Helge Hanerth

Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers


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Hilfsorganisation für politische Gefangene, nicht akzeptieren. Dafür war ich auch durch meine aktivistischen Tätigkeiten als Schüler und Student zu stark geprägt worden, die mich bis zum Erntehelfer nach Nicaragua getrieben hatten. Solche metaphysischen, den Lebenssinn bestimmenden Rechts- und Wahrheitsbedürfnisse verhindern jeden zügellosen Trinkdruck. Das gilt besonders, wenn die Bedürfnisse eine existenzialistisch, extremistische Gewichtung finden. Deswegen lässt sich die Verletzung solcher Lebensgrundsätze auch nicht mit Gewalt oder exzessivem Trinken lösen. Trinken ändert nichts, nicht einmal das Bewusstsein um Wahrheit. Nur Handeln kann entschärfen und das braucht Handlungshoheit, die es mit Alkohol nicht gibt.

      Ich hatte also eine Menge Gründe mich den Gutachten zu widersetzen. Trotzdem erlaubte erst die Kombination aus Gründen und einem beweisführenden Projekt das Trinken in einem Rahmen. Ein klassischer Rückfall musste ausgeschlossen sein. Bevor die Studienidee konkret wurde, musste ich weitere grundlegende Gedanken wälzen. Durfte ich glauben, dass bei mir alles anders war? Wollte ich nicht sehen, was für Psychologen offenkundig war? Was unterschied mich vom statistischen Mittel? Was war bei mir anders gelaufen? ich wollte es herausfinden und durchleuchtete mein Leben zwei Tage lang jedes Mal vor Trinkbeginn. So lange mussten die Flaschen vom letzten Einkauf unberührt bleiben. Mir war das wichtig! Es ging immerhin um mein Selbstverständnis, das mir abgesprochen worden war. Die Vergewaltigung der Wahrheit durch Experten war mit ihrem Fachwissen untermauert worden. Trotzdem entschied keine wissenschaftlich, korrekte Rationale ihr Urteil, sondern die gefühlte Erfahrung. In meiner Ohnmacht gegen gutachterliche Gefühle sah ich mich allmählich berechtigt zu allen möglichen Vergehen, um das Verbrechen an mir zu kompensieren. Auf meinem Rücken wurde ein Exempel der Plausibilität und nicht des Wissens statuiert. Ihr Pochen auf ihre Autorität war ein Zeichen einer Arroganz zu einer Macht, die glaubt, es nicht nötig zu haben genauer hinzuschauen.

      Ich bin wie jeder Mensch ein Kind der Umwelt, in die ich hineingeboren wurde. Im Laufe meiner Entwicklung habe ich versucht zu lernen mit den Gegebenheiten umzugehen, die mich umgeben. Die Erfahrungen, die mir gefielen, übernahm ich. Andere Erfahrungen, die mir nicht gefielen, versuchte ich in meinem Sinne zu beeinflussen. Die notwendigen Techniken habe ich lange erprobt. Dazu hatte ich viel Zeit, denn wir Menschen haben unter den Lebewesen die längste Entwicklungszeit. Da das menschliche Hirn über Areale wie den Neocortex verfügt, die die Erfahrungen der Entwicklungszeit verarbeiten, kann auch ich davon ausgehen, dass meine Erfahrungen mich geprägt haben. Von besonderer Bedeutung sind hierbei die präpubertäre Phase als Kleinkind und Kind, die Pubertät als Jugendlicher und die finale Adoleszenz als juristisch bereits junger Erwachsener. Alle diese Phasen waren bei mir von Leistungssport und Musikunterricht geprägt. Meine Sozialisation blieb als Einzelgänger eher bescheiden. Fast jeden Wochentag und viele Wochenenden gab es ein Programm aus Training oder Wettkampf und Musikunterricht oder Konzert. Dabei haben sich Eigenschaften ausgebildet, die durch Prägung noch heute mein Leben bestimmen.

      Das ist normal. Eigentlich ist das von der Evolution auch so vorgesehen. Die Fähigkeit Umwelteinflüsse aufzunehmen und in das eigene Verhaltensrepertoire zu integrieren, ist der Schlüssel, um sich auf eine sich wandelnde Welt einzustellen. Das ist der Grund, warum der Mensch so erfolgreich war, alle Habitate auf diesem Planeten zu besetzen. Deswegen findet der Mensch immer wieder neue Rezepte für neue Herausforderungen. Deswegen benutzen wir heute Energiesparlampen statt Glühbirnen. Deswegen werden unsere Autos in hundert Jahren nicht mehr mit fossilen Brennstoffen angetrieben werden. Es ist diese Anpassungsfähigkeit, die Menschen so erfolgreich macht.

      Beim Sport entwickelte ich Ehrgeiz. Ich musste lernen mich zu quälen. Nur mit Fleiß, Ausdauer, Leidensfähigkeit, Hartnäckigkeit, Sturheit und anderen Eigenschaften, die alle zu entwickeln waren, kam ich mit meinem Training bis zu den Deutschen Meisterschaften. Durchhalten viel mir zunehmend leichter, je mehr Erfolg ich hatte. Der Erfolg war eine höchst befriedigende Belohnung für meinen manchmal bedingungslosen Einsatz. Der Genuss des Erfolgs war so intensiv, das selbst die Aussicht auf einen Erfolg euphorisierte. So wurde auch die Quälerei selbst zum Genuss und der Weg zum Ziel. Ich liebte die Spannung auf dem Weg zu einem Ziel. Die Ungewissheit ein Ziel wirklich zu erreichen, trieb mich an, immer neue Pläne zu entwerfen. Ich wollte Sicherheit. Bereits mein Aktionismus gab mir einen süßen Vorgeschmack auf die Bedeutung, die da durch mein engagiertes Handeln entstehen konnte.

      Bestärkt nie aufzugeben, wurde ich auch von dem Vorbild eines Ruderers aus einem Nachbarort, den ich ein bisschen persönlich kannte. Er hatte olympisches Bronze gewonnen. Als Kind war ich extra nur zum Empfang des erfolgreichen Olympioniken durch den Bürgermeister gefahren, um von meiner Medaille zu träumen. Ich hatte die gleichen Rahmenbedingungen. Wieso sollte ich nicht das gleiche Ziel erreichen? Es lag nur an mir, diese Chance anzunehmen. Ein Jahr später entschied ich mit meinen Eltern, das Rudern durch Schwimmtraining zu ersetzen. Das schien uns die bessere Strategie zu sein, weil es mir besser lag. Ich fand einfach nicht die Harmonie in einem Team, wollte immer einen schnelleren Rhythmus als der Schlagmann vorgab und hatte doch die schlechteste Technik.

      Gerade die durch den Sport entwickelten Eigenschaften machen mich so glücklich, weil ich ohne sie an mancher Herausforderung im Studium und im Beruf gescheitert wäre. Ich habe in meinem Leben soviel erlebt, weil ich mich getraut habe an den Erfolg zu glauben, wo andere nur Bedenken sahen. Dafür war ich bereit zu kämpfen und zu leiden. Der Sport hat mich gelehrt, dass alles geht, wofür ich mich <reinhänge>. Und wenn etwas nicht ging, dann konnte ich nicht enttäuscht sein. Ich hatte mir nichts vorzuwerfen. Ich hatte alles gegeben. So bin ich bis heute immer schnell motiviert, ein neues Ziel noch kompromissloser anzugehen.

      Meine Idole als Jugendlicher waren Polarforscher. Sie hatten Visionen und den unbedingten Willen sie zu erreichen. Das Alfred Wegener (Vgl. Rohrbach, Klaus: „Abenteuer in Schnee und Eis – Alfred Wegener“, Freies Geistesleben 2008) bei einer Expedition auf Grönland ums Leben kam, habe ich als Kind nicht mit Bedauern aufgenommen. Ich habe nur gedacht: ‚Was für ein heldenhaftes Ende, in Ausübung einer bahnbrechenden Aufgabe zur Klimaforschung, zu sterben‘. Das war ein bisschen wie mit den Cowboys, die in ihren Stiefeln starben.

      Am meisten beeindruckte mich Ernest Shackleton (Vgl. Shackleton, Ernest: „Mit der Endurance ins ewige Eis: Meine Antarktisexpedition von 1914-17“, Piper Verlag 2006)

      Er hatte bei seinen Expeditionen in die Antarktis sehr viel Pech. Aber er gab nie auf. Als sein Schiff im Packeis zerbarst, überwinterte er auf einer Eisscholle, um danach mit Beibooten seines Expeditionsschiffes zur Elephanteninsel aufzubrechen. Von dort ging es mit wenigen Leuten weiter durch stürmische See zum 1.500 km entfernten Südgeorgien. Dann überquerte er mit seinen Seeleuten und einem einzigen Seil das Hochgebirge der Insel, um zur rettenden Walfangstation auf die Nordseite zu gelangen. Erst dann konnte die restliche Mannschaft von der Elephanteninsel gerettet werden. Seine Entbehrungen retteten der kompletten Mannschaft das Leben.

      An solche Männer musste ich bei meinem kleinen Abenteuer denken, als ich nach meinem Studium in den Chilenischen Anden Bergwanderungen auf über 6.000 m machte. Dieses Abenteuer strickte ganz selbstverständlich auf etwas andere Weise meinen Kindheitstraum von Polarforschern weiter. Mir ist es ein Beispiel für pubertäre Prägung. Eines hatte sich dabei wieder bestätigt. Entbehrungen machen Spaß.

      Im Musikunterricht habe ich vor allem gelernt, mich auch in Stresssituationen wie z.B. Konzerten zu entspannen und konzentriert zu bleiben. So konnte ich bei einem Jazz-Solo noch die Muße finden, was Neues zu probieren. Mein musikalisches Talent war eher bescheiden. Große Erfolge gab es nicht. Also entdeckte ich andere Ziele. Allein das Fühlen der Musik, das eben anders ist, wenn man nicht nur passiv hört, ist so intensiv. Mir reichte das Musikmachen um der Musik willen. Öffentliche Erfolge überließ ich lieber den anderen. Man kann sich auch am Erfolg der Freunde freuen. So rang ich schon bald nicht mehr nach Preisen, sondern nach dem Applaus unserer Band auf Feten, Hochzeiten und Pfingstlagern. Meine Nebenrolle am Bass war meine Idealbesetzung. Als Basstyp durfte man auch gehemmt und wortkarg sein. Die Harmonien der Musik füllten die Harmonie in mir und mit den anderen Musikern. Dieses Fließen in der Musik war ganz anders als meine Sporterfahrungen, aber genauso schön. Das war der perfekte Kontrast.

      Intensiveres Erleben als durch Sport und Musik kenne ich nicht. Beide toppen jeden Alkoholrausch und jeden Orgasmus. Die Erinnerung an einzelne Erlebnisse sind noch Jahrzehnte später