe solche Ordnung. Sie schafft Klarheit. Es gibt dann keinen diskussionsfähigen Grund für Änderungen. Ich diskutiere keine Ausflüchte zu einer zuvor festgelegten, legitimen Regel, die ich mit klarem Verstand vernünftiger Weise festgelegt habe. So etwas würde mich süchtig machen. Hier gibt es also etwas zu beweisen. Ernsthafte Einwände sind aufzunehmen und später zu verhandeln. Von diesem Prinzip bin ich so überzeugt, weil es im Leistungssport so gut funktioniert hat.

      Die Kombination von Trinken und Sport ist für viele Menschen ungewöhnlich. Tatsächlich kannte ich persönlich auch keinen zweiten Alkoholiker, der das machte. Ganz überwiegend neigen Alkoholiker zur Trägheit. Sie sind passive Genießer. Für mich war aber der Sport immer schon da gewesen. Es wäre merkwürdig, wenn er plötzlich nicht mehr da wäre. Gerade angesichts meiner totalen Freizeit war es so einfach, mal eben eine Stunde Training einzuplanen. Trinken konnte ich theoretisch dann noch den ganzen Tag. Ohne Sport hätte ich mehr trinken müssen. Denn Sport wie Alkohol binden Energien und stellen ruhig. Sport macht das allerdings auf eine angenehmere Weise. Alkohol hinterlässt nur Kater, aber Sport hinterlässt Fitness und dass Gefühl Berge versetzt zuhaben.

      Immerhin fand ich heraus, dass es doch noch andere Alkoholiker gab, die ihr Trinkverhalten mit Sport kombinieren konnten. Das prominenteste Beispiel ist der Keyboarder und Texter Martin Gore von der britischen Electro-Band Depeche Mode. In mehreren Interviews hat er betont, dass er während seiner Trinkphase regelmäßig joggen ging.

      Ich war auch glücklich, dass ich soviel Büroarbeit für die Firma erledigen konnte. Das füllte den Tag schon Mal zur Hälfte und gab ihm Sinn. Ich musste erst etwas leisten, um so meine Lebensberechtigung abzuholen. Das ist mir ein fundamentales Prinzip. Wenn ich das nicht tue, dann treibt es mir Schauer über den Rücken. Ohne Tagesleistung werde ich unruhig. Freizeit muss ich mir verdienen. Das ist meine Voraussetzung für Entspannung. Da es ein Bauchgefühl ist, kann ich es nicht einfach umgehen. Nichtstun überfordert mich. Es machte mich nervös und hippelig, so ganz ohne richtige Aufgaben zu sein und das für Wochen. Ich hätte mich so nutzlos, ja geradezu schuldig gefühlt. So hätte ich mich nicht aushalten können. Ich verstand mit einem Male, warum meine Eltern meinen kindlichen Aktivitätsdrang als Symptom für ein Hyperaktivitätssyndrom sahen.

      Ich begann mit 0,2 l Korn, wenn ich den Ofen für die Pizza vorheizte. Eine zweite Dosis von 0,2 l trank ich kurz vor dem Schlafen gehen. Das war meine <Schlaftablette>. Am Ende der sechs Wochen, lag ich bei einer Tagesdosis von 0,5 l Doppelkorn.

      Über meine Rauscherlebnisse lohnt es nicht zu berichten. Es passierte nicht viel. Ich war nie sehr <breit>, denn sonst hätte ich mich nicht ausreichend konzentrieren können, um leichten Tätigkeiten nachzugehen. Selbst Hausarbeit braucht etwas Hirn, wenn man sie gründlich macht, denn natürlich kontrollierte ich am nächsten Tag. Das musste so sein. Ich hatte meinen Tagesplan. Der wurde auch jetzt ganz automatisch umgesetzt. Kontrolle gibt mir Führung und Sicherheit.

      Die Mittelmäßigkeit des Fernsehprogramms wurde immerhin akzeptabel. Das war der größte Erfolg vom Alkohol. Manchmal schienen mir Filme immerhin so interessant zu sein, dass ich sie mir rauschfrei nochmals anschaute. Oft bestätigte sich mein Interesse dann nicht mehr. Im Rausch erlebte ich wenig, was nüchtern betrachtet, immer noch die gleiche Faszination hatte. Alkohol holte mich nur runter. Es machte mich genügsam. Alkohol schlug die Zeit tot, die ich anders nicht zu nutzen wusste. Das machte Alkohol aber sehr gut. Schon in meiner ersten Trinkphase habe ich im Rausch nie bedauert, etwas anderes zu verpassen. Das Bedauern kommt immer erst im Nachhinein.

      Alkohol macht lustig, aber es hat nicht das mitreißende Potenzial von Sport. Beim Denken regt Alkohol am Anfang ein wenig die Fantasie an und fordert auf, neue Fragen zustellen. Dann aber verengt es den Blick und man kann sich nicht in Details vertiefen. Es bleibt oberflächlich. Alkohol läßt keine Antworten finden oder gar Taten folgen. Trägheit und Müdigkeit folgen schnell, wo Sport mich fließen lässt. Man schafft letztlich nichts mit Alkohol. Aber genau das war in dieser Phase gefordert. Auf Dauer bleibt Alkohol unbefriedigend, weil Alkohol Stillstand bedeutet. Unter Alkohol bin ich mit dem Mittelmaß zufrieden. Langeweile und Bedeutungslosigkeit sind dann in Ordnung.

      Endlich kam der wochenlang ersehnte Tag. Es war eine Erlösung gipsfrei zu sein. Aber auch ohne Gips war die alte Beweglichkeit nicht gleich wieder da. Ohne Krücken ging es noch nicht. Die Beinmuskulatur war zu sehr erschlafft. Da die Muskulatur den Knochen stützt und schützt, nahm ich die Warnungen des Arztes ernst. Noch zwei Tage benutzte ich zu Hause mein Skateboard.

      Am zweiten gipsfreien Tag fuhr ich zum Schwimmbad. Es war herrlich den ganzen Körper zu bewegen. Ich fühlte mich frei. Das ganze Becken hatte ich für mich, es war auch erst sechs Uhr morgens. Nur zwei Bahnen waren für eine Schule abgetrennt, deren Schüler ich nie sah. Schwimmen schien mir die perfekte Reha-Maßnahme zu sein. Die Hauptbelastung beim Kraulen liegt bei den Armen. Die Beine konnte ich dosiert zur Unterstützung heranziehen.

      Genauso befreiend war mein Arbeitsantritt. Ich musste mich etwas bremsen, um die Kollegen mit meiner Dynamik nicht zu nerven. Die hatten mich nicht vermisst. Ein Kollege hatte wegen des Betriebsübergangs, der unserer Abteilung bevorstand, bereits den Job gewechselt. Es gab nicht mehr viel zu tun. All die Analysen, die ich in sechs Wochen angefertigt hatte, blieben ohne Bedeutung. Auf keiner Besprechung konnte ich meine Charts präsentieren. Nur mein Kongress-Projekt hatte weiterhin Priorität, aber das stand weitgehend schon. Eine gewisse Lethargie in der Belegschaft übernahm ich. Deswegen änderte sich meine Tagesplanung ein wenig. Ich fing nun erst nach Feierabend an zu trinken an und ersetzte das Frühstück durch Nordic Walking. Mein neuer Tagesrhythmus wurde bestimmt durch die ungewöhnlichen, manchmal surrealen Arbeitsbedingungen zum Ende meiner langen Firmenzugehörigkeit.

      Ich fühlte mich, als hätte ich meinen Arbeitsbereich ganz verloren und würde nur noch Arbeit vortäuschen. Ich fand meine Arbeit immer weniger nützlich. In der Folge fand ich mich selbst dann auch etwas nutzlos. Nach etwa einer Woche wurde mir erst bewusst, dass ich meine Trinkgewohnheiten nicht einfach so weiterlaufen lassen durfte. Meine Tagesdosis lag jetzt am Wochenende bei 0,6 l Doppelkorn. Morgens schlief ich länger. Frühsport gab es nicht mehr. Es war mir plötzlich zu mühsam geworden. Auch nach einem Rausch blieb eine gewisse Trägheit zurück, kombiniert mit einer allgemeinen Lustlosigkeit. Es brauchte neuerdings meine bewusste Entscheidung für eine Aktion. Mich drängte es nicht mehr aus dem Bauch heraus zu bestimmten Unternehmungen. Meist ging ich nur am Wochenende eine Runde joggen.

      Ich beschloss, mein Verhalten zu überdenken und schon mal die Trinkmenge etwas zurückzufahren. Darüber nachgedacht habe ich beim Nordic Walking, weil