Helge Hanerth

Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers


Скачать книгу

primäres Studienziel legte ich die Abstinenz nach sieben Monaten fest. Stichtag war der Monatsultimo. Danach waren einen Monat lang auch geringe Mengen Alkohol nicht erlaubt. Totale Abstinenz in diesem Beobachtungszeitraum war Pflicht. Deswegen betrug die Gesamtdauer der Studie auch acht Monate. Sie bestand aus sieben Monaten Trinkphase und einem Monat Abstinenzphase. So blieb auch, wenn man die etwa fünfwöchige Trinkzeit der Gipsphase hinzurechnete, eine kürzere Trinkperiode als während der ersten Trinkphase.

       Das zweite primäre Studienziel war Verkehrsfreiheit in der Trinkphase. Es war in dieser Phase absolut verboten ein Fahrzeug unter allen Umständen zu führen, sobald der erste Tropfen getrunken war.

      Weiterhin gab es sekundäre Ziele. Diese Ziele dienten dazu, die Zielerreichung der primären Ziele sicherzustellen. Die Studie sollte helfen, meine Kontrolle weiter zuverstärken. Die Evaluation sollte Schwachstellen erkennen lassen.

      Wichtigstes sekundäres Ziel waren die erlaubten Trinkmengen. Die maximale Tagesdosis, die nicht überschritten werden durfte waren 0,7 l Doppelkorn. Die Menge hatte ich noch nie zuvor erreicht. Ich entschied mich so, weil ich mich auch etwas herausfordern wollte, den Geltungsbereich meiner Widerstandskräfte auszuloten. Außerdem orientierte sich die 0,7 l Marke an ein Erlebnis aus meiner Kindheit.

      Damals prahlte ein Straßenarbeiter, der vor unserer Haustür ein Telefonkabel verlegte damit, dass er beim Feiern alleine eine ganze Flasche Doppelkorn trinken konnte. Das schien mir schon als Kind eine viel zu große Menge zu sein. Nicht Mal auf Schützenfesten hatte ich gesehen, dass jemand so viel trank. Diese Schwelle wollte ich im Trinkprojekt auf keinen Fall erreichen, aber man hielt mich ja für zu blöd. Ich wollte es ihnen schon zeigen. Mein Unbehagen über diese riesige Menge führte zu zwei Einschränkungen.

      Erstens, es durfte nicht eine ganze Flasche 0,7 l ausgetrunken werden. Ein Schluck musste symbolisch zurückbleiben. Wie groß der war, sollte ein Eichstrich markieren, der nüchtern anzubringen war. So konnte ich faktisch nicht Gleichziehen mit dem Arbeiter aus meinem Kindheitserlebnis. Der Rest musste verworfen werden, also ausgegossen in die Spüle oder Toilette, bevor die letzte Dosis getrunken wurde.

      Zweitens musste nach Erreichen der Maximaldosis nach maximal zwei Wochen die Tagesdosis reduziert werden auf höchstens 0,6 l. Im vorletzten Studienmonat war die Trinkmenge in Stufen auf Null zum Monatsultimo zu reduzieren.

      Der erste Alkoholkontakt eines Studientages durfte erst nach der Arbeit stattfinden. Das schloss auch offizielles Sekttrinken auf einem Empfang aus. An dieser Stelle fragte ich mich, ob das wirklich mit aufzuführen war. Trinken vor oder während der Arbeit war mir unmöglich. Ich brauchte doch das Tageswerk, um mir die emotionale Berechtigung zum Trinken abholen zu können. Und auf Empfängen bevorzugte ich ganz klar O-Saft. Aber dann fiel mir ein; Studien werden nicht nur gemacht, um neues Wissen zu finden, sondern vor allem auch in der Industrie, inklusive meiner Branche, um offizielle Bestätigung zu finden für sichere Annahmen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zutrafen. So schützte man sich auch gegen Vorwürfe der Einseitigkeit aus marktwirtschaftlichen Gründen. Und wollte ich nicht auch Bestätigung finden für Dinge, um die ich wusste und mich gleichzeitig den Vorwürfen als kranker Alkoholiker einseitig zu argumentieren, erwehren?

      Die Tagesdosis war in drei Einzeldosen aufzuteilen. Ich suchte nämlich nie den Vollrausch, sondern eine gewisse Gemütlichkeit in der ich dem Fernsehprogramm noch folgen und die Hausarbeit erledigen konnte. Dabei brauchte ich die letzte Dosis zum sicheren Einschlafen. Nur durch langes Schlafen verschlief ich den Kater, den ich so fürchtete. Wenn ich mich wieder so verhielt wie in der ersten Trinkphase, dann konnte ich mich auch von den Koma-Trinkern unterscheiden.

      Um auch während dieser Trinkphase Autofahren auszuschließen, galten die gleichen Regeln wie in der ersten Trinkphase. Mein Rennrad stellte ich hinter das Auto in die Garage. Es wäre also auch diesmal zu entfernen, bevor ich die Absicht zu einer Alkoholfahrt umsetzen könnte. Außerdem legte ich den Autoschlüssel auf dem kleinen buddhistischen Altar meiner Frau. So sollte es mir schwer fallen vor den Augen Gottes und meiner Frau eine Untat zu begehen. Im Kofferraum meines Autos lag eine zweite Flasche Schnaps, damit ich Trinkdruck als Ursache für eine Besorgungsfahrt mit dem Auto ausschließen konnte.

      Einmalige Regelverstöße blieben sanktionsfrei. Wiederholte Regelverstöße sollten geahndet werden. Drei Regelverstöße zwangen zum Studienabbruch aus ethischen Gründen und zum sofortigen Besuch des Hausarztes für therapeutische Maßnahmen. Drei Regelverstöße, wenn auch nicht in Folge, bewiesen in meinen Augen fortgesetzten Kontrollverlust. Der war aus vielerlei Gründen nicht hinnehmbar.

      Sanktionen bei Regelverstößen. Das kontrollierte Trinkprojekt brauchte Konventionalstrafen für Verstöße. Nur dann macht die Evaluation Sinn. Jede Abweichung von den Trinkmengen, die nicht vor dem Trinken festgelegt wird, sollte geahndet werden. Strafen verstärken die Sensibilisierung für Regelverstöße. Regelverstöße werfe ich mir als persönliches Versagen vor.

      Ein einziger, einmaliger Verstoß sollte toleriert werden. Um Missverständnisse auszuschließen waren die Trinkmengen vor Beginn des Trinkens zu portionieren. Diese Regel gab mir Sicherheit. Mit dieser Regel war ich mutiger das Projekt durchzuziehen. Letztlich besiegelt wurde die Entscheidung durch ein leichtes Hochgefühl, hinter dem sich ein gewisser Stolz versteckte über die Macht in mir, dass auch so locker umzusetzen. Ich sah durch die Regeln und ihre Umsetzung das Vertrauen in meine Glaubwürdigkeit unterstrichen. Auch als Kind habe ich mich in ähnlicher Weise kasteit. Wer konnte nach dem Trinkprojekt noch behaupten, dass ich einer Verharmlosungstendenz oder Unschuldsfantasie erlegen war? Denen konnte man nur noch ein: ‚Dilettanten olé‘, an den Kopf werfen. Die zu erwartenden Projektergebnisse konnte man doch nur mit ideologischer Absicht abtun. Diese Möglichkeit würde trotzdem weiterhin als reale Gefahr bestehen bleiben, weil sich Gutachter weiterhin überwiegend von ihrem Gefühl aus anderen intensiveren Erfahrungen leiten lassen könnten.

      Neues Wissen ist der Feind gewachsener Erfahrung. Neuen Erkenntnissen begegnet man gerne mit Vorbehalten oder Ablehnung. Das ist eine natürliche Intuition. Das musste ich mir gerade wegen meiner großen Überzeugung bewusst machen. Mit Fakten alleine konnte ich schon in vergangenen MPU’s nicht immer überzeugen. Neben meinem Trinkprojekt war es vielleicht noch wichtiger ein Konzept zu entwickeln, das neben der akademischen Ratio die Gefühlslage der Gutachter ansprach, weil dort die Entscheidungshoheit wohnte. Das war auch bei den Veröffentlichungen von Studien auf Fachkongressen und Symposien so, die ich erlebt hatte. Manchmal amüsierten mich die Verrisse der Fachkollegen, wenn sie sachlich völlig am Thema vorbeigingen. Wieso wollten da Fachleute den Fachkollegen plötzlich falsch verstehen? Die Gründe waren immer so unwissenschaftlich, wie man es von Wissenschaftlern eigentlich nicht erwarten sollte. Emotionen waren aber nun mal stärker, wenn sie von Neid bestimmt waren oder man eine Kränkung mit allen Mitteln abzuwehren suchte, weil eine jahrelang demonstrativ vertretene Position mit dem frisch präsentierten Wissen des Kollegen nicht mehr zu halten war.

      Die Strafe für Versagen sollte am Tag auf ein Vergehen erfolgen. Sie musste im nüchternen Zustand vollzogen werden, um das volle Bewusstsein der Tragweite zu garantieren.

      Natürlich zog ich meine Strafrituale durch. Dafür sind sie da. Das ist schlicht eine Frage der Glaubwürdigkeit mir selbst gegenüber. Die muss mit einem Testlauf bewiesen werden. Außerdem entsteht durch Strafe ein allgemeiner Nutzen. Das war letztlich in meinem Interesse. Das entschädigte und tat gut. Und ich war es den Helden vom Klondike schuldig, denen ich schon als Kind nacheifern wollte, um wie sie zu sein. Eine Alternative zur Strafe war nicht erlaubt. Am Klondike in Alaska gab es während des großen Goldrauschs auch keine Alternative. Nicht konsequentes Durchziehen bedeutete dort ein fahrlässiges Versagen, das schnell zum Tod führte. So etwas ist unverzeihlich.

      Büßen ist leicht. Diese Erfahrung brachte ich aus meinen katholischen Jugendgruppen mit, wo wir Spiele spielten bei denen der Verlierer sich geißeln musste. Buße durch Selbstkasteiung war effektiv. Meine Großeltern haben solche Versuche zur Besserung unterstützt. Ihre älteste Tochter, eine Franziskanerin, besaß sogar für besondere Bußtage eine Art Fußfessel aus Stacheldraht.

      Auch beim Sporttraining konnte ich die Effizienz von Leidensfähigkeit bestätigen. Ich hatte den Eindruck, meine Erfolge waren umso größer, je mehr ich mich