Konstantin Müller

JAMES HARRISON


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meine Zukunft offen stehen und ich wusste nicht, welchen ich gehen sollte.

      

      Der Kobruswolf

      Am nächsten Morgen erwartete mich eine weitere Überraschung. Auf dem gedeckten Frühstückstisch wartete ein in gelbes Papier eingewickeltes Päckchen auf mich, als ich verschlafen eintrat.

      »Ist das für mich?«, vergewisserte ich mich, bevor ich es in Augenschein nahm. Mina nickte lächelnd.

      »John wollte eigentlich dabei sein, wenn Du es aufmachst, doch er musste die ganze Nacht über im Büro bleiben. Du brauchst nicht auf ihn zu warten.«

      Unter dem Papier befand sich eine flache Schatulle. Sie war aus dünnem Holz. Darin, gebettet in ein weißes Tuch, lagen einige Streifen rauen Tierleders. Als ich es herausnahm, erkannte ich, was es war: Eine lange, dünne Tasche. Damals, als die Menschen das erste Mal ein Icerotes besessen hatten, war für sie schnell ein Problem entstanden. Wie sollten sie ihre Icerotes immer bei sich tragen ohne dass es den anderen Menschen auffiel? Man hatte schließlich diese lederne Scheide entwickelt, durch die man, indem man sie über die Schultern hing, das Schwert problemlos auf dem Rücken tragen konnte. Ein normales Metallschwert dieser Länge – die Icerotes waren um einiges kürzer als normale Schwerter, etwa einen Meter lang – hätte sich nicht gut am Rücken getan. Doch die Icerotes waren mächtige Wesen und ihren magischen Eigenschaften war es zu verdanken, dass sie sich an die Rückenform anpassten. Wissenschaftler der Asgardfamilie hatten schon oft versucht herauszufinden, was es mit den Icerotes auf sich habe. Ihr Geheimnis blieb selbst der Asgardfamilie ein Geheimnis. Bis zum heutigen Tag hatte man noch nichts über die wahre Lebensform und Kraft der Icerotes herausfinden können. Man konnte lediglich spekulieren. Eine der berühmtesten Ideen war die, dass die Icerotes nicht nur in der Form der Schwerter existierten. Sie mussten noch in einer weiteren Gestalt materiell oder imaginär vorhanden sein. Nicht auf der Erde oder sonst wo im Universum. Denn dieser Raum hatte eine viel zu brüchige Form, als dass es die Gegenwart eines so mächtigen Geschöpfes, wie das Icerotes, standhalten könnte. Diese zweite Existenz der Icerotes musste viel kraftvoller, mächtiger sein, als ihre Lebensform als Schwert auf der Erde. Daher konnten wir ein Icerotes auch nicht verstehen. Weil es für unser Verständnis zu magisch war.

      »Und?«, fragte Mina gespannt. Ich nahm Libras und schob ihn in die Scheide. Makellos passte sich das Leder an Libras Form an. Meine Mutter half mir, ihn an meinem Oberkörper zu befestigen.

      »Versuche 'mal Libras herauszuholen«, schlug Mina vor. Ich griff hinter meinen Kopf und fand auf Anhieb den Griff meines Icerotes. Lautlos ließ er sich herausziehen. Ich war verunsichert, ob ich ihn genauso leicht wieder in die Scheide verschwinden lassen könnte. Was wäre, wenn ich verfehlen und meine Haut aufschlitzen würde? Doch meine Befürchtung war grundlos. Als würde sich Libras selbst den Weg suchen, konnte ich ihn problemlos hineingleiten lassen.

      »Super!« bedankte ich mich bei meiner Mutter und umarmte sie. »Habt Ihr Eure auch nach Eurer Auswahl bekommen?«

      »Ich schon. Damals von meinen Großeltern. Doch John hatte sich seine Tasche selbst zulegen müssen. Das war kurz bevor wir uns kennengelernt hatten. Seine Eltern hatten ihm zuvor immer gesagt dieses Zubehör sei unnötig rausgeworfenes Geld.«

      Ich kannte meine Großeltern eigentlich ganz anders. Geld spielte für sie keine Rolle. Vielleicht lag es nur an ihrem Alter oder ihren beiden gut verdienenden Söhnen.

      »Wann kommt Dad?«

      »Er sagte, vor dem Mittagessen wolle er wieder Daheim sein. Aber du kennst ihn. Jetzt muss ich anfangen das Essen für heute Abend zu richten, wenn die Finleys kommen.«

      Mina begann einen Einkaufszettel aufzustellen und ich ging zwei Zimmer weiter in die Bibliothek des Hauses. Dunkelbraune Regale, die bis unter die hohe Decke reichten, reihten sich an den Wänden entlang. In der Mitte des Raumes befand sich ein kreisrunder Tisch, bestückt mir zwei Computern und Tischlampen. Bequeme Lesesessel standen um ihn herum und mich packte, wie immer wenn ich diesen Raum betrat, die Begierde, eines der unzähligen Büchern aus den Regalen zu suchen und mich in die Welt der Buchstaben fallen zu lassen. Der Bildschirm, der gegenüber der Tür hing, wurde oft von meinem Vater benutzt. Einerseits, wenn er wichtige Ferngespräche mit Angestellten seiner Firma zu führen hatte und andererseits, wenn die Sportschau von ihm heiß ersehnte Spiele übertrug.

      Ich fuhr einen der Rechner hoch und begann nach dem Begriff Icerotes zu googlen. Wie erwartet, gab es keine hilfreichen Treffer. Eine Fremdwortdefinition, die allerdings nur das Wort Icrators kannte, eine amerikanische Amateurseite, die das Wort Iceris ansprach und ein Auktionshaus, das eine Brille der japanischen Marke Ikerose anbot. Ich gab ein zweites Wort in die Suchleiste ein. Asgardfamilie erzielte schon einige mehr Ergebnisse. Die meisten befassten sich mit der germanischen Mythologie. Über meinen Stamm fand ich nichts hilfreiches. Da gab es lediglich eine Seite, die über die Beschäftigten der Zentralbank von Amerika Auskunft gab. Darin wurde der Direktor mit dem Zweitnamen Asgard und zwei Zeilen darunter als Angehöriger einer altehrwürdigen Familie beschrieben. Ob diese Person tatsächlich ein Mitglied der Asgardfamilie war, konnte ich nicht sagen.

      Ich wollte schon den Computer ausschalten, als mir noch eine dritte Möglichkeit einfiel. Ich tippte griechische Legenden des zweiten Jahrtausends vor Christus ein und wurde auf eine Seite der Universität Wien weitergeleitet.

      Ich begann zu lesen.

       Es ranken sich viele Mythen und Legenden um die sogenannte Alphafamilie. Fachliches Wissen konnte bis jetzt noch nicht feststellen, ob es diese Organisation wirklich gibt, oder die sagenumwobene Legende um sie nur eine Geschichte des frühen ersten Jahrhunderts vor Christus ist. Es gibt zwar keine Aufzeichnungen oder materiellen Hinweise über die Existenz der Alphafamilie, doch mündliche Überlieferungen faszinieren bis heute die Geschichtswissenschaftler und Philosophen. Demnach soll es im antiken Griechenland ein Geheimbund gegeben haben, dessen Aktivitäten oder Vorhaben allerdings schon zur damaligen Zeit umstritten waren. Im Laufe der Jahrzehnte hatte sich dieser Verband – man nannte sie „Alphafamilie“ – über ganz Europa verteilt. Eintausend Jahre vor Christi Geburt soll es ein Zwischenfall in der Alphafamilie gegeben haben. Anhänger stritten sich untereinander und bald spalteten sie sich in fünf Stämme auf. Es heißt, man habe sich auf ein Abkommen geeinigt, wonach jedem Stamm einer der fünf Kontinente unserer Erde zustehen sollte. Den anderen Stämmen war es von nun an verboten, das Landgebiet der Feinde zu betreten. Es soll ein Verstoß des amerikanischen Stammes gewesen sein, der schließlich einen Krieg, unvorstellbarer und gewaltiger als alles, was die Menschheit jemals zuvor erlebt hatte, auslöste. Denn den Mitgliedern der Alphafamilie wurden magische Fähigkeiten zugeschrieben. Zu dieser Zeit der Furcht und des Schreckens schlossen sich drei Stämme zusammen. Europa, Australien und Afrika bildeten zusammen einen starken Gegner für die Amerikaner, die widerwillig einen Pakt mit Asien geschlossen hatten. Ein zu starker Gegner waren sie und konnten somit das Ende des Krieges herbei zwingen. Sie mussten Verträge mit Amerika aushandeln, bis endlich Frieden gewährleistet war. Von nun an mussten sie in ständiger Angst vor einem Angriff der anderen Stämme leben. Einige Jahrzehnte nach Christi verlieren sich die brüchigen Informationen über diese Alphafamilie. Und heute ist sie nur noch eine umstrittene Legende. Natürlich basiert diese Geschichte auf rein imaginären Quellen und kann nicht wissenschaftlich nachgewiesen werden. Doch die Suche ist damit noch nicht beendet.

      Anschließend folgte noch eine Liste wichtiger Geschichtsprofessoren, die sich mit den Quellen dieser Erzählung befasst hatten. Doch ich schloss das Fenster und schaltete den Rechner aus.

      Auf der obersten Ebene eines Bücherregals fand ich ein Buch mit dem Titel Geschichtliche Entwicklung der Asgardfamilie. In diesem Buch, so wusste ich, stand die wahre Historie der Asgardfamilie geschrieben. Und tatsächlich hatte sie die ähnlichen Eckpfeiler, die auch auf der Universitätsseite erwähnt wurden: Ein Streit um die Machtverhältnisse zwischen den ersten Nachfahren hatte die Asgardfamilie in fünf Stämme geteilt. Man hatte sich tatsächlich darauf geeinigt, dass jedem Stamm ein Erdteil zum Beschützen, Pflegen, Beherrschen und Leben zugesprochen worden war. So waren die Stämme Nasos,