Konstantin Müller

JAMES HARRISON


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schenkte ich Libras meine Aufmerksamkeit und inspizierte die geschwungene Gravur. Horan kam mit einem befüllten Tablett zurück und stellte es auf den Tisch, um den sich die anderen gesellt hatten.

      »Mr. Horan,… äh… schauen Sie einmal hier. Ich glaube, diese Zeichen auf Libras gibt es gar nicht in dem Buch«, sagte ich langsam und fuhr mit den Fingern die Symbole auf meinem Schwert nach.

      »Wie bitte, mein Lieber?«, sagte Horan und trat zu mir.

      »Ja, schauen Sie. Die Zeichen auf meinem Icerotes sind in einer ganz anderen Schriftart geschrieben.« Er beugte sich interessiert über meine Schulter.

      »Nein, das kann nicht sein«, murmelte er. »Das kann nicht wahr sein. So etwas war noch nie zuvor…«

      Aber doch, ich hatte die Zeichen genau begutachtet. Die Runen sahen kantig und unübersichtlich aus, aufgebaut aus diversen Strichen. Doch die auf meinem Schwert waren alle geschwungen, eines Ansatzes geschrieben und nicht zu vergleichen mit denen des Buches.

      »Nun, ich habe keine Erklärung dafür. Eigentlich sind alle Runen, die Schriftzeichen der alten Sprache, in diesem Buch vermerkt.«

      »Gibt es ein Problem?« Mein Vater war aufgestanden, um sich die Sache genauer anzuschauen und stand nun zu meiner Rechten.

      »Schau.« Er nahm sein eigenes Icerotes und hielt es ans Licht, um die Inschrift entziffern zu können. Es trug dieselbe Art Runen wie sie im Buch abgebildet waren.

      »Wie ein Baum ohne Wurzeln, so ist ein Mensch ohne Familie«, übersetzte er. »Und deshalb bin ich dein Vater, James. Es war meine Bestimmung.« Er schaute mich strahlend an. Es war das erste Mal, dass ich diesen Satz hörte.

      »Und was wäre passiert, wenn du keine Familie gründen gewollt hättest?«, fragte ich vorsichtig.

      »Wollen ist das eine, schicksalsgegebenes Ersehnen das andere. Dein Icerotes zwingt dir keine Zukunft auf. Es wird dir genau die Zeichen geben, die du brauchst, um die für dich richtigen Entscheidungen zu treffen. Nicht mehr und nicht weniger.«

      »Wenn ich meine Inschrift aber nicht übersetzen kann…«

      »Nun ja, ich habe es zwar noch nie erlebt, doch sind mir Fälle aus früheren Zeiten bekannt, bei denen in Ausnahmesituationen die Inschriften erst im Laufe der Zeit entschlüsselt werden konnten. Es tut mir leid James, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Warten Sie ab. Die Zeit wird alles richten«, sagte Horan und nahm das Runenbuch an sich.

      Fragend schaute ich meinen Vater an, doch der zuckte mit den Achseln und legte ein zusammengerolltes Blatt Papier auf die Theke. Horan setzte sich eine Brille auf seine lange Nase und inspizierte das Papier. Dann nickte er, gab meinem Vater seine Hand und geleitete uns aus seiner Hütte.

      »Die Zeit wird alles richten«, rief er uns hinterher. Der Blick seines eingefallenen Gesichts hinter der verdreckten Glasscheibe verfolgte uns den steinernen Weg entlang, bis wir die Waldgrenze erreicht hatten und zwischen dem Gestrüpp verschwanden. Das Laub knirschte unter unseren Füßen und als wir an einem dicken Busch vorbeieilten, hetzten wir einen Schwarm kleiner Vögel auf.

      ***

      Das Erste, das mir auffiel, als wir vor unserem Haus hielten, war der überfüllte Briefkasten. Er stand an der Ecke eines lang gezogenen Blumenbeets, worin Mina über den Sommer bunte Pflanzen hegte und pflegte. Nun, kurz vor Wintereinbruch waren die Blumenzwiebeln mit tiefrotem Laub bedeckt.

      Die Briefe waren an mich adressiert. Da gab es einen von Rosy Seem, Steve Finley und William. Zusammen mit diesen Dreien bildete ich einen unschlagbaren Freundeskreis. Auch Tante Lisa, die Frau des Bruders meines Vaters, hatte an mich gedacht. Und es gab noch einen Brief aus schwerem cremefarbenem Papier. Mit schwarzer Tinte war darauf geschrieben: An das neue Mitglied James Harrison, Fluglerstraße 10, Reming. Der Brief kam aus Athen und wurde von einer gewissen RDA geschickt. Ich hatte schon eine Vermutung wer den Brief geschrieben hatte.

      In der Küche legte ich Libras auf den Esstisch und öffnete gespannt den ersten Brief. Wie die Anschrift war der Inhalt handgeschrieben.

      »Ist der von…«, wollte John wissen und ich nickte erwartungsvoll.

       Sehr geehrter James Harrison,

       an diesem Tag erwartet Sie Ihre Auswahl. Mit dem Vollenden der Auswahl werden Sie in die International Vereinigte Asgardfamilie aufgenommen. Mit dem Erhalt Ihres Icerotes haben Sie folgende Aufgaben und Pflichten: Sie müssen Ihrem Stamm (Murex) in jeder Situation die Treue halten. Ihnen wird untersagt, den Amerikanischen Boden ohne spezielle Erlaubnis zu betreten. Jeder Kontakt mit einem Fosit oder Clatura ist Ihnen strengstens verboten. Bewahren Sie das Geheimnis um die Asgardfamilie und führen Sie Ihr Icerotes keinesfalls einer unautorisierten Person vor. Beteiligen Sie sich an der Aufrechterhaltung des bestehenden Friedens. Bei Fragen oder Problemen richten Sie sich bitte an Ihren Stammesleiter.

       Einen erfreulichen Tag Ihnen und Ihrer Familie.

       Hochachtungsvoll,

       der international ernannte Rat der vereinigten Asgardfamilie

      »Förmlichkeit muss eingehalten werden«, murmelte John, der über meiner Schulter den Brief mitgelesen hatte. »Ich habe Harry schon oft genug gesagt, dass es unsinnig sei, seinem Neffen einen derart formellen Brief zu schreiben. Doch er meinte, es solle offiziell und traditionell bleiben.«

      Harry war das Stammesoberhaupt der Murex und der jüngere Bruder meines Vaters.

      »Kommt der wirklich aus Athen?« fragte ich.

      »Ich glaube schon, schließlich ist dort die Zentrale und der Sitz des Rates«, überlegte mein Vater. Er schmunzelte. »So James, du hast es gelesen. Nun bist Du Teil der Asgardfamilie.«

      Die Asgardfamilie. Der winzige Teil der Menschheit, die sich vor gut dreitausend Jahren von den übrigen Menschen isoliert hatte, um das Geheimnis der Icerotes zu bewahren und den Nachkommen zu überliefern. Der Geschichte der Asgardfamilie nach waren es sieben Personen gewesen, die das Geheimnis der Icerotes entdeckt hatten. Vielmehr waren sie dazu bestimmt worden, die Icerotes zu kennen und sie, wie ich jetzt, zu besitzen. Es soll eine übernatürliche Kraft gewesen sein, die diese sieben zu den ersten Mitgliedern der Asgardfamilie gemacht hatte. Aus ihnen entstammten meine Ahnen, die mit dem Wissen über Icerotes gelebt hatten. Aus ihnen wurde schließlich ein kleiner Stamm. Mit der Auswahl war ich Teil dieser Asgardfamilie. Der Rat - das waren die Ältesten und Stammesführer der Asgardtfamilie - kümmerte sich um alle politischen und sozialen Angelegenheiten. So war auch Harry als Stammesoberhaupt ein Angehöriger dieses Rats.

      Der persönliche Brief von Lisa und Harry war eine Glückwunschkarte, die ich auf das Bücherregal stellte. Den Brief meiner Freunde wollte ich mir für später aufheben.

      Während des Abendessens unterbrach uns Johns Telefon. Es war sein Geschäftspartner, der ihn auf der Stelle in das Büro beorderte. Dad verzog bei diesen Worten das Gesicht, stand jedoch auf und wünschte uns eine gute Nacht. Dann verschwand er. Mina und ich setzten uns daraufhin in das Wohnzimmer vor den knisternden Kamin.

      »War es schön?«, flüsterte sie und blickte von ihrem Buch auf. Lange sagte ich nichts und starrte in die lodernden Flammen, doch dann lächelte ich zufrieden. Wir hörten dem knackenden Holz im Ofen zu und lauschten dem Wind, der gegen die Hauswand hämmerte.

      Bevor ich zu Bett ging, schaute ich mir den Brief meiner Freunde an.

       Hi James,

       wir wünschen dir alles, alles Gute für deine Auswahl und hoffen, du hast einen wunderschönen Tag. Wir sind schon gespannt darauf, dein Icerotes kennenzulernen. Bis bald,

       Rosy, William und Steve

      Ich legte mich in mein Bett und blickte an die Decke. Einschlafen konnte ich trotz meines Glücksgefühls nicht. Mich beschäftigte zu sehr, was an diesem Tag alles geschehen war. Die unheimliche Insel, der merkwürdige Horan, die Auswahl, Libras, die unbekannten Zeichen. Was der Satz wohl hieß? Ich hatte gedacht,