sprach dagegen die Trinkphase fortzusetzen? Wieso nicht weiterhin etwas konsequenter Sport treiben und danach trinken, so lange sich im Job nichts tat und meine Familie abwesend war? Ich hatte mich an mein Feierabendsprogramm mit Video und You Tube gewöhnt. Das System war gut eingeführt. Es füllte angenehm die Abende. Wenn ich abends früh zu Bett ging, kam ich immer noch auf zehn Stunden Schlaf. Das war mir wichtig, denn ich war überzeugt, dass mich mein langer tiefer Schlaf vor Kater schützte. Natürlich musste die Aktion spätestens dann auslaufen, wenn meine Frau mit den Kindern zurückkam. Mir schien das ein überschaubarer und deswegen akzeptabler Rahmen zu sein. Ich beschloss also weiterzumachen.
Allerdings beschloss ich auch, einen ganz klaren Rahmen zu schaffen für das tägliche Trinken. Ich wollte mir beweisen, wenn ich weitertrank, dass ich alles im Griff hatte. Ich fühlte mich noch immer verletzt, dass wegen des Vorfalls vor Jahren Staatsanwalt, Richter und Gutachter mir zugetraut hatten, mich betrunken in ein Auto zu setzen. Nie hatte ich das getan. Das war eine Lüge, eine Verleumdung durch eine fachliche Fehlleistung. Dieses Vergehen wog schwer.
Kontrolle ist mir das Wichtigste. Kontrolle hatte meinem hyperaktiven Chaos als Kind Ordnung gegeben. Kontrolle machte erst meine Lebensleistung möglich. Kontrolle ging bei mir in der Pubertät so weit, dass ich dem Craving von Verliebtsein widerstand. Liebe machte mir Angst. Ich mied jede halbwegs attraktive Frau. Manchmal flüchtete ich geradezu. Die Angst vor Kontrollverlust war so groß, dass ich erst mit Ende Zwanzig einen Weg fand in vielen kleinen Schritten das Herz einer Frau zu erreichen, ohne das es mich umhaute. Daneben bewegte mich damals aber auch die ganze Zeit die Frage: ‚Was ist, wenn sich der Hormonsturm legt? Will ich dann immer noch die gleiche Frau?‘ Dahinter steckten ganz klar Bedenken, dass eine hormonelle Bewusstseinstrübung vernünftige Entscheidungen blockiert und damit Kontrollmechanismen aushebelt.
Ich war immer noch beleidigt, dass mir unterstellt worden war, ich würde mein Alkoholproblem verharmlosen. Unfähigkeit meinen Konsum und mein Verhalten unter Alkoholeinfluss zu kontrollieren, war ein weiterer Vorwurf, der sich allein auf statistische Ableitungen bezog ohne konkrete Beweise.
Langjähriger Missbrauch war mir ebenfalls vorgeworfen worden. Das war eine Annahme, die völlig unmöglich war und sich mit meinen Lebensdaten überhaupt nicht abgleichen ließ. So viele Ungereimtheiten, Unterstellungen und Lügen enthielten die Gutachten, dass ich sie nicht als seriöse Grundlage und Maßstab für den Umgang mit Alkohol sehen konnte. Im absoluten Glauben, dass große Leidenschaft für Alkohol und Trinkdruck bestimmend sind, hatten die Gutachter andere Gründe erst gar nicht in Betracht gezogen. Riskierte nicht diese Einseitigkeit ein Versagen ihrer Maßnahmen in anders gelagerten Fällen wie dem meinen? Ich war doch gar nicht ernst genommen worden.
Trotz der rationalen Feststellung blieb die emotionale Verletzung. Die wog besonders schwer, weil die gutachterlichen Feststellungen das Ergebnis einer fachlichen Expertise sein sollten. Mit allgemeinen Annahmen und statistischen Ableitungen hatte man es sich zu einfach gemacht. Die Lebensrealität des Individuums war mit Füßen getreten worden. Selbst die Begründung für eine neue Fahrtauglichkeit war bei den Haaren herbeigezogen. Wenn ich jetzt ganz bewusst alles wiederholte, konnte ich mir nochmal beweisen, dass die Anschuldigungen unbegründet waren und damit die misshandelte Seele therapieren. Auch dieses Mal würde die Trinkdauer unter einem Jahr bleiben. Ich nahm mir vor, dabei unbedingt unter der Dauer der ersten und einzigen bisherigen Trinkphase zu bleiben. Ich wollte ganz sicher sein, das mir das auch gelang.
Ich wollte Beweiskraft auf die Richter und Gutachter so gerne schwörten, ohne sie manchmal zu haben. Deswegen entschied ich mich zu einer Studie. Ich wollte endlich ernstgenommen werden. Ich ertrug es nicht, dass man meine Einwände pauschal als krankhaften Widerstand ausgelegt hatte und grundsätzlich nicht zur Prüfung bereit war. An meiner Ohnmacht gegenüber dem Absolutismus der Gutachter, speziell der zweiten MPU, hatte ich immer noch zu schlucken. Seine Missachtung meiner Realität zu Gunsten seiner scheinbar so abgeklärten Erfahrung, hatte ich noch nicht verwunden. Die Schwere seines Vergehens sah ich darin, dass er wissenschaftlich nicht korrekt gearbeitet hatte. Relative Wahrheiten benutzte er wie deduktive Beweise. Er hatte seine Erfahrung zum empirischen Beweis erhoben. Scheinkorrelationen produzierte er wo er sie brauchte. Gutachter suchen nicht nach Wahrheit. Sie gehen mit einem vorbereiteten Eindruck in eine Begutachtung. Der Klient, der die Expertise bestätigt, gilt als offen, therapietauglich und schuldbewusst. Er bekommt eine Chance auf den Führerschein. Wer kritische Fragen stellt, oder gar die Qualität wissenschaftlicher Studien zu prognostizistischen Untersuchungen wie der MPU anspricht, motiviert leider nicht den Gutachter an dessen wissenschaftlicher Ehre gepackt, zu einer gründlichen Exploration. Kritik wurde immer als Angriff oder Verweigerungstaktik abgetan. Die Reaktionen waren immer emotional. Sachlicher Diskurs war, ich vermute um der Autorität willen, ausgeschlossen.
Alle Studien über prognostizistische Untersuchungen belegen deren geringe Qualität. Wenn man die Zukunft nicht in allen Details kennt, kann man keine sichere Prognose geben. Das klingt auch ohne Untersuchung schon logisch. Wenn dann auch der Ist-Zustand nur teilweise abgefragt wird und die erhobenen Daten intuitiv interpretiert werden, sind je nach Erfahrung des Spezialisten unterschiedliche Ergebnisse möglich. Weiterhin wurden wesentliche Lebensfakten ignoriert, wenn sie nicht in ein statistisch geläufiges Bild passten. Viele von mir angesprochene Fakten wurden nicht mal ins Protokoll aufgenommen. Die Blicke, die solches Verhalten begleiteten hatte ich noch nicht vergessen. Das musste zu einem unbefriedigenden Ergebnis führen. Von diesen Fehlern will niemand, dem ich berichte, etwas wissen, denn es ist ein amtliches Gutachten. Man will einfach glauben, dass die ihren Job ordentlich machen. Das gehört doch so zu einer verantwortlichen Aufgabe. Auch ist eine Leistung schwer anfechtbar, wenn der Entscheidungsprozess mit den Lücken im Protokoll sich nicht exakt rekapitulieren lässt. Mein Fehler war, dass ich nicht weiter intervenierte, weil ich Bedenken hatte, das alles noch schlimmer kommt, wenn ich weiter auf Fakten poche. Die Exploration war schon längst auf eine emotionale Bahn gekommen. Oder war mein Fehler, dass ich überhaupt widersprochen hatte? So genau weiß ich es nicht. Intuitionen sind mein Metier nicht. Geholfen hatte der Gutachter meines Vertrauens jedenfalls nicht - nicht mal zum Sachverständnis. Dieses Versagen hatte ich als empirisch arbeitender Wissenschaftler noch nicht verwunden.
Beruhigend wirkte da immerhin die Lektüre einschlägiger Literatur. Danach hatten bereits viele Wissenschaftler die Qualität prognostischer Untersuchungen beurteilt. Allein Prof. Ph. Tetlock (Vgl. Tetlock, Philip: “How Accurate Are Your Pet Pundits?“, Project Syndicate/ Institute for Human Sciences 2006) von der Berkeley University hat über 80.000 Prognosen untersucht. Die Ergebnisse zeigten, dass Prognosen in der Regel nicht signifikant vom statistischen Durchschnitt abwichen. Die meisten Untersuchungen betreffen Aussagen zu politischen Entwicklungen und Wirtschaftsaussichten. Die Datengrundlage ist einfacher zu bearbeiten. Psychologische Prognosen haben eine weitaus diffusere Datenlage, die erheblich schwerer akkurat zu messen ist. Die logische Konsequenz müsste sein, dass die Ergebnisse psychologischer Prognosen mit intuitivem Bemessungsspielraum noch schlechter abschneiden. Wenn ich bedenke, was bei meinen Explorationen nicht gefragt wurde, oder weggelassen wurde, oder mit einer einzigen nonverbalen Geste abgetan wurde, dann habe ich den Eindruck, das ein wissenschaftliches Ergebnis zu Gunsten gefühlter Erfahrung, das den Untersuchungsrahmen eingrenzte, verhindert wurde. Die Gutachter unterstrichen immer wieder, dass sie zu frieden waren mit einem Ergebnis im Rahmen ihrer abgesteckten Erwartungen. Darauf wurde auslegend hingewirkt. Grundlage waren ihre persönlichen, unevaluierten Erfahrungen. Ein Gutachter hatte auf meine Frage sogar eine Regressionsanalyse seiner Erfahrung als ungenügend abgelehnt, weil sie die Difizilität seiner geistigen Gabe ignoriere. Wie kommt man ohne gemeinsamen Nenner zu einem Ergebnis, das man gemeinsam tragen kann?
Trotz eines bestimmenden Gutachtens mit juristischer Konsequenz, gab es bei mir weiter erhebliche Zweifel, die auch noch von Sachverständigen geschaffen worden waren, in dem sie sich weigerten mir ihr Ergebnisse offenzulegen. Ich kann annehmen was ich verstehe. Diese Chance wurde vertan.
So erfand ich das Trinkprojekt. Es sollte mir helfen mit der nicht weichen wollenden Betroffenheit umzugehen. Schließlich hatte man mit dem Urteil einem Kontrollfreak sein heiliges Pflichtbedürfnis abgesprochen. Was für einen Magersüchtigen der Hunger ist, ist mir doch in ähnlicher Weise der Vollzug von Kontrollmaßnahmen.
Daneben gab es politische Bedenken. Was für eine