Konstantin Müller

JAMES HARRISON


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Rubi und der europäische Murexstamm hatten nie den Krieg gesucht. Doch Sutin, der Gründer des Stammes Fosit, hatte den asiatischen Stamm Clatura dazu überredet, die anderen drei Stämme trotz des Vertrags anzugreifen. Man nannte als Grund seinen Machthunger. Dieser Krieg wurde in der Geschichte der Asgardfamilie Asgardkrieg genannt. Er hatte viele Jahre angehalten, hatte sogar Sutins Leben überdauert, bis sich der Murexstamm mit den Nasos und Rubi verbündet hatte. Gemeinsam hatten sie dem Krieg ein Ende setzten können. Ab diesem Zeitpunkt hatte eine unverminderte Feindschaft zwischen den drei den Frieden suchenden Stämmen und Amerika und Asien zu herrschen begonnen. Selbst jetzt noch gab es Streitereien und Konflikte zwischen uns und Nebur, dem derzeitigen Anführer der Fosit. Er konnte uns nicht ausstehen. Meinen Heimatstamm, die Nasos und die Rubi. Doch genauso gut war ihm klar, dass er uns nicht besiegen würde. Dafür war seine Armee zu klein. Und das war gut so. Somit konnte ich bis jetzt in einer Zeit des angespannten Friedens aufwachsen. Doch wie lange würde er noch bestehen? Wann war es so weit, dass der dünne Faden reißen würde, dass eine Seite die Grenzen überschreiten würde? Irgendwann würde der Moment kommen, an dem wir zu kämpfen hätten.

      ***

      Den Vormittag über stöberte ich in den Regalen, die den typischen Geruch von Antiquariaten in sich trugen, bis mich Mom zum Mittagessen rief.

      John war nicht anwesend. Ich nahm Libras aus der Hülle und legte ihn neben meinen Teller. Immer noch überkamen mich Glücksgefühle wenn ich ihn sah. Der einzige, der derzeit in meiner Generation des Murexstammes auch noch ein Icerotes besaß, war William. Er war der Älteste von uns Vieren. Steve dagegen war der Jüngste. Mehr Nachkommen meiner Generation gab es nicht. Nur uns vier. Kein anderer Stamm hatte eine derart geringe Nachwuchsrate.

      Wir alle gingen in dieselbe Schule. Da sich die Mitglieder des Murexstammes im Süden Deutschlands, hier um Reming herum, angesiedelt hatten, hatte man etwas außerhalb des Dorfes eine kleine Schule eingerichtet. Bei den normalen Menschen war sie als Privatschule bekannt und tatsächlich fungierte sie so ähnlich. Es gab gut zehn Schüler. Meine drei Freunde und ich wurden von zwei Lehrern, die der Asgardfamilie angehörten, in jedem Fach unterrichtet. Über die normalen Fächer hinaus gab es noch die Fächer geschichtliche Entwicklung der Asgardfamilie, Icrologie - einer Unterrichtseinheit, die sich mit der Lehre der Icerotes befasste – und Astronomie. Astronomie war in der Asgardfamilie überhaupt sehr angesehen und gefragt. Vielleicht, weil die Wissenschaft der Icerotes so nah mit dieser verwandt war.

      Neben uns gab es noch sechs jüngere Schüler und Schülerinnen. Meistens waren sie Cousins und Cousinen oder entferntere Verwandte. Insgesamt zählte der Murexstamm etwa vierzig Personen als Mitglieder, von denen zwölf noch minderjährig waren. Nun waren Herbstferien und vor mir und meinen Freunden lagen zweieinhalb Wochen Ruhe und Entspannung.

      ***

      Die Finleys wollten um fünf Uhr kommen und ab halb vier wusste ich nicht mehr, was ich zu tun hatte.

      Gelangweilt lag ich in meinem Zimmer auf dem Bett, Libras in den Händen haltend und ihn langsam durch die Luft schwingend. Dabei gab es immer Augenblicke, in denen die abendlichen Sonnenstrahlen von der bronzenen Klinge geschnitten wurden. Dann schimmerte sie golden auf und der eingravierte Schriftzug machte den Eindruck, als würde er von innen heraus glühen.

      Was für ein Wesen waren die Icerotes?

      Wie oft hatten sich Asgardler diese Frage schon gestellt? Wie oft hatten wir diese Frage schon in der Schule behandelt? Ich konnte es nicht sagen. Jedenfalls hatte noch niemand eine Antwort geben können. Es musste der Wille der Icerotes sein, dass wir sie nicht verstehen konnten, dass wir immer noch, nach all den Jahrtausenden interessiert an ihnen waren, sie als lebenswichtig ansahen. Ohne uns würden sie vermutlich nicht mehr auf dem Planet Erde vertreten sein. Woanders bestimmt noch, hier aber nicht mehr.

      Als die Familie Finley bei Abenddämmerung an unserer Haustür läuteten, stürzte ich aus meinem Zimmer, um Steve zu empfangen, doch Mina hatte sie schon geöffnet und mit einem »Ach, meine Liebe«, umarmte sie Simone, Steves Mutter, gab Alfred zwei Küsschen auf die markanten Wangen und führte sie, wie es einmal mit Erwachsenen so war, mit viel Händegefuchtel hinein. Doch Steve war nicht bei seinen Eltern.

      »Wo ist Steve?«, fragte ich sie zur Begrüßung misstrauisch, worauf Mina eine missbilligende Mine aufsetze. Die Finleys schien es nicht zu kümmern.

      Freundlich sagte Simone, während sie ihr Übergewand auf einen dreibeinigen Hocker legte: »Steve meinte, er wolle mit Odin eine Fahrradtour machen und später zu uns stoßen.« Sie schaute auf ihre schwarze Armbanduhr, die sie zu ihrem letzten Geburtstag von meinen Eltern geschenkt bekommen hatte. »Allerdings sollte er jeden Moment hier eintreffen. Zumindest wollte er versuchen rechtzeitig herzukommen.«

      Ich stellte mir Steve vor, wie er auf seinem Rennrad über die umliegenden Wiesen raste, den kleinen schneeweißen Labrador Odin neben sich her tollend. Er liebte das Fahrradfahren.

      Inzwischen hatte sich John zu der Truppe an der Türschwelle gesellt. Seine Haare waren noch feucht. Anscheinend hatte er schnell geduscht und schon wurde er von Simone in die Zange genommen.

      Während die Erwachsenen Richtung Terrasse gingen, trat ich einen Schritt aus der Haustür und schaute mich nach meinem Freund um. Doch sowohl auf der Einfahrt, als auch auf der etwas weiter hinten liegenden Wiese fehlte von Steve jede Spur.

      Unser Tisch auf der Terrasse war von Mina wundervoll gedeckt worden. Orchideen und Tulpen ragten in der Mitte des Tisches auf und die Glasteller spiegelten das Licht der flackernden Kerzen. Ich setzte mich mit dem Rücken zum kleinen Bach, der hinter unserem Anwesen Richtung Reming floss, damit ich die Einfahrt gut im Blick hatte. Mina bestand darauf, mit dem Essen auf Steve zu warten, doch nach über einer halben stevelosen Stunde mussten wir mit der Vorspeise beginnen.

      Ein Stein fiel mir vom Herzen als es an der Haustür klingelte. Ich sprang auf, eilte zum Eingang und hatte schon die Klinke umklammert, als ich plötzlich stutzte. Die ganze Zeit hatte ich die Einfahrt, auf der Steve eigentlich entlang kommen müsste, im Blick gehabt. Doch ich hatte niemanden gesehen.

      Misstrauen packte mich. Ich versuchte meine Stimme möglichst autoritär klingen zu lassen: »Wer ist da?«

      »James, mach'… bitte auf.« Steves gedämpfte Stimme klang flehend und erschöpft. Ich machte die Tür auf und erstarrte.

      Steve stand vor mir, die Leine von Odin in der Hand. Doch sah Steve gar nicht aus wie der Steve Finley, den ich nur zu gut kannte. Mein sonst so gepflegter Freund machte vielmehr den Eindruck eines streunenden Köters. Steves Gesicht war von blutenden Kratzern und Schrammen überzogen. Seine kurzen tiefschwarzen Haare standen in allen Himmelsrichtungen ab, das Shirt war an Armen und Brust zerrissen und er war von oben bis unten mit Schlamm verdreckt. Ich half ihm herein. Seufzend ließ er sich auf den Mantel seiner Mutter fallen.

      »Wasser«, stöhnte er und schloss seine Augen. Ich rannte durch den Flur und ließ in der Küche Wasser in ein Glas laufen. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich es fast nicht halten konnte. Der Schreck steckte immer noch in meinen Gliedern.

      Steve trank es gierig leer. Das eiskalte Wasser rann ihm die Kehle hinab und sein hastiges Atmen beruhigte sich langsam. Seine Augen sahen merkwürdig leer aus und ein Krächzen drang aus seinem Mund: »Du, William… ihr müsst…«

      Doch dann, ganz langsam, wurde Steves Griff um das Glas ruhiger, nicht mehr ganz so verkrampft. Plötzlich glitt es ihm aus der Hand und zerbrach auf den cremefarbenen Fliesen. Daraufhin rutschte Steve mit seinem Kopf von der Wand ab, kippte vorn über und blieb, mit dem Gesicht nach unten, regungslos liegen.

      »Alfred, Simone, kommt her, schnell!« John, vom Klirren des Glases angelockt, stand hinter mir.

      »James, was ist…?« Ein Aufschrei von Simone unterbrach ihn, die durch den Flur auf ihren Sohn zu rannte, der für sie, da er so regungslos da lag, tot zu sein schien. Ich stand wie angewurzelt da, konnte keinen Muskeln mehr rühren. Was war mit Steve?

      »Nur die Ruhe, Simone.«

      John hatte sie festgehalten. Doch sie schlug mit ihren Armen um sich, schluchzte und schrie sich ihr Elend aus dem Leib.

      »Er