Konstantin Müller

JAMES HARRISON


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meine Uhr in den Rucksack ohne so genau darauf zu achten, um was es sich eigentlich handelte.

      »Bist du so weit?« fragte mich John, als er in mein Zimmer schaute. Ich schulterte meinen Rucksack und folgte ihm die Treppe hinunter. Sam musste schon da gewesen sein. Denn Rosy hatte sich startbereit am Hauseingang aufgestellt. Ihre Augen funkelten erwartungsvoll.

      »Mina?« Meine Mutter kam aus der Bibliothek, Simone im Schlepptau. Sie drückte mich fest an sich.

      »Bis bald. Finde diese Pflanze und komm zurück, mein Liebling«, schluchzte sie mir in meine Haare.

      »Es wird alles gut«, beruhigte ich sie, »wir beeilen uns.« Sie ließ mich los und nickte, die Augen fest geschlossen. Dann ermahnte sie John: »Euch wird nichts passieren. Und ich will, dass ihr mich anruft, wenn ihr dort sein. Macht’s gut.«

      Wir stiegen in das Auto – Phillip war gekommen, um uns zum Flughafen zu fahren – und winkten den beiden Frauen zu, die auf der Türschwelle stehen geblieben waren. Ich blickte ihnen nach, bis wir die Einfahrt erreicht hatten und auf die Hauptstraße bogen. Dann verschwand das traurige Gesicht meiner Mutter hinter den dichten Bäumen.

      ***

      Die Lichter des Flughafens kennzeichneten schon von Weitem unser Ziel. Flackernde Lichter am nächtlichen Himmel näherten sich ihm rasch und wurden auch schon wieder von neuen ersetzt, die in der Ferne verschwanden. Phillip fuhr uns bis vor den Haupteingang des Terminals C, verabschiedete sich förmlich von meinem Vater und gab Rosy und mir einen ermutigenden Klaps auf die Schulter.

      Während das ratternde Geräusch unseres Wagens hinter uns immer leiser wurde, betrachtete ich das hohe Eingangsportal.

      »Nun gut, ihr beiden. Wir haben jetzt…«, John schaute auf seine Uhr, »zweiundzwanzig-uhr-vierzig. Unser Flug geht um Einuhrzehn. Zwanzig Minuten vor Abflug müssen wir am Gate 19 sein. Kommt, lasst uns die Sachen abgeben.« Schweren Herzens schaute ich noch einmal über meine Schultern. Wir mussten die Kolibripflanze finden. Wir mussten…

      Der Gepäckschalter war völlig leer - abgesehen von einer Frau mittleren Alters. Sie hatte ihre Brille auf die Nasenspitze gesetzt und inspizierte ihre rot lackierten Fingernägel. Erst als wir unmittelbar vor ihr standen schaute sie auf. Eine dicke Schicht Make-Up ließ ihr Gesicht schwerfällig und ausdruckslos erscheinen.

      »Familie Harrison?«, fragte sie. Sie hatte eine süßliche Stimme, die so gar nicht zu ihrer strengen Figur passte. John nickte und legte die Gepäckstücke nacheinander auf das Rollband. Die Frau lehnte sich über den Bildschirm ihres Computers: »Drei Erwachsene, Flug nach Adelaide, GT7704 um Einuhrzehn?«, las sie ab und schaute meinen Vater fragend an.

      »Ja, stimmt so«, bekräftigte er, sie ließ das Band rollen und unser Gepäck rutschte in die unbekannten Tiefen der Gepäckbänder des Airports Zürich.

      ***

      Ich beobachtete die Anzeigetafeln, während unsere Flugnummer immer weiter nach oben rutschte. Rosy hatte ein Buch aus ihrer Tasche geholt und saß nun, die Beine auf einen Hocker gelegt, auf einem der Warteplätze an Gate 19, tief in der Lektüre versunken. Mein Vater unterdessen sprach in sein Handy, vermutlich mit Lesar. Um diese Uhrzeit starteten nur wenige Linienflüge und darum hatte es am Sicherheitsschalter kein Gedränge gegeben. Gate 19 war das hinterste in dem langen Flur, der auf den Sicherheitsschalter folgte. Die kleinen zollfreien Läden um uns herum hatten alle geschlossen und nur die schwachen Lichter an der Decke spendeten uns Helligkeit. Eigentlich, so dachte ich, freute ich mich auf Australien. Die spektakulären Naturerlebnisse, die bis ins Unendliche reichenden Outbackterretorien, die australische Kultur. Das alles hatte mich schon seit jeher begeistert. Dennoch ging es bei unserer Reise um die Gesundheit meines besten Freundes und ein gewisser Hintergedanke ließ mich immer zusammenzucken. Was würde passieren, wenn wir zu spät zurückkommen würden?

      Nun war es null-uhr-fünfzig. Unsere Flugbegleiter und Flugbegleiterinnen müssten jeden Moment eintreffen. Und tatsächlich dauerte es nicht mehr lange, bis sie auftauchten. Die erste hatte lange, dunkle Locken und ein freundliches Gesicht. Ein kleines Schildchen sagte uns, dass sie Doris K. hieß. Hinter ihr trat ein hochgewachsener, muskulöser Mann ins Licht, um die fünfundzwanzig Jahre alt. Nick schüttelte uns reihum die Hände. Isabelle, die letzte Flugbegleiterin, entpuppte sich als ein kleines, pummeliges Fräulein. Dennoch hatte sie streng aussehende Augenbrauen und ihre Stachelhaare glänzten im künstlichen Licht. Sie trugen alle dunkelblaue, samtene Jacketts, der Mann eine lilafarbene Krawatte und die Frauen lilafarbene Halstücher.

      »Willkommen Mr. Harrison«, sagte Doris. Rosy und mir schenkte sie ein Lächeln. Als sie uns allerdings bat, ihr die Tickets zu geben, zog John einen Brief aus seiner Tasche und meinte: »Das genügt.« Sie faltete das Blatt auseinander und begann zu lesen.

      »Das scheint in diesem Falle in Ordnung zu sein«, sagte sie in einem geschäftsmäßigen Ton. Sie gab meinem Vater den Brief zurück und geleitete uns durch eine Glastür. Es ging durch einen dunklen schmalen Gang, dann eine Treppe hinunter und plötzlich fanden wir uns auf dem Rollfeld des Flughafens wieder. Das Dröhnen von Turbinen und das Heulen von Sirenen überraschte mich. Wir wurden zu einem Shuttlebus geführt, der uns einige hundert Meter weit durch die Dunkelheit kutschierte.

      »Der Learjet, wie von Ihnen reserviert, Mr. Harrison«, rief Doris uns über den Lärm hinweg zu und deutete auf eine kleine Maschine, orange und weiß lackiert, die uns mit laufenden Turbinen erwartete.

      Über eine leiterartige Treppe gelangten wir in das Innenleben des Jets. Doris präsentierte den Passagierraum. Wir wurden kurz von den zwei Piloten begrüßt, die sich daran machten, den Jet aus der Parkstelle zu geleiten. Ich wartete stumm während wir von der Startbahn abhoben und der Blechvogel den Sternen entgegen raste. Ein Achtzehnstundenflug erwartete uns nun. Die Gesetzte der Asgardfamilie, so gut sie unsere Sicherheit gewährleisteten, schränkten uns zugleich in unserer Bewegungsfreiheit ein. So hatte ich meinen Fuß noch nie auf einen anderen Kontinent als Europa setzten können. Daher war ich noch nie so lange den Fähigkeiten der Piloten ausgesetzt gewesen.

      ***

      »Ich hoffe nur, wir finden diese Kolibripflanze schnell. Je früher Steve das Gegenmittel erhält, umso besser.« Wir hatten schon den Großteil der Flugstrecke hinter uns gebracht. Kaum nachdem wir die Startphase überwunden hatten, war ich erschöpft eingeschlafen und als ich aufwachte, war es erneut dunkel Draußen. Der Zeitumrechnung nach, war es über einen Tag her, seitdem wir los geflogen waren. Nach der digitalen Karte, die unsere aktuelle Fluglage anzeigte, waren wir schon über dem australischen Kontinent. Rosy hatte sich erneut hinter ihrem Roman versteckt und ich hatte mit John ein Gespräch begonnen.

      »Glaubst du, dieses Gift der Wölfe ist tödlich?«

      »Nun ja, wie gesagt: Es ist zwar nicht tödlich, doch selbst wenn Steves Körper auf Sparflamme arbeitet, wird irgendwann seine Energie aufgebraucht sein. Aber wir denken optimistisch. Mit dem Öl der Pflanze werden wir Steve heilen und danach müssen wir schauen, wie wir es den Fosit heimzahlen können. Nun gut. Schau, da kommt das Essen.« Ich drehte mich um. Da John gegenüber von mir saß, hatte ich Nick nicht bemerkt. Er schob einen Karren, der mit einem weißen Tuch bedeckt war und auf dem drei Porzellanteller standen, den schmalen Gang zwischen den Sesseln entlang. Er stellte uns kurz den nächtlichen Imbiss vor und platzierte die Teller zwischen mir und meinem Vater. Bevor er sich zu Rosy drehen konnte, gab es plötzlich einen heftigen Ruck und die Maschine geriet ins Schwanken. Ein Schrei ertönte und eine verängstigte Stimme hallte aus dem Cockpit.

      »Stefan, was machst du... was hast du mit der...«, ein Schuss ließ ihn verstummen. Im selben Moment erloschen in unserer Kabine sämtliche Lichter und Anzeigen. Dennoch, es war nicht vollkommen dunkel. Ein goldenes Flackern am rechten Flügel verriet uns, dass eine der Turbinen Feuer gefangen hatte. Eine Welle der Angst packte mich. John sprang auf und schaute hektisch um sich.

      »Bleibt, wo ihr seid!« rief er mir und Rosy zu, während er Richtung Cockpit eilte. Ein weiterer Stoß riss mich vornüber und ich knallte mit dem Kopf auf die Tischplatte. Ein unangenehmes Knacksen war zu hören und schon war das Tischtuch vor mir mit scharlachrotem Blut getränkt. Ich stöhnte auf und ein stechender Schmerz ließ mich zusammenzucken.