Konstantin Müller

JAMES HARRISON


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Küche. Sein strahlend blauen Augen spiegelten Tiefgründigkeit, Intelligenz und Erfahrung wider. Bevor er etwas sagte, nahm er einen Schluck Kaffee.

      »Herzlichen Glückwunsch, du hast’s erreicht.«

      »Mach mich nicht noch aufgeregter«, lachte ich, »ich bin so dermaßen nervös.«

      »Glaubst du, ich war das nicht? Ich wünschte nur, ich könnte ihn noch einmal erleben, meinen Tag. Und ist die Aufgeregtheit nicht ein Geschenk, ohne das wir uns gar nicht freuen könnten? Hat man es nämlich erst einmal geschafft, hat man die Nervosität endlich überwunden, ist die Freude umso größer.« Da hatte er wohl Recht. Wir begannen zu frühstücken, doch ich bekam kaum einen Bissen hinunter.

      »Wann fahren wir?«, fragte ich erneut.

      »Bald. Phillip will in einer halben Stunden hier sein«, sagte John mit einem Blick auf seine Uhr. »Dennoch schadet es nie, früher startklar zu sein.« Ich nickte, stand auf und ging in mein Zimmer. Dort wählte ich die Nummer von William Parker. Es tutete einige Male.

      »Hi James, alles Gute!«, begrüßte er mich. Er war einer meiner engsten Freunde, ein halbes Jahr älter als ich und der einzige Sohn des Ehepaars Parker.

      »Besten Morgen«, sagte ich.

      »Den musst du ja wohl haben«, entgegnete er.

      »Das weißt du doch und deswegen ruf' ich dich an. Weißt du noch, wie lange du damals gebraucht hast? Vielleicht könnten wir uns heute Abend noch treffen?« William hatte vor drei Monaten seinen Tag erlebt, seine Auswahl.

      »Du, ich glaub', das wird nichts. Ihr braucht bis dorthin schon eine Weile und danach bist du so erschöpft, dann möchtest du nichts mehr machen.«

      »Wenn das so ist…«

      »Ja, ich wünsche dir dennoch für heute viel Spaß, ich muss jetzt Schluss machen, ich werde schon wieder gerufen…«, und er legte auf. Auf jeden Fall, ich würde heute viel Spaß haben, heute bei meiner Auswahl.

      Gedankenverloren warf ich mein Handy auf das Bett und schaute aus dem Fenster, meinen Kopf auf die Arme gestützt. Von hier aus hatte man einen fantastischen Blick auf die höchsten Berge der Umgebung. Kleine Schneekuppen bedeckten wie wollige Pelzmützen die Gipfel und darunter, in einer nun dunkelgrünen Tönung, lag der dichte Nadelwald, gespickt mit schroffen Felsblöcken, die über die Jahrhunderte hinweg von Moos befallen worden waren. Man konnte das kleine Dörfchen Reming von hier aus sehen. Ein altmodischer Kirchturm markierte den mittelalterlichen Marktplatz, um den sich kleine Lädchen tummelten.

      »James, bist du fertig?« kam plötzlich die Stimme meines Vaters aus dem unteren Stockwerk. Ich stürmte die Wendeltreppe hinunter, vorbei an der Küche und durch die Haustür hinaus.

      Meine Eltern standen vor unserem Wagen, Phillip hatte bereits den Motor laufen. Phillip war sozusagen die alles tragende Stütze der Familie. John hatte ihn vor Jahren zum Dienste unserer Familie angeworben. Mein Vater hatte damals lange auf die richtige Person warten müssen, denn viele Bewerber hatten sein erwartetes Niveau nicht erreichen können, bis Phillip kam. Wir hatten ihm viele Dinge erklären müssen, und die durfte er nicht ausplaudern. Das war einer der wichtigsten Voraussetzungen gewesen: Man musste Geheimnisse für sich behalten können.

      »Ich bin schon da«, keuchte ich und schwang mich auf die Rückbank neben Mina. Johns Geschäftswagen war im Inneren mit Leder und polierten Hölzern veredelt. Die getönten Scheiben allerdings hatte ich noch nie ausstehen können. Dann ging es los. Endlich.

      Phillip fuhr uns die von Bäumen gesäumte Auffahrt hinunter und bog auf eine Landstraße ab. Sie war überfüllt mit wanderlustigen Urlaubern.

      Kurz darauf nahmen wir einen schmalen Waldweg, der uns schließlich bis vor eine weitläufige Wiese führte. Ein angemieteter Helikopter stand abflugbereit auf einem gemähten Stück der hüfthoch wachsenden Wiese. Wir stellten den Wagen am Straßenrand ab und bahnten uns einen Weg durch die bunten Gräser und die sich dem Herbst strotzenden Blumen. Der Wind auf dieser flachen Ebene stach uns messerscharf ins Gesicht und trotz der Jacke fröstelte ich. Während sich Phillip seinem Kontrollgang um den Helikopter annahm, setzten sich meine Eltern und ich in die gläserne Kabine. Gespannt schaute ich unserem Piloten zu, wie er die Checkliste durchging und die Rotorblätter zum Laufen brachte. Mina lächelte mir beruhigend zu. Jetzt, da wir uns unserem Ziel unaufhaltbar näherten, begannen meine Nerven wild zu flattern. Die Freude wich mehr und mehr ängstlicher Aufregung, doch ich versuchte an Johns Satz festzuhalten.

      Ohne die Aufregung ist das Glück nicht halb so groß.

      Wir entfernten uns schnell vom Boden. Ich schaute zu, wie der Wagen immer kleiner und kleiner wurde, bis er nur noch ein kleiner weißer Fleck in der Landschaft war. Eine innere Stimme sagte mir mit einem gewissen Stolz: James, wenn du wieder hier ankommst, bist du wie neu geboren. Heute Abend wirst du dein Leben vor dir haben, du wirst deine Zukunft vor dir sehen können. Dann hast du das Wichtigste, das du im Leben bekommen kannst. Dann hast du eine Identität, eine Aufgabe. Du wirst eine Zukunft bekommen, ein Icerotes.

      ***

      Wir wechselten nicht viele Worte, während wir immer weiter Richtung Süden flogen. John hatte einen Arm um seine Frau und den Kopf in den Nacken gelegt. Mina dagegen hatte sich nach vorn gebeugt und starrte mit einem verträumten Blick den vorbei gleitenden Wolken nach. Phillip pfiff leise ein mir unbekanntes Lied vor sich hin und ich, ich dachte über mich und meine Zukunft nach. Was würde wohl auf mich zukommen? Jetzt konnte ich noch so viele Wege vor mir sehen. Doch ich durfte keinen einschlagen - noch nicht. Hier, an der Abzweigung meines Lebenswegs, musste ich geduldig warten, warten auf den heutigen Tag, auf meine Auswahl. Denn sie würde für mich den richtigen Weg wählen. Mein Schicksal lag in diesem Tag. Es ging nicht um etwas Umtauschbares, Käufliches. Es ging um alles, die Familie, die Freunde, die Ausbildung, die Gedanken – es ging um mein Leben!

      ***

      Wir hatten schon die Grenze zu Italien überquert und es musste nicht mehr lange dauern, bis sich das offene Meer an der Westküste auftat, als John sagte: »Wie fühlst du dich?« Es war offensichtlich, wer gemeint war, doch ich wartete kurz, bis ich antwortete.

      »Einerseits wie das glücklichste Wesen auf der Erde und andererseits wie ein zum Tode Verurteilter.« John grinste.

      »Ja, so habe auch ich mich gefühlt. Als wäre es der Anfang und das Ende meines Lebens. Allerdings, es ist doch das Ende des Alten und somit der Anfang des Neuen.« Ich verzog mein Gesicht.

      »Seit wann bist du so philosophisch?« fragte ich und zog eine Augenbraue hoch.

      »Meinst du? Ich glaube, ich werde alt.« Ich musste lachen.

      »Das wird langsam Zeit«, witzelte Mina und küsste ihren Mann.

      »Wir sind gleich da«, gab uns Phillip über die Schulter blickend bekannt. Unter uns lag nun eine glitzernde Wasserfläche, auf der sich das Sonnenlicht spiegelte. Vor uns ragte eine kleine Insel aus dem Meer. Sie war wirklich sehr klein, zum Großteil mit dichtem Wald bewachsen und fast unbebaut. Lediglich eine Holzhütte oberhalb der Küste, an der sich die flachen Wellen brachen, zeugte von menschlichem Leben auf der Insel. Dort, auf dieser unbedeutenden Insel gab es sie, die Icerotes.

      Phillip setzte zum Sinkflug an und steuerte auf eine Lichtung zu. Die Rotorblätter fegten das Laub in den Wald. Wir stiegen aus und bahnten uns einen Weg durch das Gestrüpp. Meine Nervosität hatte endgültig ihren Höhepunkt erreicht. Mein Herz raste und das Blut pochte in meinem Kopf, übertönte sogar die Geräusche des Meeres. Langsam wurde der Boden unter unseren Füßen trockener und die Bäume kleiner. Schließlich durchbrach John das letzte Stück Wald und wir fanden uns auf einer Klippe wieder. Keine hundert Meter von uns entfernt stand das kleine Häuschen. Von Nahem konnte ich Details am Gebäude erkennen. Die Eingangstür war mit merkwürdigen Zeichen versehen.

      Eine Glocke läutete, als Mina, John, Phillip und ich eintraten. Auf den ersten Blick hätte man nicht genau sagen können, wofür der Raum benutzt wurde. Da standen abgenutzte Stühle und verkratzte Tische in der Ecke. Auf der anderen Seite ruhte ein zimmerhohes Bücherregal. Den Tisch vor uns sollte man wohl als