Konstantin Müller

JAMES HARRISON


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war zu entdecken.

      Gepolter und ein Stöhnen waren plötzlich aus einem Gang hinter der Theke zu hören und der Inhaber des Ladens kam stolpernd zum Vorschein. Horan – man hatte mir zuvor schon gesagt, wie er hieß - war ein fahlgesichtiger, kleiner Mann und ich musste feststellen, dass er verdammt alt aussah. Seine grauen Augenbrauen waren eng zusammengezogen und die Augen schauten mich weise an. Ich überragte ihn gut einen Kopf und musste meine Ohren spitzen, um seine raspelnde Stimme zu verstehen.

      »Das ist also Ihr Junge, Mr und Mrs Harrison?«

      »Oh ja«, sagte meine Mutter stolz und legte ihre Hand auf meine Schultern. »James heißt er und möchte heute sein Icerotes abholen.«

      »Ja, was sonst sollte Sie auf diese verdammte Insel führen. Wie lange soll das wohl noch weiter gehen?« Horan sagte das zu niemand Bestimmtem. »Kommen Sie James. Dann wollen wir mal nach Ihrer Hoffnung schauen.«

      Ich wollte schon hinter ihm hergehen. Doch mir fiel auf, dass meine Eltern keinerlei Anstalten machten, uns zu folgen. Auf meinen fragenden Blick hin, erklärte Mina: »Es ist dein Geheimnis. Du solltest entscheiden, ob wir von deinem Schicksal erfahren sollen oder nicht. Geh schon.« Argwöhnisch drehte ich mich auf meinen Fußballen zu Horan, der schon auf der Schwelle einer krummen Tür stand.

      Das Zimmer, in das mich Horan führte, war völlig schwarz. Meine Augen konnten nichts mehr erkennen, als die Tür hinter mir in die Angeln fiel. Ich vermutete, dass der Raum, so wie das Verkaufszimmer aus demselben roten Stein gebaut worden war, den es auf der ganzen Insel gab und die Wand schwarz angemalt wurde. Oder waren meine Augen vom hellen Tageslicht so getrübt worden, dass es mir hier, in der plötzlichen Finsternis nur noch dunkler vorkam, als es eigentlich war? Zumindest gab es weder ein Fenster noch einen Spalt, durch den Licht hätte dringen können.

      So blieb ich, blind wie ein Maulwurf, knapp hinter der Tür stehen und lauschte auf eine Anweisung. Doch Horan ließ mich warten und es dauerte nicht lange, bis mir mulmig wurde.

      »Mr. Horan, was ist das hier…? Mr Horan?« Und als immer noch niemand antwortete, packte mich die Nervosität. Ich wollte schon wieder aus diesem Raum heraus, als es plötzlich geschah.

      Ein Übelkeit erregendes Gefühl, ein undefinierbares Brummen in meinem Kopf. Der Raum begann sich zu drehen, immer schneller – was passierte hier? Ich konnte mich nicht wehren, nichts dagegen tun. Ich konnte nicht sagen, ob das wirklich geschah oder sich nur in meinem Kopf abspielte. Lichtblitze zuckten durch den Raum und dann, mit einem letzten Blitz, heller als alle anderen, hörte es auf. Das Brummen, das Rotieren, mein Keuchen. Ein Flackern, und der kreisrunde Raum war in das schwache Licht einer fast gänzlich abgebrannten Kerze getaucht.

      Horan stand vor einer weiteren kleinen Tür gegenüber jener Tür, durch die ich gekommen war.

      »Alles in Ordnung?« Horans Stimme war voller Mitgefühl.

      »Geht… geht schon«, würgte ich und stützte mich gegen die Wand.

      »Tja, die meisten müssen sich bei der Auswahl übergeben«, gestand er. Ich verkniff mir eine Bemerkung und der alte Mann sprach weiter: »Bei der Auswahl, die du gerade durchlitten hast, wurde ein Schwert hergestellt. Es ist dir angepasst. So kennt es deine Gefühle, Sehnsüchte und größten Ängste. Es weiß über dein ganzes Leben Bescheid. Ab diesem Tag, deiner Auswahl, bist du für immer mit Libras verbunden. Libras ist der Name deines Icerotes. Mit der ersten Berührung zwischen dir und Libras wird ein fester magischer Bund geschlossen. Libras wird dir von Tag zu Tag dein Leben lang beistehen. Er wird all sein Können geben, um dich zu beschützen und dir beizustehen. Die Gegenleistung liegt darin, dass du Libras vertraust, nicht vernachlässigst und es nicht – und das kann ich nicht oft genug sagen – wirklich nicht als ein Eigentum, Gegenstand oder als ein nicht denkendes Wesen anerkennst! Es gehört zwar dir, hört immer auf dich, ist aber ein eigenes und viel mächtigeres Wesen, als wir es sind. Die Icerotes sind eine Spezies für sich, übernatürlich, für uns unbegreiflich. Doch sie sind nicht leblos. Bitte berücksichtige dringend meine Worte dein Leben lang, auch wenn sie dir jetzt noch widersprüchlich und eigenartig erscheinen mögen. Das ist mein Rat.«

      Ich schwieg und dachte sprachlos über Horans Worte nach.

      »Äh, könnten Sie vielleicht die Bedingungen wiederholen?«, bat ich ihn. Horan lächelte und ging auf die Mitte des Raumes zu, wo sich ein steinerner Tisch befand. Auf einer Metallhalterung ruhte ein glänzendes Schwert, das am Griff mit weißen Steinen verziert war. Libras hatte einen goldgefassten Schriftzug in die blank polierte bronzene Klinge graviert bekommen. Sie verursachte ein goldenes Schimmern. Es war ein überwältigender Anblick: Mein Icerotes.

      Ohne auf die Erlaubnis zu warten, streckte ich meine Hand aus und umgriff Libras. Bei dieser Berührung ging von meiner Hand ein berauschendes Gefühl aus. Ich konnte spüren, wie sich die Kraft von Libras von der Berührung bis in meinem Kopf in meinem ganzen Körper ausbreitete. Geschmeidig passte sich das Schwert meinem Griff an – wie für mich gemacht.

      Der alte Mann trat einige Meter von mir und dem Steintisch weg. Denn nun begann das Schwert zu leuchten, heller und heller. Eine Art Lichtkuppel bildete sich über mir. Der schwarze Raum war in gleißendes Licht getaucht. Libras Kraft brach in mein neues Leben ein, in meinen Körper, meine Seele, durchdrang das Innerste meiner Gedanken… Und dann war alles zu Ende. Das Licht löste sich auf und hinterließ ein einziges kraftvolles Glücksgefühl. Libras lag ruhig in meiner Hand. Horan fing an zu klatschen und ein Lächeln machte sich auf meinem Gesicht breit.

      »Nun, du kannst gehen, doch achte auf meine Worte.« Unfassbar starrte ich Libras an, mein Icerotes, mein Wegbegleiter.

      ***

      Meine Mutter hatte auf einem gepolsterten Stuhl Platz genommen, John saß auf dessen Lehne und las eine Zeitung und Phillip schaute aus einem der großen Fenster. Von hier aus hatte man einen beachtenswerten Blick auf das Meer. Wenn mich nicht der Schmutz auf dem Glas täuschte, konnte man sogar die Küste Italiens sehen. Sie war per Schiff nur einige Minuten von dort entfernt. John hatte mir erzählt, es ginge ein allgemeines Gerücht umher, dass Li Metro eine Privatinsel irgendeines reichen Amerikaners sei. Doch das war natürlich Quatsch. Allerdings half das Gerücht, unliebsame Besucher von der kleinen Insel fern zu halten.

      Horan kehrte zurück ins Zimmer und Mina schaute auf.

      »Wie war’s?« Ich wollte ihr stolz Libras zeigen, doch sie schaute abrupt weg. Auch John würdigte meinem Icerotes keines Blickes. Nur Phillip zwinkerte ihm kurz zu und begann dann sein Mantelärmel zu richten.

      »Was ist los?«, fragte ich perplex.

      »Hast du schon die Inschrift gelesen?«, fragte meine Mutter spitz, die Augen unverwandt auf den Boden gerichtet. Was war mit ihnen los?

      »Wieso denn?«, fragte ich, »Ich kann diese Runen eh nicht entziffern.« Aber es war nicht Mina, die antwortete.

      »Deine Mutter hat vollkommen Recht, Mr James. Ich selbst kenne Ihre Inschrift nicht. Sie ist nur für Sie bestimmt. Bevor Sie sie nicht kennen, ist es jedem anderem nicht gestattet, Ihre Inschrift zu studieren. Einen Moment bitte, ich habe hier irgendwo ein Runenwörterbuch. Damit können Sie Ihr Schicksal entziffern. Warten Sie bitte…«, und er ging hinter die Ladentheke und kramte in seinen Unterlagen herum. Daraufhin hievte er ein in Leder gebundenes Buch auf die Tischplatte. Es sah verstaubt aus und das bräunliche Leder war gewellt, wie Meerwasser am Strand.

      »Hier, hiermit schaffen Sie es bestimmt. Nehmen Sie sich etwas Zeit. Wer möchte Kaffee, Tee oder Saft? Gebäck sollte auch noch hier irgendwo sein…« Der gebrechliche Mann verschwand hinter der Theke.

      »Ein sehr netter Mann«, sagte John, holte sich einen weiteren Stuhl und forderte Phillip auf, sich zu setzen. Ich selbst ging zur Theke und trug das schwere Buch zu einem der storchbeinigen Tische. Das Leder fühlte sich abgegriffen und rau an. Libras deponierte ich daneben. Dann schlug ich es erwartungsvoll auf.

      Es war von Hand geschrieben. Da gab es Zeichen, die ineinander flossen, große, kleine, manche mit Zacken und wieder andere stilvoll gewellt. Doch die Tinte war an manchen Stellen schon so verblichen, dass ich Mühe hatte, die Übersetzung der jeweiligen Rune zu entziffern.