Konstantin Müller

JAMES HARRISON


Скачать книгу

Steves Hals.

      Ich fand meine Stimme wieder und fragte zittrig: »Ist er ohnmächtig?«

      »Das müssen wir hoffen. Tot ist er auf jeden Fall nicht. Sein Puls schlägt. Aber schlafen kann er auch nicht. Dafür ist sein Atem zu unregelmäßig. Doch diese These spricht gegen einen Ohnmachtsanfall. Ich schlage vor, wir bringen ihn hoch in dein Bett, James.«

      Kurz darauf lag Steve auf meinem Bett, ein nasses Tuch auf der Stirn, die Wunden gereinigt und verarztet.

      Mina, John und Simone standen um meinen Freund herum, Alfred hatte sich in eine Ecke verzogen und telefonierte hektisch mit dem Vater von Rosy. Sam war ein angesehener Chirurg und Arzt.

      »Nein, ist schon gut. Wir werden es versuchen. Bis später.«

      Alfred schloss das Gespräch ab und drehte sich zu uns um. Sein Gesicht war blass und Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn.

      »Sam hat soeben einen Notfall in Zürich. Er wird erst in einer Stunde bei uns sein können. Bis dahin sollen wir Steve warm halten, seinen Puls messen und ihm eine Beruhigungstablette verabreichen. Nur im äußersten Notfall sollten wir einen Arzt aus Reming holen. Erst wenn sein Puls auf über hundertfünfzig steigt. Sam vermutet, dass Steve Zuckungen oder derartiges erleiden wird. Die Tablette wird seinen überhitzten Stoffwechsel beruhigen. Mehr will er ihm vorerst nicht geben. Er muss sich ihn zuvor anschauen. Also…«

      Wortlos nahmen wir unsere Aufgaben entgegen. Mina wollte aus der Küche die Tablette holen. Alfred nahm sich den Puls seines Sohnes vor. Und John und ich wickelten ihn in zwei Decken ein, bis schließlich Steve in einem wollenen Kokou eingeschlossen war.

      In einer Stunde erst. Erst dann konnte Steve von einem geschulten Auge untersucht werden. Der Besuch bei einem Arzt, der kein Asgardler war, war ausgeschlossen. Misstrauische Fragen. Was, wenn Steve etwas zugestoßen war, das mit der Asgardfamilie in Verbindung stand? Wir konnten nichts mehr für ihn tun. Nur noch warten und hoffen, dass Sam nicht aufgehalten wurde. Steves Brustkorb bewegte sich nun gleichmäßiger und das röchelnde Atmen hatte nachgelassen.

      Die Erwachsenen gingen in die Küche. Doch ich bliebt bei meinem Freund. Ziellos ging ich in meinem schwach beleuchteten Zimmer auf und ab. Da waren zu viele Sachen in meinem überhitzen Kopf, worüber ich nachdenken musste.

      Was war seit gestern alles passiert? Einmal die Auswahl, womit ich nun vollwertiges Mitglied in der Asgardfamilie war. Dann Libras und seine mysteriösen Zeichen. Mein Leben stand auf seiner blanken Klinge. Meine Zukunft spiegelte sich darin und ich wusste nicht, was sie hieß. Ich hatte einen Brief vom international gewählten Rat der vereinigten Asgardfamilie bekommen. Und Steve lag in Lebensgefahr vor mir? Mein Leben verändert sich, dass wusste ich. Wie und warum wusste ich nicht.

      Ab und zu schaute einer der Erwachsenen vorbei, erkundigte sich nach Steves Wohlbefinden. Dann sagte ich immer: »Ihm geht’s gut«, oder: »Er wird schon wieder gesund.« Doch ich wusste, dass es reine Hoffnung war. Es gab keine Hinweise auf eine wirkliche Genesung. Wir mussten einfach auf Sams Beurteilung warten.

      Draußen war es stockdunkel, als endlich an der Haustür geklingelt wurde. Von unten drangen hektische Stimmen herauf, deren Besitzer polternd die Treppen hinauf kamen. Sams schmales Gesicht erschien vor der Tür. Er hatte zwei weiße Koffer in der Hand und schenkte mir ein kurzes Hallo. Dann kniete er sich vor dem Patienten nieder und nahm eine Taschenlampe aus einem der Koffer. Damit leuchtete er in Steves Augen. Wir halfen ihm, meinen Freund aus den Deckenschichten zu befreien und Sam horchte seinen Rücken und seine Brust ab. Er fuhr mit den Fingern an Steves Nacken entlang, drückte ihm mehrmals in die Seite und bewegte sein Kinn.

      »Ich glaube, er braucht Nitroxynol«, faselte er und kramte in dem zweiten Koffer nach einer kleinen grünen Schachtel. Ihr entnahm er drei Kapseln, die er Steve in den trockenen Mund schob. Dann richtete er sich auf.

      Inzwischen hatten sich die anderen hinter mir versammelt.

      »So, das ist alles, was ich für ihn tun kann.«

      »Aber was hat er?« fragte Simone, die Hände vor den Mund gehalten. Sam setzte eine unergründliche Miene auf.

      »Ich kann es leider wirklich nicht sagen«, gab er zu. »Meine Vermutung ist, dass er vergiftet wurde. Durch wen oder was ist mir unklar. Ich hätte die Möglichkeit, ihm Blut abzunehmen und es im Labor untersuchen zu lassen. Doch auf ein Ergebnis kann man mehrere Tage warten. Ich habe ihm ein Mittel gegeben, das die meisten Gifte und Bakterien dieser Art abschwächt. Doch bevor wir nicht genau wissen, was ihm passiert ist, kann ich ihm nichts anderes verabreichen. Dabei würde ich zu viel aufs Spiel setzten. Da gibt es aber noch etwas anderes…« Er drehte Steve auf den Bauch und zog sein Shirt zurück. Ich erstarrte.

      Eine blaue Fleischwunde war in seine rechte Seite eingeschlitzt. Die Haut um die Wunde war tiefrot unterlaufen und blutverschmiert.

      »Das scheint von einer Kralle eines großen Tieres zu kommen.« Sam fuhr die parallel verlaufenden Schlitze in Steves Fleisch nach. »Sie ist gereinigt. Bevor ich sie verbinde, hätte ich aber gerne gewusst, von welchem Tier die eurer Meinung nach kommen könnte.«

      »Sieht aus, wie von einem Bär oder einer Raubkatze. Doch beides kommt hier nicht vor«, überlegte Alfred und in seiner Stimme lag derselbe Ekel, den ich empfand. Wer oder was konnte Steve das nur antun? Vergiftet, mit einer gefährlichen Wunde versehen.

      »Wo war er denn, bevor er gekommen ist?«, erkundigte sich Sam und begann die Wunde zu desinfizieren und seinen Oberkörper mit einer weißen Binde zu umwickeln.

      »Er wollte am Siegelhorn entlang. Und zuvor war er noch kurz bei William«, erinnerte sich Simone.

      »Der Angriff kann nicht zu weit entfernt gewesen sein. Ich glaube nicht, dass Steve mit der Wunde weit gekommen wäre«, folgerte Sam. Doch ich dachte an etwas anderes.

      William… Das erinnerte mich an etwas. Was hatte William mir vor einiger Zeit erzählt? Ein Raubtier. Ein Raubtier der Fosit. Sie hatten eine fast gänzlich ausgestorbene Wolfsart nachgezüchtete. Ja, ein Wolf.

      »Der Kobrus!«, sagte ich unvermittelt. Die anderen starrten mich an. »Steve wurde von den Fosit angegriffen! Sie haben den Kobruswolf auf ihn angestezte.«

      »Die Fosit? James, weißt du, von was du redest? Wie sollten sie… warum denn…?« John zog verwirrt die Augenbrauen hoch. Ich versuchte ihnen meine Vermutung zu erklären.

      »Sozusagen ein Kriegswolf der Amerikaner? Dem sie den Auftrag geben, andere zu vergiften oder zu töten? Warum sollten sie ausgerechnet Steve attackieren lassen?«

      »Das ist die Frage. Doch zuerst sollten wir herausfinden, was für ein Gift die Kobruswölfe besitzen und woher man das Gegengift bekommt«, antwortete ich auf Alfreds Frage.

      »Ich kann morgen im Krankenarchiv des Ärzteverbandes nachschlagen«, sagte Sam. »Ich bezweifle allerdings, dass dort etwas über das Gift eines Wolfs der Asgardfamilie steht«.

      Dann ergriff John das Wort: »Lesar hat ein umfangreiches Wissen über die Tier- und Pflanzenwelt. Ich rufe ihn gleich an. Vielleicht kann er uns weiterhelfen.«

      John eilte aus dem Zimmer. Leser war der Anführer des Nasosstammes und ein guter Freund meiner Eltern. Ich sah ein, dass es nutzlos war, hier weiter herumzustehen und zog mich zurück. Im Gang vor dem Krankenlager nahm ich mein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer von Rosy. Es tütete und piepste. Dann hörte ich die Stimme von Rosy Seem.

      »Ja, James was ist denn? Ich bin gerade beim Abendessen.«

      »Hi Rosy, ich habe dir einiges zu sagen. Wir müssen uns sofort treffen.«

      »Weißt du, wie spät es ist? Zudem sagte ich ja schon, ich bin beim Abendessen.«

      »Dein Vater ist hier, bei uns. Es geht um Steve, er ist verletzt. Bitte, es ist sehr wichtig... Es geht um Steves Leben!« Ich brach den Anruf ab. Rosy würde kommen, ganz bestimmt.

      Mit einem »Bin gleich wieder da«, schnappte ich mir meine Jacke und stürmte an Mina und Simone vorbei. Aus der Bibliothek konnte ich die Stimme meines Vaters hören.

      Schnell